Heute vor 77 Jahren, am 8. Mai 1945, musste Nazi-Deutschland bedingungslos kapitulieren – und damit war zumindest formal der Siegeszug des deutschen Faschismus zu Ende. Doch der Faschismus als Geisteshaltung ist nicht verschwunden. Das zeigt zum Beispiel auch die Ukraine, wo in Kiev Stepan Bandera zu Ehren sogar ein Boulevard umgetauft wurde – und auch im Jahr 2022 immer noch so heisst.

In Zeiten von Kriegen ist es für die Erinnerung und die Analyse bedeutend, sich vergangener Kriege zu erinnern. Wer den russisch-ukrainischen Krieg heute angemessen beschreiben will, der kann nicht an den Erfahrungen des faschistischen Krieges – insbesondere des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion – vorbeigehen. Diese Erfahrung, aber auch die erfolgreiche militärische Niederschlagung der faschistischen Barbarei im Rahmen des Großen Vaterländischen Krieges, wie er in der sowjetischen Diktion hieß, durch die Rote Armee als Teil der Anti-Hitler-Koalition ist bis heute im kollektiven Gedächtnis beider Kriegsparteien vorhanden.

Wenn die russische Regierung meint, als Begründung für den Überfall auf die Ukraine eine »Denazifizierung« des Landes nennen zu können, dann ist sie sich sicher, dass die Menschen in Russland mit diesem Bild etwas anfangen können. Das ist unabhängig von der Frage, ob die in der Ukraine vorhandenen neofaschistischen Kräfte und Strukturen, das Asow-Bataillon oder die unsägliche Verehrung des Nazi-Kollaborateurs Banderasiehe Aufmacherbild oben, Red. – tatsächlich eine solche Gefahr darstellten, dass diese einen völkerrechtswidrigen Militäreinsatz rechtfertigten.

In Kiev wurde zu Ehren des Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera ein Boulevard auf seinen Namen umbenannt.Wer die öffentliche Propaganda in unsrem Land im Zusammenhang mit diesem Krieg verfolgt, der erfährt nichts davon – außer von der ukrainischen Propagandabehauptung, russische Raketen seien in der Gedenkstätte Babyn Jar eingeschlagen, womit sich angeblich der Vorwurf der »Denazifizierung« entlarven würde. Gleichzeitig kündigen deutsche Gedenkstätten für die sowjetischen Opfer des faschistischen Krieges an, man werde wegen des Krieges in diesem Jahr keine Vertreter der russischen und belorussischen Seite einladen, während andere betonen, Deutschland habe eine besondere Verpflichtung gegenüber der Ukraine aufgrund der verheerenden Kriegsverbrechen in der Zeit der faschistischen Okkupation.

Ja, Deutschland hat – und daran erinnern wir an jedem 8. Mai – eine besondere Verpflichtung, aber diese besteht gegenüber allen Völkern der ehemaligen Sowjetunion, und diese Verpflichtung besteht seit 77 Jahren. Sie wurde – außer von der DDR – bislang erfolgreich verdrängt. Erst jetzt, wo sie sich als Parteinahme für die Ukraine instrumentalisieren lässt, wird sie benannt. Das ist in hohem Maße zynisch gegenüber allen Leidtragenden des »antibolschewistischen Vernichtungskrieges «, der etwa 27 Mio. Opfer unter der sowjetischen Bevölkerung gefordert hat.

Der 8. Mai 1945 erinnert daher auch heute noch an die Verantwortung, an das politische Vermächtnis aus der Befreiung von Faschismus und Krieg mit Blick auf die faschistischen Massenverbrechen für uns heute. Wer heute von einer »Zeitenwende« spricht, der will sich aus dieser Verantwortung stehlen. Der behauptet, dass nun nicht mehr das politische Vermächtnis »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!« gelte, sondern eine »deutsche Verantwortung« für Europa, die mit 100 Mrd. Euro Aufrüstungsetat umgesetzt werden soll. Damit versucht man gleichzeitig, die historische Erinnerung wegzuwischen.

Umso wichtiger ist es, dass alle Kräfte der Friedensbewegung sich auch in diesem Jahr dafür einsetzen, dass der 8. Mai 1945 in seiner geschichtspolitischen Bedeutung anerkannt wird. Die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten«  VVN-BdA führt deshalb die noch von Esther Bejarano initiierte Petition: »Der 8. Mai muss Feiertag werden« fort und unternimmt in dieser Frage weitere Vorstöße gegenüber dem Bundestag und den Länderparlamenten.

Wer sich heute für Frieden in Europa und gegen deutsche Großmachtambitionen einsetzen will, der sollte sich für die Forderung einsetzen: Der 8. Mai muss Feiertag werden.

(Der Historiker Dr. Ulrich Schneider ist Generalsekretär der »Fédération Internationale des Résistants« FIR. Sein Kommentar erschien zuerst in den »Marxistischen Blättern« Ausgabe 3/2022.)