Geopolitik: Der Elefant im Raum Von Dagmar Henn

Geopolitik: Der Elefant im Raum

Von Dagmar Henn Zu Wladimir Putins 70. Geburtstag überschlug sich die deutsche Presselandschaft wieder mit Meldungen über den „Kremlchef“ ( FAZ), der mit „Lügen, Täuschen und Drohungen“ ( Focus) zu handeln gewohnt sei und jetzt vor einem „Kontrollverlust“ ( Zeit) stehe.

Geopolitik: Der Elefant im Raum

Von Dagmar Henn

Dem Westen geht es um „Werte“, während Putin verborgene imperiale Absichten hegt? In Wirklichkeit ist die russische politische Kommunikation wesentlich offener als die westliche; aber es ist wichtig, genau von dieser Tatsache abzulenken.
Geopolitik: Der Elefant im RaumQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Manfred Segerer

Von Dagmar Henn

Zu Wladimir Putins 70. Geburtstag überschlug sich die deutsche Presselandschaft wieder mit Meldungen über den „Kremlchef“ (FAZ), der mit „Lügen, Täuschen und Drohungen“ (Focus) zu handeln gewohnt sei und jetzt vor einem „Kontrollverlust“ (Zeit) stehe. Das ist die Geschichte, die seit Jahren verkauft wird: ein Alleinherrscher, dessen geistige Gesundheit fraglich ist und dessen Handlungen Rätsel aufgeben. Besonders gerne wird dann noch finster „KGB“ geraunt.

Sonderlich glaubwürdig schienen mir diese Geschichten nie. Das hat mehrere Gründe. Zum einen weiß ich vielleicht etwas mehr über Nachrichtendienste als die Durchschnittsbevölkerung, zum anderen kenne ich die Abläufe innerhalb kommunistischer Parteien, und zum dritten ist die Vorstellung des „Alleinherrschers“ eine absolute historische Fiktion, die es nie gegeben hat und auch nie geben wird.

Aber betrachten wir die Punkte einmal einzeln. Mein Vater war Jurist und verbrachte sein gesamtes Arbeitsleben beim BND, und ich habe im Lauf der Jahre doch ein relativ klares Bild erhalten, wie solche Strukturen funktionieren (auch wenn er nie im operativen Bereich tätig war).

Der erste Punkt, der von der öffentlichen Wahrnehmung abweicht, ist, dass es sich um höchst rationale Organisationen handelt. Sofern man einmal die Frage eines „tiefen Staates“ beiseite lässt, erfüllen sie zwei Zwecke. Zum einen sollen sie die Informationen gewinnen, die erforderlich sind, um die Lage so realistisch wie möglich einschätzen zu können, und zum anderen werden sie unter Umständen damit beauftragt, die auf Grundlage dieser Einschätzungen getroffenen politischen Entscheidungen umzusetzen. Die Entscheidung selbst wird aber außerhalb dieses Apparats getroffen.

So sehr das öffentliche Bild von Abenteuergeschichten geprägt ist, aus denen dann so etwas wie „Lügen, Täuschung und Drohungen“ gesogen wird (da sieht man regelrecht die klassischen Schurken aus den James-Bond-Filmen), so sehr dominiert in Wirklichkeit die Verarbeitung von Information. Das Ziel eines Auslandsgeheimdienstes ist, eine realistische Grundlage für außenpolitische Entscheidungen zu liefern. Die selbst wiederum letztlich immer rationalen Interessen folgen, gleich wie oft die Bundestrampolinspringerin von Werten redet.

Weil das gewünschte Ergebnis ein rationales ist, ist das auch Voraussetzung an das Personal. Selbst die berüchtigten und berühmten Putsche der CIA waren kein Privatvergnügen irgendwelcher finsterer Verschwörer, sondern folgten der äußerst rationalen Vorgabe, etwa die Kontrolle über bestimmte Rohstoffe oder geopolitisch wichtige Standorte zu erreichen oder zu halten. Das, was das äußere Bild dominiert, ist nur das gelegentliche Mittel zum Zweck; da aber die Ausführenden nicht die Entscheider sind, ist der Charakter, der ihnen zugeschrieben wird, reine Projektion. Andere als nüchterne Menschen sind nicht zu gebrauchen.

Der zweite Punkt, die Abläufe in kommunistischen Parteien, ist deshalb wichtig, weil es da eine kulturelle Prägung gibt. Schließlich war das über die 70 Jahre der Sowjetunion hinweg der Kern des politischen Prozesses, und bis heute ist Russland von der Oberflächlichkeit westlicher Politik relativ weit entfernt.

