Als Deutscher im Nahost-Konflikt Von Georg Auernheimer NRhZ

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Press conference: Merkel and Netanyau Feb 25, 2014 (photo: Marc Israel Sellem/Jerusalem Post )

Aktueller Online-Flyer vom 30. Mai 2021  

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Kommentar
Gedanken anlässlich der jüngsten Angriffe auf Gaza


Als Deutscher im Nahost-Konflikt

Von Georg Auernheimer
Am 17. Mai 2021 schrieb Dr. Abed Shokry in einem Brief aus Gaza: „Ich verstehe, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte mit großer Schuld fertig werden muss. Aber wenn Israel das Völkerrecht… die Menschenrechte… ständig mit Füßen betritt, dann kann doch Deutschland trotz aller Schuld nicht schweigen“ (1). Er fragt zu Recht: „Es kann doch nicht einfach zusehen, wenn Israel mit der eigenen schrecklichen historischen Erfahrung seine Wut darüber an uns skrupellos auslässt.“ Und genau diese Frage stelle ich mir als Deutscher.

Wer sich als Deutscher der ungeheuren, einmaligen Schuld gegenüber allen Menschen jüdischer Herkunft bewusst ist, die unsere Eltern und Großeltern mit dem Holocaust auf sich geladen haben, der kann sehr unterschiedlich damit umgehen: Entweder wird er ungeachtet der Lage der Palästinenser immer und überall Israel verteidigen, wie es der bundesdeutschen Staatsräson entspricht, was zur Konsequenz hat, dass er selbst gewaltlosen Widerstand gegen das Besatzungsregime wie Boykottaufrufe verurteilen muss. Er kann aber auch in der Erkenntnis, dass die Palästinenser heute für das Verbrechen büßen müssen, das seine Vorfahren begangen haben, Verantwortung für das Schicksal der Palästinenser fühlen und sich mit ihnen solidarisch erklären. Er wird dann eine kritische Haltung gegenüber der israelischen Politik einnehmen müssen. Wenn ich von den Palästinensern spreche, so ist das eine vorläufige, nicht unproblematische Verallgemeinerung, so fragwürdig wie alle ethnischen Plurale. Auch die Juden oder die Israelis sind eine Fiktion.

Schwere moralische Hypothek begründet deutsche Staatsräson

Die Befangenheit in der historischen Verschuldung, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, ist für mich ein wichtiger Aspekt in dem Dilemma des Nahost-Konflikts, wenn auch sicher nicht monokausal zu verstehen. Die drückende Schuld gegenüber den Juden verleitet zu grenzenloser Nachsicht gegenüber Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte durch Israel. Das wirkt sich lähmend auf die Politik gegenüber Israel aus und macht neben geopolitischen Interessen den Konflikt mit den Palästinensern beinahe unlösbar. Das israelische Ministerium für strategische Angelegenheiten weiß das schlechte Gewissen in Deutschland und Europa für Israels Politik zu nutzen.

In diesem Kontext, nicht um Deutschland zu entlasten, muss man an Folgendes erinnern: Das NS-Regime hat bei seinem Vernichtungsfeldzug in allen damals besetzten Ländern mehr oder weniger viele Helfershelfer in der Bevölkerung und in der Verwaltung gefunden. In den osteuropäischen Ländern mit ihrem überkommenen Antisemitismus fanden sich viele Freiwillige beim Aufspüren von Juden, bei Massakern und für die Mitarbeit in den Konzentrationslagern. Die ungarische Horty-Regierung verweigerte zwar die Deportation, war aber nach der Besetzung durch die Wehrmacht bei der Deportation von 400.000 Juden behilflich. Vorher schon waren dort ab 1941 Tausende den Deutschen ausgeliefert oder ermordet worden. Auch in Frankreich und Belgien wurden Juden polizeilich erfasst und deportiert. Das faschistische Italien betrachtete nach einigem Zögern die Judenverfolgung als Bündnisverpflichtung gegenüber dem NS-Regime.

