Der deutsche Komplex Von Evelyn Hecht-Galinski

Kommentar vom Hochblauen

 

Der deutsche Komplex

 

Von Evelyn Hecht-Galinski

 

Wir erleben derzeit die traurige Realität eines Landes, das sich seit 1945 als Musterschüler bemüht, es immer allen recht zu machen. Die ehemaligen Nazis wurden zum Teil sofort integriert, und ihre Schuld blieb bis heute ungesühnt. Es gab die Nürnberger Prozesse, sehr spät den so genannten Auschwitz-Prozess, und dann musste es auch mal gut sein… Unter Führung der USA als neuer transatlantischer Freund und Partner wurde Deutschland zum wichtigen Kalten Kriegspartner, und dazu wurden alle Kräfte mobilisiert.

 

Allerdings war auch die DDR nicht völlig frei von Schuld, schließlich machten auch im „Arbeiter- und Bauernstaat“ Alt-Nazis politische Karrieren. Auch die zionistischen Freunde waren schnell bereit, wieder gute Beziehungen zum Nachkriegsdeutschland aufzubauen, schließlich konnten sie sicher sein, mit diesem Deutschland einen neuen und wichtigen und leicht manipulierbaren Partner zu finden.

 

Diese Vorbemerkung leitet mich über zum heutigen Deutschland. Wenn rechtsextreme Demonstranten sich zu tausenden wie in Chemnitz zusammen rotten, und sich „trauernde Sachsen“ dazu begeben, dann sollten alle Alarmglocken schrillen. Da gibt es nichts zu verniedlichen und zu entschuldigen, denn hier erleben wir die traurige Realität eines kompletten Politik-Versagens, das sowohl in West- als auch in Ostdeutschland eine rassistische Lawine in Bewegung gebracht hat. Nein, der Rassismus hat zwar in Dresden seit Pegida ein Ventil gefunden, das jetzt in Chemnitz in einem neuen Ausbruch mündete, ist aber ein gesamtdeutsches Problem und ein gesamtdeutsches(!) politisches Versagen!

 

Was aber ist an rassistischen jüdischen Israelis anders, die seit vielen Jahren ungestraft durch den „Jüdischen Staat“ ziehen und „Tod den Arabern brüllen?

 

Auf dem rechten Auge blind

 

Immer schon war die deutsche Politik auf dem rechten Auge blind und war immer – bis zum heutigen Tag – bereit, alles Linksorientierte zu verdammen. Besonders erschreckend aber ist, dass der Islamhass den Judenhass abgelöst hat. In Zeiten, wo offen – auch von offizieller politischer Seite und nicht nur von der AfD – rassistische Vorurteile und Hetze vorgebracht wird, ist es an der Zeit, endlich einmal Farbe zu bekennen. Wir brauchen dringend einen Rassismus-Beauftragten anstatt einer Schwemme von Antisemitismusbeauftragten, denn wir haben es mit der Auswirkung des deutschen Komplexes zu tun, der sich inzwischen zu einer „german desease“ entwickelt hat, nämlich dem Philosemitismus. Diese Tatsache kann man nicht oft genug wiederholen.

 

In Zeiten, wo ein völlig inkompetenter Islamhasser wie Thilo Sarrazin – immer noch Mitglied der SPD – unbehelligt seine Hass-Schriften verbreiten kann und damit auch noch die Feuilletons der Medien füllt, und wo gerade diese Art von Büchern Hochkonjunktur haben, wäre die deutsche Politik einmal gut beraten, sich endlich abzugrenzen von solchem Denken. (1)(2)

 

Aber leider geschieht genau das Gegenteil; verständnisvoll versucht man zu erklären, dass man nicht alle diese Demonstranten oder AfD-Wähler in einen Topf werfen soll.

 

Doch ich widerspreche: Bürger, die sich heute mit einem rassistischen Mob verbrüdern, demonstrieren oder aus Protest die AfD wählen, sind durch nichts zu entschuldigen. Diese Partei ohne Programm, die nur auf rechtsextreme Provokationen und Fremden- und Islamhass konzentriert ist, aber Seite an Seite mit den Juden stehen will, aber andererseits die Nazizeit als „Vogelschiss“-Episode sieht, hat sich längst von demokratischen Formen verabschiedet. Da gibt es nichts schön zu reden, wenn sich der Rassismus gegen Fremde, Flüchtlinge, aber vor allem gegen Muslime und den Islam richtet.