Dieter Süverkrüp hat in den 1960ern ein Lied geschrieben, das alle Stereotype, die bezogen auf Kommunisten im Westen herrschen, ziemlich gut zusammenfasst. Frühstückt mit Wodka, frisst um zehn das erste Kind und diskutiert dann mit Schwester Theresa über den Weltfrieden. Und natürlich ist diese finstere Verschwörergestalt ein einsamer Wolf …

In Wirklichkeit sind kommunistische Parteien bis zum Exzess demokratisch. Das mag Außenstehende verblüffen; aber jedes auch nur ansatzweise wichtige Dokument wird ausführlich diskutiert, auf allen Ebenen, und Entscheidungsprozesse sind dadurch vergleichsweise langsam (Demokratie braucht immer Zeit und Organisation). Während die westliche Fantasie davon ausgeht, dass jemand an der Spitze einfach durchregiert, so wie das der Vorstandsvorsitzende eines Konzerns tun kann, ist genau das in diesen Strukturen nicht möglich. Wer penible Diskussionen darüber, ob eine Einschätzung zutrifft oder nicht, langweilig findet, sollte solchen Organisationen fernbleiben.

Nachdem ich auch zehn Jahre in der Linkspartei verbracht habe, in ihren Anfangsjahren, als es noch etwas Leben in der Organisation gab, muss ich sagen, an diesem Punkt ist sie eine gewöhnliche bürgerliche Partei. Das heißt, die Entscheidungsmöglichkeiten normaler Mitglieder sind wesentlich geringer. Was aber hingenommen wird, weil die meisten Menschen, die in so eine Partei gehen, gar nicht bereit sind, viel Zeit mit Politik zu verbringen, sondern gar nicht mehr wollen, als sich selbst zu bescheinigen, zu den „Guten“ zu gehören. Und dann gibt es natürlich die unterschiedlichen Karriere-Seilschaften.

Ein Punkt, der kommunistische und bürgerliche Parteien klar unterscheidet, ist, wie ernst die politischen Aussagen gemeint sind. Jeder weiß, dass Wahlkämpfe der parlamentarischen Parteien von Werbeagenturen gestaltet werden, die das umsetzen, was die Meinungsforschungsinstitute als „Verkaufsschlager“ einer jeweiligen Partei identifiziert haben. Was da angepriesen wird, ist keine originär politische Position, und dementsprechend ist das, was dann real umgesetzt wird, nur noch begrenzt mit dem verbunden, was versprochen wurde (und es setzen sich oft Interessen durch, die zuvor überhaupt nicht benannt werden, dank ausgiebiger Lobbyarbeit). Genau an diesem Punkt haben sich die Länder des Westens in den letzten Jahrzehnten immer weiter entdemokratisiert; denn welchen Wert hat die eine demokratische Entscheidung des gewöhnlichen Bürgers, das Kreuz auf dem Stimmzettel noch, wenn die Voraussetzungen eine Fiktion sind?

Wenn man die Dokumente beliebiger kommunistischer Parteien zu beliebiger Zeit betrachtet, gleich an welchem Ort der Welt, stellt man fest, dass sie immer von einer globalen Analyse abwärts gehen. Wie ist die Lage auf der Welt? Welche Interessen stehen sich gegenüber? Von außen betrachtet wirkt erst einmal die Begrifflichkeit fremd, wenn von Imperialismus und von Klassen die Rede ist; aber das sind schlicht die eingeführten Begriffe, um Gruppen zu benennen, die grundlegende ökonomische Interessen miteinander teilen.

Sprich, die finsteren Verschwörer beschäftigen sich zuallererst damit, ein möglichst genaues Bild der gegenwärtigen Wirklichkeit zu erstellen, um dann auf dieser Grundlage zu den richtigen politischen Entscheidungen zu kommen (richtig selbstverständlich, wie bei allen politischen Akteuren, für die eigenen Ziele). Was, bezogen auf das heutige Deutschland, beispielsweise heißt, die Entwicklung der Energiekosten wie die Inflation als einen Angriff auf die Lage der Arbeiterklasse zu benennen und daraus abzuleiten, dass deren Abwehr erforderlich ist. Oder auf globaler Ebene zu betrachten, wie es sich mit den Versuchen verhält, das System kolonialer Abhängigkeiten zu sprengen, die seit Entstehen kommunistischer Organisationen eines der wichtigsten Ziele darstellen, und anhand dessen zu identifizieren, welche Länder Bündnispartner und welche Gegner sind.

Ich sage das jetzt nur, um begreiflich zu machen, wo das Übersetzungsproblem liegt. Das Interessante an Putins Reden ist nämlich, dass sie genau so gemeint sind, wie sie dastehen. Also nicht Werbeinteressen folgen, nicht darauf abzielen, dem Publikum ein angenehmes, aber falsches Bild zu vermitteln, sondern, wie vor allem bei der Rede zu den Referenden zu merken war, ganz klassisch von einer Analyse der globalen Situation ausgehen (selbst wenn diese Analyse erst im hinteren Teil der Rede auftaucht) und alles weitere daraus abgeleitet wird.

Man könnte das vielleicht damit vergleichen, dass ein streng protestantisch aufgewachsener Atheist immer noch bestimmte Elemente der reichlich genossenen Sonntagspredigten aufgreifen und wiedergeben wird. Die Prägung durch die Art der Kommunikation bleibt. Auch die durch eine bestimmte Art der Verantwortlichkeit; individuelle Höhenflüge wie der einer Annalena Baerbock („Gleich, was meine Wähler denken“) sind in kommunistischen Parteien undenkbar, denn das Gegenüber sind nicht Wähler, sondern Mitglieder, und die fordern Rechenschaft.

