Leserbrief von Norman Paech an den F.A.Z. Redakteur Claudius Seidl wegen der Hetze gegen die Documenta

 

Ich danke Norman Paech sehr für seinen wichtigenLeserbrief an den F.A.Z. Redakteur Claudius Seidl, den ich als mehr als erzürnte F.A.Z. Abonnentin voll unterstreiche und sehr gern mit Genehmigung von Norman Paech veröffentliche.

Evelyn Hecht-Galinski

Prof. Norman Paech hat an den FAZ-Redakteur Claudius Seidl wegen des Hetze gegen die Documenta einen nicht veröffentlichten Leserbrief geschrieben, den ich mit dem Anschreiben an Euch weiterleite:
„mancher mag der Auseinandersetzung um den „Antisemitismus“ der Documenta 15 überdrüssig sein. Die unablässige und sich immer noch steigernde Kampagne gegen die ganze Ausstellung, bei der der „Antisemitismus“ als Hebel der Diskreditierung benutzt wird, sollte allerdings doch noch unsere Aufmerksamkeit erhalten. Denn die sich jetzt auf einige Drucke zweier palästinensischer Künstler konzentrierende Kampagne hat offensichtlich den Zweck, eine öffentliche Diskussion über die menschenunwürdigen Zustände unter Besatzung und Apartheid zu verhindern. Ich habe deshalb Anfang des Monats Claudius Seidl von der FAZ eine Kritik seines Artikels mit den neuen Vorwürfen geschrieben. Er hat – erwartungsgemäß – nicht geantwortet, aber unmittelbar nach meinem Brief einen weiteren Kommentar geschrieben, der sich wie eine negative Antwort auf mein Schreiben liest. Ich füge meinen Brief als Datei und Seidls Kommentar als link bei. Wer mag, kann beides lesen.https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/documenta-antisemitismus-experten-protestieren-18216303.html“ Norman Paech
 
 
Prof. Dr. Norman Paech Neubertstr. 24 22087 Hamburg npaech@tonline.de



Herrn
Claudius Seidl
Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH
Hellerhofstr. 24
60327 Frankfurt a.M.


Hamburg, d. 1. August 2022


Sehr geehrter Herr Seidl,

am 29. Juli dieses Jahres schrieben Sie in der FAZ unter dem Titel „Sind Sie Blöd oder
böse“?: „Das Ausmaß an Inkompetenz und Verwirrtheit ist überwältigend und man
fragt sich: Wo haben die Leitung und die Öffentlichkeitsabteilung der Documenta
eigentlich die vergangenen Monate verbracht ? Und was tun diese Leute im
Hauptberuf? Anlass war die neue „Entdeckung“ einiger Zeichnungen mit angeblich
antisemitischer Ikonographie. Fast alle Medien schäumen. Man könnte Ihre Frage aber
durchaus umdrehen und sie Ihnen und ihrer Redaktion selbst stellen. Seit Beginn der
Documenta15 benutzen man muss es schon so sagen Sie und die Redaktion in
wechselnden Rollen den Antisemitismusvorwurf, um gegen die ganze Documenta, ihre
Konzeption, ihre Kuratoren und Leitung Front zumachen.

Nun geht es um zwei palästinensische Künstler, Nadji Salim AlAli und Burhan Karkoutli,
deren Karikaturen und Cartoons weltweit bekannt sind und auch schon in der
Bundesrepublik gezeigt wurden. Ihr Kollege Joseph Croitoru hat bereits in der Berliner
Zeitung die Unsinnigkeit des AntisemitismusVorwurfs gegenüber diesen beiden
Künstlern nachgewiesen, in dem er auf die gesellschaftliche Situation der achtziger Jahre
in Palästina und ihren Reflex in dem Werk der Künstler hinwies eine
Selbstverständlichkeit jeder Kunstbetrachtung. Sie und Ihre Kollegen aber weigern sich
hartnäckig, diese Realität der täglichen Gewalt, Unterdrückung, Zerstörung und
Demütigung, die in den Werken zum Ausdruck kommt, zur Kenntnis zu nehmen.
Erscheint ein Davidstern oder eine krumme Nase auf einem Bild, wittern Sie nur
Antisemitismus, ohne nach dem Zusammenhang zu fragen. Sie hoffen damit offenbar,
den Hintergrund dieser Kunst, ihre Entstehungsbedingungen, d.h. den permanenten
Krieg in Palästina, aus der Diskussion zu halten. Das ist Ihnen und Ihren Kollegen bisher
weitgehend gelungen.

