Israel und Palästina: Siedler Kolonialismus und Wissenschaftsfreiheit an Universitäten, von Ilan Pappe

Ilan Pappé: Israel and Palestine: Settler colonialism and academic freedom | BDS-Kampagne

(Der deutsche Text folgt dem englischsprachigen Original.) 28/02/2017 Prof. Ilan Pappé, University of Exeter, UK In the last ten years, an old scholarly paradigm that was used for the historical analysis of European settler movements in various parts of the worlds, and in different periods, resurfaced in the USA and Australia as part of the new wish to understand the modern histories of these countries.

Dank an Doris Ghannam von BDS-Berlin für die Übersetzung in deutsch.

Israel und Palästina: Siedlerkolonialismus und Wissenschaftsfreiheit an Universitäten

In den letzten zehn Jahren ist ein altes wissenschaftliches Paradigma, welches für die historische Analyse europäischer Siedlerbewegungen in verschiedenen Teilen der Welt Anwendung fand, in den USA und Australien erneut aufgekommen, nun verbunden mit dem Wunsch die moderne Geschichte dieser Länder zu verstehen. Führende Historiker*innen aus aller Welt redefinierten das Paradigma des Siedlerkolonialismus, um alle Orte miteinzuschließen, an denen europäische Immigrant*innen nicht-europäische Länder kolonialisierten –  zunächst mit Hilfe kolonialer Imperien, später dann im Kampf gegen jene Imperien und die einheimische indigene Bevölkerung.

Alle Länder in Nord-, Zentral- und Südamerika sind Siedlerkolonien. Ebenso wie Australien, Neuseeland, Algerien, Zimbabwe und Südafrika. Damit ist gemeint, dass sie entweder geschichtlich auf Siedlerkolonialismus gründen oder bis heute in einen Kampf gegen die indigene Bevölkerung verstrickt sind.

In vielen Fällen vernichtete die Siedlerbevölkerung die indigene Bevölkerung (etwa in denen  Amerikas und Australiens), an anderen Orten wie Algerien kam es zu einem langen und blutigen Befreiungskrieg während die Siedlerbewegung in Südafrika und Zimbabwe ein Apartheitssystem errichtete, die von Akten ethnischer Säuberung begleitet wurde.

Die Geschichten aller dieser Länder – einschließlich der unangenehmen Kapitel – werden in den akademischen Institutionen der Welt ohne Beschränkungen analysiert. Dies hat in einem erheblichen Maße zu einem Prozess der Versöhnung und sozialen Harmonie beigetragen. Die siedlerkoloniale Vergangenheit oder Gegenwart eines Landes darzustellen, bedeutet nicht seine Legitimität zu untergraben und ist auch kein ideologischer Feldzug. Dies darf innerhalb der akademischen Welt als Allgemeinplatz gelten.

Im Rahmen dieser aufregenden neuen wissenschaftlichen Entwicklung wollten nun nicht wenige Wissenschaftler*innen, darunter auch solche aus Israel, genauer untersuchen, ob sich dieses akademische Paradigma auch auf Israel und Palästina anwenden ließe. Das „Journal of Settler Colonial Studies“ widmete diesem Thema zwei Extrabände, auch das angesehene Journal für post-koloniale Studien „Interventions“ wird  eine Sonderausgabe zu diesem Thema veröffentlichen. Doktorand*innen in der ganzen Welt, auch in Deutschland, arbeiten daran, jenes Paradigma auf den Fall Israel und Palästina anzuwenden: dies wirft Fragen nicht nur bezüglich der Vergangenheit Israels auf, sondern auch bezüglich des Kampfes und der Strategie der Palästinenser*innen in der Gegenwart und Zukunft. Wohl noch wichtiger: diese Analyse eröffnet neue Möglichkeiten für Frieden und Versöhnung nach Jahrzehnten gescheiterter Friedensprozesse (genau dazu ist die Wissenschaft da).

Die Anwendung dieses Paradigmas löste einige Bedenken aus, die erfolgreich beantwortet werden konnten. An der Universität Berkley (USA) wurden die Bedenken, die durch einen Kurs ausgelöst wurden, der sich mit Siedlerkolonialismus in Israel/Palästina befasste, gründlich untersucht und die Universität kam zu dem Ergebnis, dass es sich um eine valide akademische Fragestellung handelte. Ähnliche Bedenken wurden laut als an der Universität Exeter (Großbritannien) eine Konferenz zum Siedlerkolonialismus in Palästina abgehalten wurde. In einem äußerst fruchtbaren Dialog mit der jüdischen Gemeinschaft Großbritanniens konnte aufgezeigt werden, dass diese Thematik nicht nur das legitime Thema einer Konferenz sein kann, sondern darüber hinaus auch die Forschung über Israel und Palästina bereichert.

Akademiker*innen zum Schweigen zu bringen, die über Siedlerkolonialismus oder ethnische Säuberung in Israel und Palästina lehren oder diese Themen in ihrer Forschung weiter vertiefen, stellt eine schwere Verletzung akademischer Freiheiten und der Meinungsfreiheit dar. Es delegitimiert die große Mehrheit der Akademiker*innen weltweit, die heute zum Thema Israel und Palästina arbeiten und von denen viele diese Paradigmen anwenden um die Realitäten der Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen. Jemanden in Deutschland zu feuern oder seine Anstellung auslaufen zu lassen aufgrund einer solchen intellektuellen Neugierde, stellt eine Beleidigung gegenüber der Vergangenheit und den erfolgreichen Bemühungen um den Aufbau einer freien und demokratischen Gesellschaft dort dar.