 

Wie viele Verfassungsschutz-Leute sind in der AfD?

 

Zu Recht wird jetzt aus den Parteien wie SPD, Grünen und Linken gefordert, die AfD vom Verfassungsschutz überwachen zu lassen, aber Heimat- und Innenminister Seehofer sieht keinen Anlass, dieser Forderung nachzukommen, weil seiner Meinung nach „derzeit die Voraussetzungen für die Beobachtung der Partei als Ganzes nicht vorlägen“; auch die Verfassungsschutzbehörden sehen dafür „keine augenblicklich ausreichenden Anhaltspunkte“. Tatsächlich ist die Frage zu stellen, ob der Verfassungsschutz noch ernst zu nehmen ist nach den Vorwürfen, auch in Bezug auf die AfD-Treffen. Auch stellt sich die Frage, wie viele Verfassungsschutz-Leute sind wohl in der AfD? Und wird hier nicht der Bock zum Gärtner gemacht? (3)

 

Als am Montag das große Rock-Konzert gegen rechts stattfand, war das eine publikumswirksame Aktion für die Masse und vor allem für die Jugend. Wo aber blieb dieses Konzert nach den NSU-Morden? Und wo blieben große Demonstrationen nach den NSU-Morden an den türkischen Mitbürgern in Deutschland? Wo blieb da der Aufschrei und die Trauer oder eine Schweigeminute für die Ermordeten ? Haben wir es nicht mit dem Phänomen zu tun, dass wir es mit dieser normalen Art von Rassismus zu tun haben, der eben Unterschiede der Empfindungen zulässt und das als Normalität empfindet?

 

Dank der Erklärung von Mesut Özil hat sich das deutsche Rassismus-Problem bis in die Mitte der Gesellschaft offenbart, und das ist sein großer Verdienst. (4)

 

Der deutsche Komplex hat keine Scheu, sich gegen Muslime zu äußern, steckt aber voller Komplexe, wenn es darum geht, irgendetwas gegen den „Jüdischen Staat“ vorzubringen, da man nur zu gut weiß, dass diese Kritik sofort als Antisemitismus ausgelegt wird und daher immer wieder mit Hinweis auf den Holocaust in Deutschland ein Tabuthema sein muss.

 

Es „ist etwas faul im Staat“ Deutschland

 

Wenn sich heutzutage in Deutschland sogar Juden und Israelis als Antisemiten bezeichnen lassen müssen, ihnen öffentliche Räume und damit freie Meinungsäußerung versagt bleiben, weil sie die illegale Besatzung Palästinas kritisieren und BDS unterstützen, dann „ist etwas faul im Staat“ Deutschland.

 

Dieses Deutschland schaut schweigend dem größer werdenden Großisrael zu, das die Annexion palästinensischen Landes und den Bau von Siedlungen im illegal besetzten Westjordanland als legal propagiert, indem israelische Gerichte den palästinensischen Eigentümern ihre letzten Rechte nehmen und trotz vorliegender bewiesener Besitzansprüche das ihnen von jüdischen Siedlern geraubte Land verlieren, weil die jüdischen Räuber ihr Land im „guten Glauben“ erworben haben.

 

Was meint dieser „gute Glaube“? Ist es der Judaismus der Siedler, der jetzt vom Staat zur endgültigen Legalisierung des Siedlungsbaus im Westjordanland führen soll? Als „bedeutenden Präzedenzfall“, wie die israelische Justizministerin und als ehemalige Amtskollegin mit Außenminister Maas freundschaftlich verbundene Ayeled Shaked stolz verkündete. Wie Haaretz berichtete, prahlte Shaked sogar damit, dass der Staat auf diese Weise keine Siedlungen mehr räumen muss, sondern so ein Weg gefunden wurde, das „legitime Wachstum“ der Siedlungen voranzutreiben.

 

Wo blieb der internationale und auch deutsche Protest von „Freund Maas“ gegen diesen weiteren Versuch des jüdischen Apartheidregimes, die Judaisierung Palästinas voranzubringen.

