Avi Shlaim über Israels Neue Historiker, die Hamas und die BDS Bewegung
Original erschienen auf Englisch im Online-Magazin Jadaliyya am 23. Oktober 2017
Deutsch von Rudi Scholten
Jadaliyya (J): Wie würden Sie die Neuen Historiker Israels charakterisieren?
Avi Shlaim (AS): Die „Neue Geschichte“ ist ein Begriff, der von Benny Morris geprägt wurde.
Es ist ein bisschen Selbstbeweihräucherung, weil es impliziert, dass alles, was davor
stattgefunden hat, alte Geschichte ist. Aber wie jedes Etikett ist es auch ganz nützlich, einen
Trend in der israelischen Historiographie zu kennzeichnen. Der Trend, bzw. die Gruppe der
Neuen Historiker bestand aus Benny Morris, Illan Pappé und mir. Jeder von uns
veröffentlichte 1988 Bücher über den 40. Jahrestag der Bildung des Staates Israel und wir
alle drei führten einen Frontalangriff auf die Mythen, die im Zusammenhang mit der
Entstehung Israels und dem ersten israelisch-arabischen Krieg aufgekommen waren. Jetzt
waren wir die Revisionisten oder die neuen israelischen Historiker, weil wir die zionistische
Standardversion des Konfliktes in Frage stellten und gleichzeitig Israel einen viel größeren
Anteil an Verantwortung zumaßen, was die Ursachen, die Eskalation und die
Aufrechterhaltung des Konflikts anging. Eine Sache, die ich zu dem Begriff „Neue
Geschichte“ sagen würde ist, dass er die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkt, dass das
meiste, was vorher passierte, eine nationalistische Sichtweise der Geschichte war. Unsere
war eine mehr wissenschaftliche Version von Geschichte, die auf der Erforschung von
Archiven und Quellen beruhte.
Die meisten Nationen haben ihre Geschichte neu geschrieben, aber nationalistische
Versionen der Geschichte haben eines gemeinsam: Ihre Kennzeichen sind, was ich die vier
„S“ nenne: Simplifizierung, Selektierung, Selbstgerechtigkeit und Selbstbedienung. Der
jüdische Philosoph in Oxford, Isaiah Berlin, sagte gerne, dass die Juden so wie alle Menschen
sind, nur etwas mehr und ebenso ist die zionistische Geschichtsschreibung wie jede andere
nationalistische Version von Geschichte – nur etwas mehr. Der wesentliche Beitrag der
„Neuen Geschichte“ Israels ist also die Infragestellung der nationalistischen Vorurteile in der
zionistischen Historiographie des Konflikts.
J: Zunächst haben Sie ja durchaus etwas bewegt: Israelische Schulbücher wurden
umgeschrieben, um neues Licht auf ein Narrativ zu lenken, das vorher unterdrückt war.
Aber unter Scharons Regierung von 2001-2005 wurde das Curriculum nochmals verändert
und die Neuen Historiker wurden in Israel jetzt scharf verurteilt. Würden Sie sagen, sie
haben noch eine Bedeutung?
AS: Geschichte wird nicht in einem Vakuum geschrieben, sondern in einem besonderen
politischen Kontext. Der Kontext, in dem die Neue Geschichtsschreibung in den späten
1980er Jahren entstand, waren die Nachwirkungen des Libanon-Krieges von 1982. Dies war
ein gewollter Krieg, denn es gab keine Bedrohung von Israels Sicherheit, aber die
[Menachem] Begin Regierung entschied sich trotzdem dafür, den Libanon aus geopolitischen
Gründen anzugreifen. In Israel war dies ein sehr kontroverser Krieg; er endete in Tränen und
im Desaster. Er endete mit den Massakern in Sabra und Shatila und er erreichte keines
seiner angestrebten Ziele. Die Kritik begann schon während des Krieges und er war deshalb
der erste israelische Krieg, zu dem es schon im Verlauf des Krieges Widerspruch gab.