Sie scheuen sich nicht, die Zeichnung, auf der israelische Soldat palästinensische Kinder
bedrohen, mit der „uralten Geschichte von den kindermordenden Juden“ zu assoziieren,
als Nachweis des Antisemitismus. Ich frage mich, wie ist es möglich, dass eine Zeitung
mit einem hohen Anspruch auf journalistische Sorgfalt die Realität mit einem derart
abgedroschenen Verschwörungsmythos zu verdrehen versucht. Vor genau 10 Jahren hat
die israelische Bürgerrechtsgruppe ehemaliger Soldaten „Breaking the Silence“ in einem
Bericht geschildert, wie sie Kinder und Jugendliche schlugen, verletzten und
erniedrigten. Der SPIEGEL berichtete ausführlich und meinte: „Die Aussagen sollen
künftige Wehrpflichtige aufrütteln.“ (SPIEGEL v. 27. 8. 2012) Sie aber berührt das gar
nicht. Die zahlreichen Fotos sind weit grausamer als die Zeichnung von Karkoutli. Im
jüngsten UN-Jahresbericht über Kinder und bewaffnete Konflikte fordert UNO-
Generalsekretär Antonio Guterres: „Israel sollte auf eine schwarze Liste der Vereinten
Nationen gesetzt werden, wenn sich die Gewalt gegen palästinensische Kinder in diesem
Jahr wiederholt … Ich bin schockiert über die Anzahl der Kinder, die von den israelischen
Streitkräften während der Feindseligkeiten, bei Luftangriffen auf dicht besiedelte
Gebiete und durch den Einsatz von scharfer Munition bei Einsätzen getötet und
verstümmelt wurden“. 2021 wurden 78 palästinensische Kinder getötet und weitere
982 verstümmelt. Und Sie nehmen das alles nicht zur Kenntnis.
2004, zur Beisetzung von Karkoutli in Bonn – er lebte seit dreißig Jahren in Deutschland
– zitierte Georg Baltissen den Künstler mit den Worten: „Mein Volk erträgt die
israelischen Bomben seit 40 Jahren. Und hier können sie nicht einmal ein Bild von uns
für ein paar Tage ertragen.“ Der Anlass war eine Ausstellung 1986 in Recklinghausen,
die ihr den Titel „Terror“ und ihm die Beschuldigung des Antisemitismus einbrachte.
Beide Künstler im Exil haben eine lange Erfahrung der Diskreditierung und
Verdächtigung ihrer Kunst.

Auch das gehört, meine ich, zur journalistischen Sorgfalt, darüber zu berichten, dass die
betroffenen Künstlerinnen und Künstler beklagen, die Angriffe von Medien und
Politikern hätten „ein Klima der Feindseligkeit und des Rassismus gegenüber den
Künstlern geschaffen, was dazu führte, dass sie weiteren Angriffen ausgesetzt waren“
(HNA v. 29. 7. 2022). Ihre Redaktion berichtet zwar wiederholt über den Rückzug der
weltbekannten Hito Steyerl von der Documenta, der Rückzug des indischen
Künstlerkollektivs Party Office wegen handfester Angriffe in Kassel und rassistischer
Aggressionen ist Ihnen aber keine Erwähnung wert. Der Kurator des Kollektivs Joey
Cannizzaro verließ Kassel mit den Worten: „Ich hätte nie gedacht, dass ich abreise mit
einem solchen Maß an Trauma, Abscheu, Entrüstung und Angst um meine Freunde und
Mitarbeiter, die hier bleiben“ (HNA v. 10. 7. 2022). Die Documenta fifteen sei ein
Albtraum gewesen. „Seitdem ich hier bin, werde ich täglich in den Straßen von
transphobischen Männern belästigt und verspottet“. Statt ihn vor den Angreifern zu
schützen, musste er erleben, dass ihm die Polizei Handschellen anlegte und erst nach
einer halben Stunde freiließ. Cannizzaro; “Wir sind in Kassel in Gefahr. Unsere
psychische Gesundheit ist in Gefahr und ebenso unsere physische Sicherheit.“ Wäre das
nicht Anlass genug, sich Gedanken darüber zu machen, woher diese und zahlreiche
andere Aggressionen gegen Künstlerinnen und Künstler auf der Documenta kommen, ob
nicht die massiven öffentlichen Angriffe aus Medien und Politik gegen die Kunst und
Organisation der Documenta für dieses vergiftete Klima in Kassel mitverantwortlich
sind?