 

Auf dem Weg zur Endlösung der Palästina-Frage

 

Sollte sich diese Praxis bestätigen und vom Obersten israelischen Gerichtshof bestätigt werden, ist das nach dem rassistischen Nationalgesetz ein weiterer Versuch, der Endlösung der Palästina-Frage immer näher zu kommen. Die USA und der „Jüdische Staat“ haben längst alle völkerrechtlichen Grundsätze über Bord geworfen. Aber wo bleiben die Konsequenzen dagegen? So sollen anscheinend die so genannten „Endstatus-Fragen“ geklärt werden – ohne Verhandlungen und ohne die Palästinenser.

 

In Zeiten der Trumpschen Erpressung und seinen diversen Versuchen, die Welt und die Wirtschaft mit seinen Deals an den Abgrund zu führen, und nach dem skandalösen einseitigen Botschafts-Umzug nach Jerusalem und der Einsetzung des berüchtigten Siedlungsunterstützers David Friedman als US-Botschafter in Israel, der sich inzwischen weigert, das Wort Besatzung als Realität anzuerkennen und diesen Begriff nicht mehr erwähnt, hat er jetzt mit der Einstellung der Zahlungen für das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge, UNRWA, einen weiteren Versuch gestartet, sich endgültig von Gaza und Palästina zu verabschieden.

 

Er schlägt sich damit voll und ganz auf die Seite der jüdischen Freunde. Sein jüdisch-zionistischer Schwiegersohn Jared Kushner, der inzwischen palästinensische Flüchtlinge nicht mehr als solche anerkennen möchte und diese alle nach Jordanien transferieren möchte, soll als Einflüsterer dieses „Deals“ dahinter stecken – gegen alle Widerstände. Kushner, dessen „Friedenspläne“ sich inzwischen als einseitige Israel-Interessen und als völlig unannehmbar erwiesen, erklärte seine Politik so: „Manchmal muss man das strategische Risiko eingehen, um ans Ziel zu gelangen“. Tatsächlich kommen wir mit dieser neuen US-Strategie diesem Ziel immer näher. Im Zerstören kennen sich US- und israelische Politiker in der Tat bestens aus, das beweisen sie seit Jahrzehnten. (5)

 

Es würde bedeuten, dass mehr als 5,3 Millionen palästinensische Flüchtlinge ohne Hilfszahlungen da stünden, wenn sich der Flüchtlingsstatus und das legale Recht auf Rückkehr der vertriebenen Palästinenser und ihrer Nachfahren dank dieser „US-Neudefinition“ in diese Richtung ändern würde, dann wären sie auf einen Schlag – ginge es nach Kushner und Trump und auch Netanjahu – wie „weggezaubert“. Aber dieser Zaubertrick ist ein mieser Schachzug, der die Rechte dieser Flüchtlinge nicht schmälern wird. Die Genfer Konvention gibt klar vor, dass die Besatzungsmacht, also Israel, für die Versorgung der Bevölkerung aufzukommen hat, aber Israel hat sich dieser Pflicht immer erfolgreich widersetzt. Das war allerdings auch nur möglich, weil die Staatengemeinschaft diese Zahlungen niemals einforderte, sondern immer einsprang, um die Hilfe für die Palästinenser und die UNRWA zu übernehmen. Genau wie jetzt, wenn AA Maas und Deutschland schon angekündigt haben, die Finanzhilfe für die UNRWA zu erhöhen, um diese Organisation als „Schlüsselfaktor für Stabilität“ zu unterstützen, um eine „unkontrollierbare Kettenreaktion“ zu vermeiden, die den „Jüdischen Staat“ treffen könnte.

 

Willkommen im Club der Philosemiten

 

Übrigens will der große Israel-Freund und NRW-Ministerpräsident Amin Laschet laut Bild-Zeitung gründlich prüfen lassen, ob die Palästina-Hilfe gewährt werden sollte. Ein weiterer Versuch, seine am Dienstag angetretene Israel-Reise zu harmonisieren, ebenso wie seine Aussage, dass das Schicksal der erfolgreichen Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp noch offen bleibt. Ob Laschet wohl auf „Befehle“ während seiner Israel Reise wartet? Schließlich will er die so guten Beziehungen mit Israel nochmals intensivieren und eine eigene Landesvertretung in Tel Aviv einrichten, und natürlich einen NRW-Antisemitismusbeauftragten. Er erweist sich damit als ein besonderes bezeichnendes deutsches „Komplexexemplar“: willkommen im Club der Philosemiten. Übrigens will er Netanjahu treffen, aber ein Besuch in den von Israel besetzten Palästinagebieten ist nicht geplant! (6)(7)

 