Die Kontroverse im Zusammenhang des Libanon-Krieges schaffte einen Raum, in dem die
Neuen Historiker einen Einfluss ausüben konnten, weil wir sagten, dass der Libanon-Krieg
nicht der einzige Krieg war, bei dem die Behauptung nicht stimmte, dass alle israelischen
Kriege Verteidigungskriege waren. Dies ermöglichte uns, tiefer in die israelische Geschichte
einzusteigen und die anderen Kriege zu untersuchen. Der Sinai-Krieg von 1956 war ebenso
ein gewollter Krieg, da es keine ägyptische Bedrohung für Israels Sicherheit gab. Im
Gegenteil, es war eine kolonialistische Verschwörung von Israel, Großbritannien und
Frankreich mit dem Ziel, Ägypten anzugreifen und seinen Führer, Gamal Abdel-Nasser, zu
stürzen. Das politische Klima in Israel war für die neuen und kritischen Untersuchungen über
die Vergangenheit reif und das half uns.
In der Folge wurden dann die Oslo Vereinbarungen zwischen Israel und der
palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) 1993 unterzeichnet und die Palästinenser
hörten auf, der absolute und unversöhnliche Feind Israels zu sein. Die Israelis verstanden,
dass Versöhnung möglich ist, dass der Fehler nicht ausschließlich bei den Palästinensern zu
suchen war, dass Israel auch Schuld hatte und dass es einen Ausweg gab, einen Weg, die
beiden Konfliktparteien zu versöhnen. Die ersten Jahre nach den Oslo Verträgen bescherten
der „Neuen Geschichte“ einen ungeheuren Aufschwung und das verfehlte ihre Wirkung
nicht.
Eine der bedeutendsten Errungenschaften der Neuen Geschichte war die Neuausrichtung
der israelischen Geschichtsbücher in den Schulen. Insbesondere die Ergebnisse von Benny
Morris‘ Untersuchungen, dass Israel weitgehend verantwortlich für die palästinensische
Vertreibung war, wurden in die neuen Textbücher eingearbeitet. Das bedeutete nicht nur,
dass die alte Version des Krieges von 1948 beseitigt wurde und von unserer Version ersetzt
wurde. Es bedeutete vor allem, dass es eine größere Offenheit gab und den israelischen
Schulkindern vermittelte: stell dir vor, wie es gewesen sein musste, ein arabisches Kind in
diesem Krieg zu sein. Also nährte es nunmehr Zweifel an der alten Version in den Köpfen der
Israelis, dass die Araber aus eigenem freien Willen oder auf höheren Befehl ihre Heimat
verlassen hatten und dass Israel keinerlei Verantwortung für das palästinensische
Flüchtlingsproblem hat. Für ungefähr zehn oder zwölf Jahre nach dem Erscheinen unserer
Bücher hatten wir stetige Fortschritte gemacht und genossen größere Zustimmung.
Einige unserer Vorstellungen drangen auch in den intellektuellen Mainstream, insbesondere
die Idee, dass Israel für das Flüchtlingsproblem verantwortlich war. Einige meiner Freunde
sagten zu mir: „Du warst mal ein junger Türke, aber jetzt bist du ein alter Blödmann, der zum
Establishment gehört.“ Ich habe das nie akzeptiert, weil ich niemals dem intellektuellen
Mainstream angehört habe. Außerdem hat diese Einverleibung unserer Arbeit durch das
Establishment nur kurze Zeit gedauert. Der Grund war das nächste bedeutende Ereignis in
der israelischen Geschichte, nämlich der Ausbruch der Zweiten Intifada im September 2000.
Wegen der Militarisierung der Zweiten Intifada, der Gewalt und insbesondere wegen der
Selbstmordanschläge, die eine sehr beunruhigende psychologische Wirkung auf Israelis
hatte. Das Klima in Israel änderte sich komplett. Kritische Wissenschaftler wie wir bekamen
diese feindselige Haltung zu spüren.