Ich weiß nicht, ob man von einem Schuldbewusstsein in der europäischen Öffentlichkeit und Politik sprechen kann, von einem Schuldeingeständnis vielleicht nur in Deutschland. Aber die nicht zu verleugnende moralische Hypothek versucht man abzuwälzen durch die unverbrüchliche Allianz mit Israel. Bei dem kolonialen Konflikt mit den vertriebenen Palästinensern, der immer wieder vom latenten zum manifesten Konflikt wird, wird die Nakba permanent ausgeblendet. Auch die Rechtsbrüche und Versäumnisse der israelischen Regierungen, zum Beispiel bei der Einlösung der Osloer Verträge bleiben unbeachtet. Die damals den Palästinensern zugestandene autonome Verwaltung ist eine Farce, die jüdische Besiedlung des Westjordanlandes ein Bruch der Vereinbarungen und des Völkerrechts. Da dies von der deutschen Regierung unter den Teppich gekehrt wird, erscheint der immer wieder aufflackernde Widerstand der Palästinenser als unverschuldete Bedrohung Israels. Die jüngsten Proteste gegen die Polizeiwillkür am Ende des Ramadan in Jerusalem und gegen die Beschießung von Gaza wurden hierzulande als antisemitisch gebrandmarkt. Mit Freud, der den psychischen Mechanismus der Projektion entdeckt hat, könnte man das Verhältnis der europäischen, auf jeden Fall der deutschen Öffentlichkeit zum sog. Nahost-Konflikt als Projektion deuten. Das eigene Böse, der frühere Vernichtungswille gegenüber den Juden, wird auf die Palästinenser projiziert.

Es bleibt noch zu ergänzen, dass auch Staaten außerhalb des Machtbereichs von Nazi-Deutschland in dieser Geschichte historisch belastet sind. Die Schweiz hat damals die Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen. Schweizer Banken haben für das Deutsche Reich die Geldwäsche für das den ermordeten Juden geraubte Gold übernommen. Die USA haben 1943/44 trotz des Wissens um den Holocaust nicht ihre Einwanderungsbestimmungen gelockert. Verständlich also, dass sich die ganze westliche „Wertegemeinschaft“ Israel verpflichtet fühlt, was israelische Regierungen zu nutzen wussten.

Eine mögliche Erklärung für das Verhalten von Israels Verbündeten mag auch die obsessive Angst vor einer Wiederholung des Verbrechens sein. Das bedingt eine Fixierung auf das Schicksal der Juden und könnte die paranoide Verallgemeinerung des Antisemitismusvorwurfs verständlich machen. Damit werden sogar Zensurmaßnahmen gerechtfertigt. Speziell in Deutschland ist schnell der Vorwurf des Antisemitismus zur Hand, wenn Kritik an Israels Politik aufkommt. Besonders tun sich dabei die Parteien hervor, die nach 1949 noch Jahrzehnte lang hochrangige Nationalsozialisten nicht nur in ihren Reihen duldeten, sondern ihnen hohe staatliche Ämter anvertrauten. Mit Hans Globke machte man 1953 sogar einen Mitverfasser der Rassegesetze zum Chef des Bundeskanzleramtes. Die Schizophrenie ist grotesk. Sie ist von Anfang an nur möglich gewesen durch die ebenso verlogene wie absurde Differenzierung zwischen den Deutschen und den bösen Nazis, die man für die vorherigen Verbrechen, insbesondere die Judenvernichtung, verantwortlich gemacht hat. Zwar würde wohl heute kaum noch jemand dem „Realpolitiker“ Adenauer zustimmen, der vor dem Deal mit der Regierung Ben Gurion behauptete, „das deutsche Volk“ habe diese Verbrechen „in seiner überwiegenden Mehrheit?… verabscheut“ und „sich an ihnen nicht beteiligt“. Aber so vorbildlich wie oft erklärt, ist die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit keineswegs.

Die traumatische Erfahrung der Juden wird politisch instrumentalisiert

Mit dem historischen Rückblick wollte ich auch eines deutlich machen: Die Juden in Europa mussten sich bis zur Befreiung vom NS-Regime von der ganzen Welt verlassen fühlen. Diese traumatische Erfahrung wirkt bis heute nach und erklärt die Wagenburg-Mentalität in Israel. Die Ängste und Sorgen der Israelis und der Juden generell muss man verstehen und anerkennen. Zu den von den Großeltern ererbten Traumata der Aschkenasim kommen die Diskriminierungserfahrungen von Juden aus arabischen Ländern nach 1947/48, als die Teilung des britischen Mandatsgebiets und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung wütende Reaktionen in arabischen Ländern ausgelöst hatten. Es kam zu Anfeindungen gegen Juden und jüdische Gemeinden, die bis dahin über Jahrhunderte eine relative Eigenständigkeit genossen und ungeschoren neben muslimischen und christlichen Arabern gelebt hatten. Das macht den Teufelskreis der historischen Entwicklung seit der Gründung Israels deutlich. Das Verständnis für die Ängste und Sorgen der Israelis sollte einen nicht daran hindern, die politische Instrumentalisierung der Ängste durch Zionisten und israelischen Regierungen zu verbuchen.