Ich möchte nochmals einen Appell an die Aufrichtigkeit und den Anstand der deutschen Politik richten, die den „deutschen Komplex“ zu einer Politik gemacht hat, die nicht mehr auf den Werten unserer Verfassung beruht, sondern einseitig zu einer philosemitischen Unterstützung eines rassistischen Apartheidstaates entwickelt hat, der das Selbstbestimmungsrecht und die Würde der Palästinenser zu Gunsten des „Jüdischen Besatzerstaats“ aufgegeben hat. 70 Jahre nach Staatsgründung von Israel und auf Kosten der aus ihrer Heimat vertriebenen Palästinenser ist es überfällig, diese Verantwortung gegenüber den Palästinensern in Angriff zu nehmen, der letzten unschuldigen Leidtragenden des Holocaust. Jedenfalls das sollte zum „deutschen Komplex“ der Politik werden.

 

 

Fußnoten:

 

(1) http://www.lvz.de/Nachrichten/Kultur/Kultur-Regional/Tellkamp-Sarrazin-Broder-Intellektuelle-initiieren-Erklaerung-2018

(2) https://www.sueddeutsche.de/kultur/neues-sarrazin-buch-deutschland-braucht-dieses-buch-so-dringend-wie-einen-ebola-ausbruch-1.4109017-2

(4) https://www.eurosport.de/fussball/mesut-ozil-seine-zusammengefasste-erklarung_sto6859289/story.shtml

(5) http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/unrwa-ohne-dollar-zerstoeren-um-voranzukommen-15767995.html

(3) https://www.sueddeutsche.de/politik/meinung-am-mittag-verfassungsschutz-maassen-tritt-die-verfassung-mit-fuessen-1.4110382

(6) https://www.welt.de/regionales/nrw/article181403326/NRW-Regierungschef-Laschet-trifft-Israels-Premier-Netanjahu.html

(7) https://www.nmz.de/kiz/nachrichten/ministerpraesident-laschet-laesst-zukunft-von-ruhrtriennale-chefin-stefanie-carp-off

 

 

In der Neuen Rheinischen Zeitung (NRhZ) veröffentlicht in Ausgabe 672 vom 05.09.2018 unter http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25169

 

 

Evelyn Hecht-Galinski, Tochter des ehemaligen Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, ist Publizistin und Autorin. Ihre Kommentare für die NRhZ schreibt sie regelmäßig vom „Hochblauen“, dem 1165 m hohen „Hausberg“ im Badischen, wo sie mit ihrem Ehemann Benjamin Hecht lebt. (https://www.sicht-vom-hochblauen.de/) 2012 kam ihr Buch „Das elfte Gebot: Israel darf alles“ heraus. Erschienen im tz-Verlag, ISBN 978-3940456-51-9 (print), Preis 17,89 Euro. Am 28. September 2014 wurde sie von der NRhZ mit dem vierten „Kölner Karls-Preis für engagierte Literatur und Publizistik“ ausgezeichnet.

1 Kommentar zu Der deutsche Komplex Von Evelyn Hecht-Galinski

  1. Wenn die Autorin fragt „Wie viele Verfassungsschutz-Leute sind in der AfD?“ meint sie damit, diee Frage muss erlaubt sein, „nur als V-Leute“ oder nicht auch als ganz normale Mitglieder und Mitläufer? Hat der Ministerpräsident Sachsens (oder war es einer seiner Minister?) nicht eben erst Wert darauf gelegt, die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes des Landes „seien in ihrer politischen Einstellung repräsentativ für die Durchschnittsbevölkerung des „Freistaates“? Zeigt Esther Dischereit in der aktuellen Ausgabe von INAMO (von der Autorin in einem anderen Beitrag erwähnt) nicht die dunkle Seite unserer staatlichen Organe? Welche Rolle spielt da wer? Aufklärungsarbeit, transparent und nachprüfbar, ist vonnöten. Es muss Schluss sein mit geschwärzten amtlichen Unterlagen, mit bequemem „Wegschreddern. Und, wichtiger, ein allgemeines Reinemachen, sowie eine ehrliche Auseinandersetzung mit Fehlentwicklungen in Staat UND Gesellschaft.

    https://podcast-mp3.dradio.de/podcast/2018/09/01/gespraech_mit_esther_dischereit_ueber_heft_94_der_drk_20180901_1123_a3eb37b3.mp3

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