So wie die Oslo Vereinbarungen uns geholfen hatten, so wendete sich der Ausbruch der
Zweiten Intifada gegen uns. Israelis kehrten zu den alten fundamentalistischen Positionen
zurück: wir gegen sie und wir haben Recht und sie haben Unrecht. Das ist der Aufstieg und
der Niedergang der „Neuen Geschichte“ in Israel.
J: Und dieser Niedergang setzt sich fort in dem rechtsextremen Klima, das zurzeit herrscht.
Was ist zurückgeblieben von den Neuen Historikern angesichts der Konversion von Benny
Morris und den Angriffen auf diese Gruppe?
AS: Der Niedergang setzt sich fort bis zu dem Punkt, wo die Gruppe nicht mehr existiert und
der Begriff „Neue Geschichte“ keinerlei Bedeutung mehr hat in Israel. Ein Indikator für den
Trend von der Neuen Geschichte zurück zur alten Geschichte ist die Konversion von Benny
Morris. Nach dem Ausbruch der Zweiten Intifada wendete sich Benny Morris den extremen
Rechten zu und revidierte seine Ansichten zum Israel-Palästina Konflikt radikal, indem er
allein die Palästinenser dafür verantwortlich machte. Er sagte, alle Palästinenser seien
Lügner und dass Arafat ein unverbesserlicher Lügner sei und man ihm nicht trauen könne. Er
sagte auch, dass die Oslo Vereinbarungen nur Teil ihrer Stufentheorie war und den
Palästinensern nur dazu dienten, Israel nach und nach zu demontieren und dass die Verträge
deshalb ein Fehler waren. Für ihn gab es deshalb nur zwei Möglichkeiten: entweder die
Palästinenser werfen uns raus oder wir werfen die Palästinenser raus und dass es keine
Unterscheidung gibt zwischen dem Kernland Israel und den besetzten Gebieten, weil die
Palästinenser alles haben wollen. Morris kehrte also zurück zu einer extrem primitiven,
rechtsextremen und bipolaren Sicht des Konflikts, nämlich als einem existentiellen Konflikt,
für den es keine diplomatische Lösung gibt. Morris ist aus dem Grund interessant, weil er
den Trend in der israelischen Gesellschaft seit der Zweiten Intifada widerspiegelt, der ein
stetiger Wandel nach rechts ist und ein stetiger Prozess, der den Palästinensern alle Schuld
zuschiebt, sie dämonisiert und letztlich einen Wandel zu einem immer offeneren Rassismus
darstellt. In einem Interview mit Ha’aretz im Jahr 2004 sagte Morris, die Palästinenser seien
wie Tiere, die man in eine Art Käfig einsperren sollte.
Seitdem haben Illan Pappè und ich uns vollständig von ihm, seinen rechtsradikalen
Ansichten, seinen primitiven Ansichten über den Konflikt und vor allem von seinem
Rassismus distanziert. Morris veröffentlichte seine Ansichten in einem Artikel im Guardian,
für die er keinen Funken an Beweisen vorlegte und ich antwortete am nächsten Tag mit
einem Artikel mit dem Titel: Betrug an der Geschichte. Ich stellte in diesem Artikel heraus,
dass Morris einmal ein hervorragender Historiker war, der sich auf die historischen Quellen
stützte, aber dass er in diesem Artikel keinerlei Beweise für seine Behauptungen vorgelegt
hatte. Zum Beispiel behauptete er, dass die Wahrheit im Islam keinerlei Wert besitzt,
deshalb würden die Muslime auch niemals die Wahrheit sagen. Er sagte auch, dass ein
Frieden mit Syrien unmöglich sei, weil er sich vorstellen könne, dass Hafez al-Assad seinem
Sohn auf dem Sterbebett das Versprechen abnehmen würde, keinen Frieden mit Israel zu
schließen, weil sie wie die Kreuzritter des Mittelalters seien, die auch wieder verschwinden
würden. Ich hätte es gern, wenn uns Morris , der empirische Historiker, einige konkrete
Beweise der syrischen Unnachgiebigkeit nennen würde, aber es gibt keine, weil Israel
ständig unnachgiebig war, nicht die Syrer.