Für den Holocaust büßen die Falschen

Die damalige Erfahrung der europäischen Juden, von aller Welt im Stich gelassen zu sein, machen nun seit mehr als sieben Jahrzehnten die Palästinenser, und zwar verrückterweise deshalb, weil die, die ihnen Bürgerrechte und Menschenrechte versagen, und auch das, was das Völkerrecht gebietet, Nachkommen der Opfer von einst sind. Und mit dem Opferstatus können sie weltweit mit Verständnis rechnen. Israelische Regierungen können auf ihrem Territorium, dessen Grenzen sie bis heute nicht definiert haben, und in den besetzten Gebieten ungehindert schalten und walten.

Die Gefühlskälte, die zumindest das Verhalten radikaler Israelis, speziell der Siedler, gegenüber den Palästinensern bestimmt, erinnert an die Empathielosigkeit, wie sie früher Juden erfahren mussten. Ich lese immer wieder, dass israelische Siedler palästinensische Bauern bedrohen, sie von ihren Feldern jagen, ihnen ihre Ölbäume und Felder anzünden, ihnen das Wasser abgraben. Die Atmosphäre des Hasses dokumentieren beispielhaft zwei Vorkommnisse vom März vorigen Jahres: Jugendliche Siedler überfielen zwei Palästinenser, die Speisedisteln sammeln wollten, und malträtierten sie mit Eisenstangen und einem Hammer. Einer wurde schwer verletzt. Am selben Tag schlagen Siedler einen gewissen Naji Tantara mit einer Axt bewusstlos (Schädelbruch).

Die Rechtlosigkeit unter dem Besatzungsregime ermöglicht den Terror der Siedler. Ihnen würde ich gern die Lektüre von Joseph Roth empfehlen. In dem Roman Tarabas schildert er folgende Szene in einer osteuropäischen Kleinstadt. Bauern fallen über Juden her, die gerade aus der Synagoge kommen. „In der ersten Reihe der Bauern schritt ein gewisser Pasternak… Als er in der Höhe des jüdischen Schwarms angelangt war, erhob er die Peitsche… und schlug hierauf, da seine Hand den sicheren Schwung bekommen hatte, mitten in die dunkle Schar der Juden.“ Der Terror der Siedler ist Teil einer gezielten Strategie der Landnahme. Das macht ihn für die Betroffenen doppelt schrecklich. Sie müssen sich völlig ausgeliefert fühlen.

Zahllos sind die Erzählungen von den alltäglichen Schikanen durch Militär und Polizei, nicht nur an den Grenzübergängen. Zwei Vorfälle aus jüngster Zeit beleuchten die Mitleidlosigkeit manch eines israelischen Soldaten im Umgang mit Palästinensern. Ende April schossen Soldaten in der Nähe von Nablus auf einen 16-jährigen und verletzten ihn schwer. Da man die Ankunft des Krankenwagens verzögerte, hatte er keine Überlebenschance. In Hebron verlor ein 14-jähriger Beschäftigter eines Gemüseladens ein Auge durch ein Gummigeschoss. Die Soldaten hatten sich nicht um den Verletzten gekümmert (2). Ein Indiz für die schon vor Jahren beginnende Verrohung in der Armee ist die 2004 von empörten Soldaten gegründete NGO „Breaking the Silence“, ein Zeichen dafür, dass es auch das andere Israel gibt.

Von Anfang an war die Geschichte des heutigen Israel unvermeidlich von Menschenrechtsverletzungen belastet. Ohne die Zerstörung von Dörfern zum Zweck der ethnischen Säuberung – auch Massaker sind bezeugt – ohne den Terror der Irgun hätten sich nicht Hunderttausende von ihrem Land vertreiben lassen. 35 Jahre später zeigten die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila, welch menschenverachtende Haltung sich inzwischen in staatlichen Apparaten durchgesetzt hatte. Die Mörder waren zwar libanesische Milizionäre, aber sie mordeten unter den Augen der Israelis, weil ihnen die Armeeführung freie Hand gelassen hatte. Auch die schonungslosen Angriffe auf den Gazastreifen von 2008/2009, 2012, 2014 und zuletzt von 2021 waren völlig unverhältnismäßige Reaktionen auf die Attacken der Hamas. Sie gerieten zu Vernichtungsfeldzügen. Lebenswichtige Infrastruktureinrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und öffentliche Dienste, Wasserentsalzungsanlagen wurden zerstört, zivile Todesopfer und Invalide in großer Zahl in Kauf genommen. Tausende verloren ihre Unterkunft. Dabei sind die Lebensbedingungen in diesem Freiluftgefängnis, in dem zwei Millionen zusammengepfercht vegetieren, ohnehin unerträglich. 2014 bekannten sich israelische Generäle offen zur Kriegstaktik der verbrannten Erde. Im Mai 2018 wurden gegen die Protestierenden an der Grenze zu Gaza Scharfschützen eingesetzt, die nicht nur 60 davon töteten, sondern viele gezielt zu Krüppeln schossen (SZ v. 16.05.2018).