Dieses Muster politischen Handelns ist spätestens seit 1989 im Westen weitgehend unbekannt. Also lesen die Journalisten diese Reden, als handele es sich um die Reden westlicher Politiker, die immer die Frage aufwerfen: „Was meint er wirklich?“ Dass globale Politik nicht für irgendwelche Werte gemacht wird, sondern immer die Umsetzung bestimmter Interessen ist, dürfte selbst bei den Vertretern westlicher Medien bekannt sein. Wo sie aber völlig die Orientierung verlieren, ist bei der Bewertung der gesagten und der nicht gesagten Teile. Hinter den Aussagen eines Joe Biden oder einer Frau Baerbock steht ebenso sehr ein analytischer Apparat, der Interessen identifiziert; aber ausgesprochen werden davon nur Bruchstücke. Auch die Verkäufer der Wertesuada wissen, dass es bei dem Putsch in Bolivien um die Lithiumvorkommen ging und nicht darum, einen Wahlbetrug zu ahnden; aber wenn ihnen gegenüber jemand auftritt und offen von den Lithiumvorkommen redet, erwarten sie, dass dahinter noch weitere Absichten stehen müssen.

Man könnte fast sagen, dass ist ein Problem interkultureller Kommunikation, wenn nicht die Fehldeutung selbst von Interessen bestimmt wäre. So, wie dem Publikum in Westeuropa im Jahr 2014 die Bilder von Polizisten auf dem Maidan gezeigt wurden, mit Helm und Schild, und jeder Westeuropäer sich dieses Bild um die restliche Ausrüstung ergänzte, die bei Demonstrationen üblich ist, vom Schlagstock übers Pfefferspray bis zur Pistole. Genau an diesem Punkt unterschieden sich aber Wahrnehmung und Wirklichkeit, weil genau jene Ausrüstung nicht mit im Spiel war, und der rechtliche Rahmen, unter dem die damalige ukrainische Polizei handelte, sich völlig von dem etwa der deutschen unterschied.

Die Fantasie des Alleinherrschers übergeht die Tatsache, dass jede Form von Herrschaft einen Apparat benötigt, der mögliche Vorgaben umsetzt. Selbst der verrückteste römische Kaiser musste sich mindestens der Loyalität der Prätorianergarde sicher sein, und es werden sich kaum Beispiele finden lassen, bei denen nicht die Interessen mindestens einer größeren gesellschaftlichen Gruppe umgesetzt wurden. Die wichtigste Voraussetzung jeder Form von Herrschaft ist die Kooperation der Beherrschten. Wie tragfähig diese ist, ist letztlich immer eine Frage der Interessen. Werden sie zu sehr verletzt oder gar völlig negiert, wird jede Art der Macht, selbst die gewaltsamste, brüchig (was einer der Gründe ist, warum sich in die Kommunikation der deutschen Regierung, die sichtbar und sehr grundsätzlich gegen die Interessen der deutschen Bevölkerung handelt, immer wieder Töne von Panik einschleichen, Stichwort „Delegitimierung“).

Dass die russische politische Kommunikation, die im Vergleich zur westlichen extrem offen ist, ständig mit der Unterstellung unbenannter Absichten versehen werden muss, hat aber noch einen weiteren Grund. Es ist schließlich mitnichten so, dass im Westen geopolitische Ziele nicht geäußert werden. Man kann die Debatten darüber bei den entsprechenden Denkfabriken finden; da werden wirtschaftliche Interessen und machtpolitische Ziele durchaus offen benannt. Aber diese Debatten werden nur in kleinen Häppchen der breiten Öffentlichkeit verabreicht, beispielsweise, wenn davon die Rede ist, China „einhegen“ zu müssen. Das Motiv dafür wird allerdings verkleidet. Das allgemeine Publikum bekommt eine Werteerzählung vorgesetzt, während es in der echten Debatte um Absatzmärkte, Rohstoffe und koloniale Kontrolle geht.

Wenn nun die westlichen Spielregeln insofern gebrochen werden, dass diese eigentlich entscheidenden geopolitischen Überlegungen offen auf den Tisch gelegt werden, ist das natürlich ein Problem, weil das für jeden halbwegs intelligenten Beobachter die Frage aufwirft, was denn die Wahrheit hinter der Werteerzählung ist. Solange sich solche Zweifel auf eine kleinere Gruppe beschränken, ist das unproblematisch. Aber sie dürfen auf keinen Fall weiter um sich greifen.

Also bleibt letztlich gar keine andere Möglichkeit, als die „offene“ Version mit einer Aura finsterer Verschwörung und verborgener Absichten zu umgeben, um die eigene, „verdeckte“ Variante abzusichern. Gerade weil das westliche Publikum weiter getäuscht werden muss und die wirklichen Ziele beispielsweise der Klimapolitik nicht benannt werden dürfen, muss jede politische Aussage, die Ziele offen benennt, zur Täuschung erklärt werden.

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