Sie haben natürlich Recht, dass die „Neue Geschichte“ ihren Einfluss verloren hat. Außerdem
ist die ursprüngliche Gruppe keine Gruppe mehr: es gibt tiefgreifende Differenzen zwischen
Benny Morris auf der einen Seite, der die alte Geschichte repräsentiert und Illan Pappé und
mir auf der anderen Seite.
J: Sie haben die Situation der Linken nebenbei erwähnt. Was ist davon übrig geblieben?
Haben Sie irgendeine Hoffnung, dass sie nach ihrem enormen Niedergang wieder an
Einfluss gewinnen könnte?
AS: Wenig ist von der Linken in Israel übrig geblieben. Die Arbeitspartei repräsentierte unter
Rabin noch einen Aspekt des Konflikts, der sich von dem des Likud unterschied. Die
Arbeitspartei setzte sich für einen territorialen Kompromiss ein, während der Likud eine
ideologische Ausrichtung hat, die für ein Großisrael steht – alles Land für Israel. Es gab also
einen Unterschied zwischen den beiden großen Parteien, aber dieser Unterschied ist
inzwischen verwischt. Entscheidend für die Verwischung der Unterschiede ist das Camp
David Abkommen vom Juli 2000. In den Wahlen von 1999 besiegte Ehud Barak Benjamin
Netanyahu und präsentierte sich als ein Schüler von Yitzhak Rabin, der angeblich die
Friedensgespräche von Oslo wieder aufnehmen wollte. Knackpunkt war der Gipfel von Camp
David – und dieser Gipfel schlug fehl. Die Hauptverantwortung für das Scheitern lag bei Ehud
Barak. Auch Bill Clinton trug einen Teil der Verantwortung, weil er nicht als ehrlicher
Vermittler, sondern als Freund Israels und sein Verbündeter auftrat. Arafat sah sich
gezwungen, die Unterschrift unter dem Vertrag zu verweigern und der Gipfel war ein
Fehlschlag.
Clinton hatte Arafat versprochen, dass es keine Schuldzuweisungen geben würde, falls der
Gipfel scheitert. Aber kaum war der Vertrag gescheitert, bezeichnete er es als Arafats Schuld
und auch Ehud Barak machte Arafat für das Scheitern verantwortlich. Als Barak nach Israel
zurückkehrte, behauptete er, dass mit Palästina kein Frieden möglich sei. Dieses war ein
tragischer Fehler und es hatte enorme Auswirkungen auf die israelische Politik, denn wenn
es keinen palästinensischen Partner für Friedensverhandlungen gibt, dann sind
Verhandlungen nutzlos und hoffnungslos. Und wenn es keine palästinensischen Partner für
den Frieden gibt, dann brauchten die Israelis auch keine Partei wie die Arbeitspartei zu
wählen, die noch an Verhandlungen glaubte. Und lieber als einen moderaten Führer, einen
Mann des Kompromisses, wollten die Israelis jetzt einen starken Führer, der bereit war,
Araber zu töten. Ariel Scharon war dieser Führer des Likud, der eine beeindruckende Bilanz
aufweisen konnte, Araber zu töten, Kriegsverbrechen zu begehen, und die israelische
Öffentlichkeit wählte diesen starken Führer, weil die Mehrheit der Israelis, Linke wie Rechte
und das Zentrum an den Mythos glaubte, dass es keinen palästinensischen Partner für den
Frieden gibt. Insofern war es ein Bärendienst von Barak an seiner Partei, indem er die
Unzuverlässigkeit der Palästinenser propagierte und somit auch das Friedenscamp Peace
Now (Frieden jetzt) zerstörte. So gab es 2001 einen Likud Sieg bei den Wahlen und seitdem
ist entweder der Likud oder ein Ableger von Likud, Kadima, die ebenfalls eine rechtsextreme
Partei ist, an der Macht.