Inzwischen kommt es auch innerhalb Israels zu offenen Feindseligkeiten und zu Hassreden. „Tod den Arabern“ sollen Mitglieder der rechtsextremen Organisation Lahava im April dieses Jahres bei einem Aufmarsch in der Altstadt von Jerusalem gerufen haben. Inzwischen wird nach Ausschreitungen jugendlicher Palästinenser und den Raketenattacken der Hamas aus mehreren Städten von Lynchmobs berichtet, die arabische Israelis aufs Korn nehmen. Dass es auch von deren Seite zu Gewalttätigkeiten kommt, soll nicht verschwiegen werden. Es geht um das Klima des Hasses, das von der Politik erzeugt worden ist, wozu struktureller Rassismus gehört. Zuletzt hat Human Rights Watch Israel der Apartheid-Politik beschuldigt.

Israels Politik gefährdet die innere Stabilität

Die gewaltsamen Konfrontationen innerhalb Israels finden Israelis wie David Grossman und Moshe Zuckermann neu und beunruhigend. „Hier ist in der Tat eine neue Qualität entstanden. Wenn wir jetzt fast einen inneren Bürgerkrieg zwischen den israelischen Juden und den israelischen Arabern haben, dann ist das etwas Neues“, so Zuckermann am 15. Mai 2021 im Interview (3). Die langfristigen Folgen sind für Julius Jamal noch nicht abzusehen (4). Denn „Der aktuelle Konflikt mit seinem Ausgangspunkt Gaza treibt die arabischen Israelis den Extremisten zu“, so die Befürchtung von David Grossman (SZ v. 14.5.2021). Ob die gemeinsamen Proteste von jüdischen und arabischen Israelis gegen die aggressive Politik von Netanjahu das aufhalten können, ist zweifelhaft. Ich möchte es hoffen. Aber die Friedensbewegung in Israel ist inzwischen marginal, sofern man noch von einer Bewegung sprechen kann.

Hier offenbart sich jetzt die Borniertheit und Kurzsichtigkeit der bundesdeutschen Politik gegenüber Israel. Die Bundesregierung versteht die Verantwortung für Israel (bisher) so, dass jede Kritik tabuisiert wird, ja sogar als Antisemitismus angeprangert und zensiert wird. Diplomatische Offensiven, eventuell unterstützt mit wirtschaftlichem Druck, sind ein absolutes Nogo. Dabei wird nun klar: Wer staatliche Stabilität und Sicherheit für Israel will, darf mit Kritik an israelischen Regierungen nicht sparen. Auch die Unterstützung der BDS-Bewegung bedroht die Existenz des Staates Israel nicht. Im besten Fall stößt sie die Überprüfung der Besatzungspolitik an.

Keine blinde Solidarität! Universalistische Konsequenzen!

Die Solidarität mit den Palästinensern darf nicht blind sein für die internen Differenzen, nicht für die autoritären Strukturen der Autonomiebehörde und für die reaktionäre islamistische Ideologie der Hamas, die eine irrationale Selbstüberschätzung zur Folge hat. Der blinde Fanatismus lässt sich nur mit der verzweifelten Lage in Gaza entschuldigen. Es gilt also die Adressaten oder Partner von Solidaritätsaktionen zu prüfen.

Und der Schwur, den wir Deutschen zu leisten haben, sollte nicht heißen: „Nie wieder darf so etwas Juden widerfahren“, sondern die Lehre kann nur sein „Nie wieder darf so etwas irgendjemandem widerfahren“, so Lili Sommerfeld von der Jüdischen Stimmer für gerechten Frieden in Nahost.

Fußnoten:

1 https://www.nachdenkseiten.de/?p=72495
2 BIP-Aktuell #170
https://bibjetzt.wordpress.com/2021/05/15/bip-aktuell-170-zwischen-jerusalem-und-gaza/
3 https://www.buchkomplizen.de/blog/aktuelles/moshe-zuckermann-israel-braucht-die-hamas-die-hamas-braucht-netanjahu/
abgerufen am 17.05.2021
4 https://diefreiheitsliebe.de/politik/krieg-im-nahen-osten-friedensbewegung-funken-der-hoffnung/
abgerufen am 20.05.2021

Online-Flyer Nr. 770  vom 29.05.2021

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