Bedauerlicherweise geschieht ebendies gegenwärtig in Deutschland. Ich möchte hier besonders die Fälle Eleonora Roldán Mendivíls und Farid Esacks erwähnen.

Eleonora Roldán Mendivíl ist eine junge Akademikerin, die einen Kurs namens „Rassismus im Kapitalismus“ am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlins (FU) unterrichtet. Nachdem obskure rechte, zionistische Blogger behauptet hatten, dass ihre Bewertung Israels als koloniales Projekt und Apartheidsstaat antisemitische Aussagen darstellen und diese Behauptungen von der rechtspopulistischen Jerusalem Post und einer pro-israelischen Studierendengruppe an der Freien Universität aufgenommen wurden, wurde ihre Weiterbeschäftigung am Otto-Suhr-Institut unterbunden. Es ist relevant an dieser Stelle zu erwähnen, dass sie ihre Aussagen über Israel nicht in ihrem Kurs, sondern in einem aktivistischen Umfeld äußerte. Ihre akademische Arbeit wird momentan unter Bezugnahme auf die erhobenen Behauptungen evaluiert. Mit allem gebotenen Respekt gegenüber unserem Kollegen Prof. Dr. Benz der diese Evaluation leitet, möchte ich der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass sie im oben skizzierten wissenschaftlichen Sinne durchgeführt wird. Soweit meine Expertise in diesem Zusammenhang tangiert ist, trage ich gerne zu einer entsprechenden Bewertung bei.

Prof. Farid Esack ist ein muslimischer Befreiungstheologe, früherer Anti-Apartheids-Kämpfer und Vorsitzender von BDS Südafrika. Bis vor kurzem war er Gastprofessor an der „Akademie der Weltreligionen“ der Universität Hamburg. Auch er wurde als Antisemit, Terrorunterstützer und Holocaustleugner verleumdet. Die deutsche Presse sprach sehr gerne über Herrn Esack –und wiederholte jegliche kontrafaktische Anschuldigung, die auf ihn abgefeuert wurde – war aber, bis auf sehr wenige Ausnahmen, nicht bereit direkt mit ihm zu kommunizieren. Hamburgs größte Oppositionspartei, CDU, ist im Begriff im Landesparlament, der Bürgerschaft, eine Resolution vorzuschlagen, die – sollte sie eine Mehrheit finden – BDS als antisemitisch erklären würde.

Die Akademie der Weltreligionen hat sich mittlerweile davon distanziert, Esack die Position als Gastprofessor angeboten zu haben; trotz seines von ihnen selbst erkannten brillanten akademischen Renommees und der Tatsache, dass er nichts getan hätte, was dazu geeignet wäre dieses in irgendeiner Art und Weise zu schmälern. Was die Angreifer*innen unerträglich finden, ist, dass Prof. Esack wiederholt das Verhalten des Staates Israel mit dem früheren Apartheidsstaat Südafrikas verglichen hat sowie mit der Definition der Apartheid laut internationalem Recht. Die daraus von ihm abgeleitete Konsequenz ist sein Engagement in der von der palästinensischen Zivilgesellschaft initiierten Boykottbewegung namens BDS. BDS genießt in Südafrika breite Unterstützung in der Bevölkerung und Politik.

Wieder scheint es so, dass grundlegende wissenschaftliche Prinzipien über Bord geworfen werden, sobald Antisemitismus-Vorwürfe umher geschleudert werden: anscheinend muss gegenüber der deutschen Öffentlichkeit und den deutschen Medien verdeutlicht werden, dass es sich nicht um eine religiöse Frage mit unantastbaren Doktrinen handelt, sondern vielmehr um die Frage, ob es sich bei Israel um einen Apartheidsstaat handelt und/oder – wie ich selber in einigen neueren Publikationen festgestellt habe – um einen Siedlerkolonialstaat, der unter internationalem Recht zahlreiche Verbrechen begeht, darunter das Verbrechen der ethnischen Säuberung; eine Fragestellung, die sehr wohl innerhalb eines wissenschaftlichen Rahmens und einer öffentlichen Debatte diskutiert und beschlossen werden kann.

Die Palästinenser*innen werden durch diesen hasserfüllten Diskurs zur Unsichtbarkeit verdammt: Unter dem Deckmantel der Antisemitismusvorwürfe werden erfolgreich die Realität vor Ort und die 70jährige Leidensgeschichte erfolgreich beerdigt – jedenfalls solange wir es den Agitatoren gestatten ihren Willen durchzusetzen.

Daher rufe ich die deutsche Öffentlichkeit und die deutschen Medien dazu auf, Einzelpersonen, die zionistische Glaubenssysteme herausfordern, fair zu behandeln, und dies nicht nur, aber ganz besonders in der akademischen Welt. Dies umfasst den Raum ihre Ansichten ausdrücken zu dürfen und sich an einer öffentlichen Debatte zu beteiligen ohne Angst haben zu müssen dafür verleumdet und herabgewürdigt zu werden. Debatten sind kein Hindernis für wissenschaftlichen Fortschritt, sondern vielmehr eine seiner wichtigsten Bestandteile.

Ich möchte hiermit meine herzlich empfundene Solidarität mit den betroffenen Kolleg*innen – Eleonora Roldán Mendivíl und Prof. Farid Esack – ausdrücken sowie mit allen Menschen, die in ähnlicher Weise attackiert werden. Ich beabsichtige dem weiteren Verlauf der Ereignisse in Deutschland aufmerksam zu folgen und hoffe, dass wissenschaftlicher Forschergeist und die Vernunft obsiegen werden.

 

Ilan Pappé

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