Inzwischen ist die Arbeitspartei nur noch ein Schatten ihrer selbst und repräsentiert nicht
mehr eine Alternative zu Likud. Sie ist eine nationalistische Partei geworden und hat ihren
Namen von Arbeitspartei zu Zionistische Union geändert, was schon alles aussagt. Sie ist also
eine zionistische Partei, die an das gesamte Land Israel glaubt, dass Jerusalem die alleinige
und ewige Hauptstadt der jüdischen Bevölkerung ist und dass Israel alle wesentlichen
Siedlungen in der West Bank bei einer endgültigen Vereinbarung behalten soll. Sie ist
deshalb keine moderate Partei, keine sozialistische Partei, auch keine linke Partei. Sie ist ein
Hybrid aus linkem Zentrum mit keiner kohärenten Ideologie und mit keiner klaren
Alternative zur Politik des Likud. Das ist auch der Grund, weshalb sie so schlecht in den
folgenden Wahlen abgeschnitten hat. Dann gibt es noch andere langfristige demographische
Gründe für den Niedergang. Ich möchte es so ausdrücken: die Unterstützer der Arbeitspartei
sterben aus, aber neue Unterstützer kommen nicht nach.
Die alte Generation der Einwanderer hat die Arbeitspartei unterstützt, aber die politische
Landschaft hat sich verändert und junge Israelis wählen nicht die Arbeitspartei, weil jeder
unter 50 Jahren nach der Besatzung geboren wurde. Die Besatzung ist für sie ganz normal
und eine Partei, die die Besatzung beenden möchte, bedeutet für sie nichts. Ein weiterer
Faktor ist der zunehmende Anteil von orientalischen Juden im Verhältnis zu den Ashkenazi
(Anm.: europäischen) Juden. Ein weiterer Faktor ist die Bildung. Es gibt einen direkten
Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand und unklaren politischen Vorstellungen. Die
meisten Unterstützer des Likud und der anderen rechtsextremen Parteien sind relativ
ungebildet und haben eine schwarz-weiße Sicht der Dinge. Ein letzter langfristiger Faktor ist
die Zunahme der orthodoxen Juden in Israel. Orthodoxe Juden lesen keine „Neue
Geschichte“, sie haben ihre eigene Geschichte, die Bibel, und sie sind einfach nicht an den
Ergebnissen der Quellenforschung interessiert. Also wählen sie die Parteien der Rechten. In
diesem Zusammenhang betrachtet nimmt die Unterstützung für die Arbeitspartei ab und ich
sehe für sie keine Aussicht, wieder an die Macht zu kommen.
Im folgenden (nicht übersetzten) Abschnitt erzählt Avi Shlaim von seinem persönlichen
Verhältnis zu Israel und warum er glaubt, dass auch die Juden in den arabischen Ländern
Opfer der nationalistischen Zionismusbewegung wurden. […]
J: Wenn wir auf die gegenwärtigen Probleme zu sprechen kommen, so haben Sie im
Guardian Anfang des Jahres behauptet, dass „Obama der am meisten pro-israelische
Präsident seit Truman“ gewesen ist. Würden Sie das angesichts von Trumps
Präsidentschaft und seinen Positionen im israelisch-palästinensischen Konflikt neu
bewerten?