Sie schreiben: „Die Schuld trägt das Konzept – oder das, was sich dafür hält. Ein
Kuratorenkollektiv lädt andere Kollektive ein, irgendetwas mitzubringen…Das Problem
ist nicht, dass das hegemoniale westliche Kunstsystem infrage gestellt wird. Das
Problem ist, dass es ersetzt wird von wohlmeinender Indifferenz.“ Sie haben Recht, es
geht allen Kritikern offensichtlich nicht nur darum, die politischen Bedingungen und
Voraussetzungen palästinensischer Kunstproduktion, ihren täglichen Kampf um
Befreiung und Menschenwürde gegen jüdische Siedler und Armee aus der Ausstellung
fernzuhalten. Sie wollen das gesamte Konzept zu Fall bringen, welches ihnen plötzlich
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ihre koloniale Vergangenheit präsentiert, die bis in die heutige Zeit reicht. Ich nehme an,
dass die internationale Kommission, die die indonesische Kuratorengruppe ausgewählt
hat, sich dieser „Gefahr“ durchaus bewusst war, diese Konfrontation vielleicht sogar
wollte, aber nicht mit der Provinzialität und der immer noch unzureichenden
Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte gerechnet hat.

Das „hegemoniale westliche Kunstsystem“ soll nicht „von wohlmeinender Indifferenz
ersetzt“ werden, wie Sie schreiben. Nein, es soll konfrontiert werden mit einem radikal
anderen Kunstsystem, welches eben nicht auf der hegemonialen Dominanz eines
Jahrhunderte alten Kolonialsystems aufbaut, sondern aus den Kämpfen gegen dieses
System erwächst, die nicht nur in Palästina andauern, sondern von Indonesien bis
Brasilien und Kuba immer noch im Namen von Befreiung und Menschenwürde geführt
werden. Die hiesige Kunstwelt hat das offensichtlich verstanden und wehrt sich gegen
diese Konfrontation. Sie verweigert die Diskussion indem sie die fraglichen
Kunstobjekte entfernt und ein Gremium zur Überprüfung – vulgo Zensur – aller
Kunstwerke beauftragt haben, statt sich der „Provokation“ zu stellen und sich mit den
Künstlerinnen und Künstlern öffentlich auseinanderzusetzen.

Die Documenta 15 hat schweren Schaden erlitten, darin sind wir uns wohl einig. Doch
das geht nicht auf das Konto der Künstlerinnen und Künstler, die unser überkommenes
Kunstverständnis auf so freundliche und einladende Weise herausfordern. Das haben
ihre Kritiker mit ihrer abweisenden und arroganten oft höhnischen Reaktion zu
verantworten. Ich hoffe, dass die neue Leitung der Ausstellung die eingeladenen
Künstlerinnen und Künstler in Zukunft besser schützt und alle Voraussetzungen für eine
offene und kontroverse Diskussion ohne Eingriffe von außen schafft.


Mit freundlichen Grüßen



Norman Paech
 

Norman Paech

Norman Paech ist Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik und der Universität Hamburg i.R.

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