AS: Amerika gibt Israel Geld, es gibt Israel Waffen und es gibt Israel Ratschläge. Israel nimmt
das Geld, nimmt die Waffen und schlägt die Ratschläge in den Wind. Israel bezahlt keinen
Preis für die Zurückweisung der Vereinigten Staaten. Obama kannte sich in der Geschichte
der Palästinenser besser aus als alle anderen amerikanischen Präsidenten. Obama hielt eine
Rede in Kairo im Jahre 2009, in der er feierlich die Unterstützung für einen palästinensischen
Staat verkündete. Er versprach es, aber er hielt nicht sein Wort. Obama hielt gute Reden,
aber er erreichte nichts. Er hat niemals wirtschaftlichen Druck auf Israel ausgeübt, um Israel
in eine Vereinbarung mit den Palästinensern über die Siedlungen zu zwingen. Während
seiner acht-jährigen Amtszeit erhöhte er ständig die militärische und wirtschaftliche Hilfe für
Israel und sein Abschiedsgeschenk war ein Hilfspaket von $ 38 Milliarden für die nächsten
zehn Jahre. Obama hat also nichts für eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts
erreicht, aber zumindest hat er es versucht. Er hat das Siedlungsproblem als das
Hauptproblem erkannt und ist dreimal mit Netanyahu über dieses Problem aneinander
geraten, aber jedes Mal hat er nachgegeben. Netanyahu kriegte seinen Willen; er setzte den
Siedlungsbau fort und erhielt weiterhin amerikanische Hilfe.
Mit Trump gab es einen entscheidenden Wechsel in der amerikanischen Politik bezüglich des
Konflikts, weil es keine Vortäuschung von Neutralität mehr gibt. Obama hat so getan als
wäre er neutral, aber Trump ist offen einseitig und pro-israelisch. Trump verlässt sich auf
Leute, die eindeutig zionistisch sind. Sein Hauptratgeber ist sein orthodoxer jüdischer
Schwiegersohn Jared Kushner, der keinerlei Erfahrung mit dem Regieren oder öffentlichen
Angelegenheiten hat. Kushners Familie unterstützt den Siedlungsbau in der West Bank.
Trumps Botschafter in Israel ist David Friedman, sein Pleitenanwalt, der ein rechtsextremer
Zionist ganz im Sinne von Netanyahu ist. Friedman treibt jedes Jahr ca. $ 2 Millionen für Beit
El ein, das eine militante Siedlung in der West Bank ist. Er ist auch ein starker Befürworter
der Umsiedlung der amerikanischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. […]
Im Anschluss an ein Treffen zwischen Trump und Netanyahu wurde Trump von einem
Journalisten gefragt, ob er die Zwei-Staaten-Lösung befürworte, worauf er antwortete:“ Falls
für Bibi die Zwei-Staaten-Lösung OK ist, bin ich auch dafür. Und falls Bibi die Ein-Staaten-
Lösung will, dann werden wir sie bekommen.“ Anders ausgedrückt, er verabschiedet sich
von einer unabhängigen amerikanischen Position, wie der Konflikt zu lösen sei. Er fügt sich
den Wünschen von „Bibi“ und hat keine Vorstellung von den Rechten der Palästinenser oder
was die Palästinenser zu dem Thema zu sagen hätten. Wir hatten also noch nie einen
amerikanischen Präsidenten, der sich ignoranter gegenüber den Realitäten dieses Konflikts
und den Bedingungen des Völkerrechts verhält und der so offensichtlich einseitig ist wie
Trump. Ich kann also nicht sehen, wie Trump die „ultimative Lösung“ liefern will, die er
versprochen hat.
J: Sind Sie immer noch ein Befürworter der Zwei-Staaten-Regelung?
AS: Ich war mein ganzes Leben lang ein Befürworter der Zwei-Staaten-Regelung, weil es
niemals eine absolut gerechte Lösung für die Palästinenser gibt. Ich bin überzeugt, dass die
Bildung des Staates Israel eine monumentale Ungerechtigkeit gegenüber den Palästinensern
bedeutete, aber ich gehe natürlich nicht so weit, dass Israel demontiert wird, um
Gerechtigkeit für die Palästinenser zu schaffen. Ich akzeptiere die Realität Israels in seinen
ursprünglichen Grenzen, ich akzeptiere die Legitimität Israels in den Grenzen vor 1967.
Edward Said beschrieb die beiden Gemeinschaften als zwei Gemeinschaften, die leiden. Wir
müssen die tragische Geschichte der Juden als auch das Leiden der Palästinenser in Betracht
ziehen. Die Zwei-Staaten-Lösung schien nicht eine perfekte Lösung zu sein, aber eine
vernünftige. Die PLO hat in der Oslo Vereinbarung auf 78 Prozent des Mandatsgebiets für
Palästina verzichtet in der Hoffnung, dass sie einen unabhängigen Staat Palästina in den
verbleibenden 22 Prozent in der West Bank und in Gaza erhalten würden. Aus diesem Grund
unterstützte ich die Zwei-Staaten-Lösung. Doch Israel hat sowohl unter der Regierung von
Arbeitspartei als auch Likud die Siedlungen weiter ausgebaut. Dies ist mit einer Zwei-
Staaten-Lösung unvereinbar.
Die Siedlungen bedeuten Landraub und Landraub und Friedensprozess passen nicht
zusammen, es gilt entweder das eine oder das andere. Durch seine Handlungsweise, wenn
nicht auch in seiner Rhetorik, hat Israel immer Landraub betrieben und auch jetzt, während
wir sprechen, erweitert Israel seine Siedlungen. Israel hat also immer systematisch die Basis
für einen lebensfähigen palästinensischen Staat unterminiert. Dies war immer das erklärte
Ziel von Likud und Netanyahu, die nur zum Schein die Zwei-Staaten-Lösung akzeptierten. Im
Vorfeld der letzten Wahl erklärte Netanyahu, dass es unter seiner Herrschaft keinen
palästinensischen Staat geben werde. Mit dem Ausbau der Siedlungen und der Mauer kann
es keinen lebensfähigen palästinensischen Staat geben mit territorialer Integrität. Das
höchste, was die Palästinenser erwarten können, ist ein Bantustan, eine Reihe von Enklaven,
umgeben von israelischen Siedlungen und israelischen Militärbasen.
Die Zwei-Staaten-Lösung ist also keine Option mehr und deshalb unterstütze ich die Ein-
Staaten-Lösung, ein Einheitsstaat mit gleichen Rechten für alle seine Bürger. Ideologisch
habe ich kein Problem mit einer Ein-Staaten-Lösung. Ideologisch ist er sogar attraktiv, es ist
eine hehre Vorstellung von zwei Gemeinschaften, die in Harmonie auf einem Raum
zusammen leben, mit gleichen Rechten für alle seine Mitglieder. Aber ich bin nicht so naiv zu
glauben, dass es in Israel eine Unterstützung für eine Ein-Staaten-Lösung gibt. Und wenn es
wirklich hart auf hart käme, würde sich Israel bis an die Mauer in der West Bank
zurückziehen und noch alles, was es von der West Bank haben möchte, annektieren. Es
würde die Hauptsiedlungen in Ma’ale Adumim und die ganze Umgebung von Jerusalem
annektieren und würde dies eher unilateral machen als eine Ein-Staaten-Lösung zu
akzeptieren. Ich bin also in keinster Weise optimistisch, dass die Ein-Staaten-Lösung ein
realisierbarer Vorschlag ist. Aber dies ist meine Meinung und ich beschuldige Israel, dass es
die Alternative einer Zwei-Staaten-Lösung ausgeschlossen hat.
J: Wie beurteilen Sie die jüngsten Positionen der Hamas, insbesondere die als ‚neues
politische Dokument’ im Mai 2017 veröffentlichten?
AS: Hamas hatte sich in eine politische Partei verwandelt, ist im Januar 2006 bei den Wahlen
angetreten und hat sie gewonnen. Es gab viele internationale Beobachter und alle waren
sich einig, dass es freie und faire Wahlen waren. Also betrachte ich die Hamas als die
legitime Regierung Palästinas. Israel hingegen lehnte die Wahlergebnisse ab und zu ihrer
Schande taten das die USA ebenso wie die Europäische Union. […]
Ich denke, die Hamas hat stetig ihr Programm gemäßigt. Ihre Führer haben oft schon
Statements abgegeben, die Zwei-Staaten-Lösung zu akzeptieren, und das neueste
Dokument, auch wenn es die Charta von 1988 nicht annulliert, ist ein neues Bündel an
Richtlinien für die Hamas und ausgesprochen moderat. Alles Antisemitische aus der Charta
ist verschwunden, das neue Dokument macht deutlich, dass es der Hamas bei der
Auseinandersetzung nicht um Juden, sondern um Zionisten geht. Es besagt ausdrücklich,
dass die Hamas einen unabhängigen palästinensischen Staat entlang der Grenzen von 1967
akzeptieren würde, wenn dies durch ein Referendum durch das palästinensische Volk
bestätigt würde. Das Problem ist also nicht die Hamas, das Problem ist die israelische
Kompromisslosigkeit, weil Israels Ablehnung der Hamas nicht an Bedingungen geknüpft ist,
sondern absolut. […]
J: Was denken Sie über die BDS Bewegung? (Boykott, Deinvestment und Sanktionen)
AS: BDS ist eine Graswurzel-Bewegung, die sehr schnell eine breite Unterstützung erfahren
hat und auch schon erfolgreich war, indem große Unternehmen ihr Kapital aus Israel
abgezogen haben. Sie hatte darüber hinaus beträchtlichen Einfluss auf die öffentliche
Meinung in der ganzen Welt, da sie das Unrecht der israelischen Besatzung verdeutlichte.
Die Israelis nehmen sie sehr ernst. Sie haben ein Budget von 40 Millionen englischen Pfund
eingerichtet, um BDS zu bekämpfen, indem einzelne Individuen persönlich angegriffen und
ins Unrecht gesetzt werden, anstatt sich argumentativ mit BDS auseinander zu setzen. Und
mir scheint, dass westliche Regierungen jetzt ihre Politik der Unterstützung für Israel ändern.
Zwölf europäische Parlamente haben Palästina anerkannt, aber nur die schwedische
Regierung hat Palästina anerkannt. Eine allgemeine Anerkennung Palästinas durch westliche
Regierungen passiert noch nicht. Die britische Regierung unter Theresa May ist vollständig
einseitig in der Unterstützung von Israel. Theresa May hat Israel als ein Leuchtfeuer der
Freiheit und Toleranz beschrieben und sie sagte, sie ist stolz auf die Balfour Erklärung und
dass sie plant, den hundertsten Jahrestag der Erklärung [2. November – Anm.: mittlerweile
so geschehen] öffentlich zu feiern. Die britische Premierministerin hat also volle
Verantwortung für die Balfour Erklärung übernommen, die ein klassisches kolonialistisches
Dokument darstellt, das nicht einseitiger sein könnte. Ich bin deshalb nicht so optimistisch,
dass westliche Politik Israel zur Einsicht bringen wird.
Ich befürworte EU Sanktionen gegen Israel, weil Israel ständig gegen die Bedingungen des
Assoziierungsabkommens mit der EU verstößt. In der Präambel dieser Vereinbarung steht,
dass Israel die Menschenrechte aller Bürger seines Herrschaftsbereiches respektieren muss.
Israel verletzt systematisch die Menschenrechte der Palästinenser und deshalb denke ich
und hoffe ich, dass die EU dieses Abkommen suspendieren wird, bis Israel seine
Verpflichtungen einhält.
Um auf BDS zurück zu kommen würde ich sagen, dass die Palästinenser nicht auf die Hilfe
der westlichen Regierungen hoffen können, um die Besatzung zu beenden, auch nicht auf
die UN. Die einzige Hoffnung der Palästinenser besteht in der BDS Bewegung.
Das besagt nicht, dass BDS in absehbarer Zukunft ein Ende der israelischen Besatzung
bewirken könnte. Es ist aber die einzige Hoffnung der Palästinenser, überhaupt einen
Fortschritt zu machen.
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