Lügen in Kriegszeiten von Arthur Ponsonby Westend Verlag

 

Hätte es einen aktuelleren Zeitpunkt geben können, für die Neuauflage von „Lügen in Kriegszeiten“? Wohl kaum. Es sind 30 Kapitel voller historischer Hintergründe, die alle Parallelen zur heutigen Zeit aufzeigen. Es ist Erklärung und Warnung zugleich, wie und was zu Kriegen führt und wie sie propagandistisch geführt werden. Ja, „das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit“, mit dieser Aussage von Arthur Posonby ist eigentlich alles gesagt. Es lohnt sich, dass man sich die Zeit nimmt und und die Kapitel liest. Schon die  zehn Grundsätze der Kriegspropaganda lässt aufhorchen und die schreckliche Modernität, der von PonsonbyBeispiel erkennen.

Evelyn Hecht-Galinski

 

 

Lügen in Kriegszeiten

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ – schon im Ersten Weltkrieg zeigte sich das Phänomen, das für uns heute alltäglich geworden ist und welches Arthur Ponsonby mit seinem weltbekannten Ausspruch zusammenfasste. Die Ursprünge all dessen hat Ponsonby akribisch in seinem Buch „Lügen in Kriegszeiten“ aus dem Jahr 1928 untersucht, sowohl am Beispiel seines Heimatlandes Großbritannien als auch den USA, Frankreich, Italien und Deutschland. Ein aufklärerischer und friedenspolitischer Klassiker von erschreckender Aktualität, der nun in einer Neuübersetzung erscheint. Ein Auszug.

Unwahrheiten sind eine anerkannte und extrem nützliche Waffe bei der Kriegsführung und jedes Land setzt sie bewusst ein, um die eigene Bevölkerung zu täuschen, Neutrale anzuziehen und den Feind in die Irre zu führen. Die unwissenden und unschuldigen Massen in jedem Land sind sich zu der Zeit nicht bewusst, dass sie getäuscht werden, und wenn alles vorbei ist, werden die Unwahrheiten nur vereinzelt erkannt und aufgedeckt. Da alles in der Vergangenheit liegt und die Geschichten und Stellungnahmen den gewünschten Effekt bereits erzielt haben, macht sich niemand die Mühe, die Fakten zu untersuchen und die Wahrheit offenzulegen.

Wie wir alle wissen, wird nicht nur in Kriegszeiten gelogen. Der Mensch, so wurde gesagt, ist kein »wahrheitsliebendes Tier«, doch ist seine Gewohnheit zu lügen nicht annähernd so außergewöhnlich wie seine erstaunliche Bereitschaft zu glauben. Tatsächlich ist es die menschliche Leichtgläubigkeit, die Lügen aufblühen lässt. Doch in Kriegszeiten wird die maßgebliche Organisation der Lüge nicht ausreichend anerkannt. Die Täuschung ganzer Völker ist keine Angelegenheit, die auf die leichte Schulter genommen werden kann.

Daher kann im Zeitraum des sogenannten Friedens eine Warnung, die die Menschen in aller Ruhe prüfen können, nützlich sein, dass die Behörden jedes Landes zu dieser Methode greifen, sogar greifen müssen, um sich erstens selbst zu rechtfertigen, indem sie den Feind als reinen Verbrecher darstellen, und um zweitens die Leidenschaft des Volkes hinlänglich zu entfachen, um Rekruten für die Fortsetzung des Kampfes zu gewinnen. Sie können es sich nicht leisten, die Wahrheit zu sagen. In manchen Fällen muss sogar zugegeben werden, dass sie zu dem Zeitpunkt nicht einmal wissen, was die Wahrheit ist.

Der psychologische Faktor im Krieg ist genauso wichtig wie der militärische Faktor. Die Moral der Zivilisten muss, genau wie die der Soldaten, aufrechterhalten werden. Die Kriegsämter, Marine- und Luftfahrtministerien kümmern sich um die militärische Seite. Für die psychologische Seite müssen Abteilungen gebildet werden. Die Menschen dürfen unter keinen Umständen ihren Mut verlieren; daher müssen Siege überhöht und Niederlagen, falls nicht vertuscht, um jeden Preis heruntergespielt werden, und Empörung, Entsetzen und Hass müssen durch »Propaganda« gewissenhaft und fortlaufend in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht werden. […]

Der Einsatz der Waffe der Unwahrheiten ist in einem Land, in dem die Wehrpflicht nicht im Gesetz verankert ist, notwendiger als in Ländern, in denen alle Männer der Nation automatisch in die Armee, die Marine oder die Luftwaffe eingezogen werden. Die Öffentlichkeit kann durch trügerische Scheinideale emotional aufgewühlt werden. Eine Art kollektive Hysterie verbreitet und steigert sich, bis sie schließlich die Überhand über nüchterne Menschen und seriöse Zeitungen gewinnt.

Mit einer Warnung vor Augen ist die Allgemeinheit vielleicht eher auf der Hut, wenn die Kriegswolke das nächste Mal am Horizont erscheint, und weniger geneigt, die Gerüchte, Erklärungen und Behauptungen, die für ihren Konsum verbreitet werden, als Wahrheit zu akzeptieren. Sie sollte sich bewusst machen, dass eine Regierung, die sich dazu entschieden hat, sich auf die gefährliche und schreckliche Unternehmung des Krieges einzulassen, von vornherein eine einseitige Argumentation zur Rechtfertigung ihres Handelns vorlegen muss und es sich nicht leisten kann, dem Volk, gegen das sie zu kämpfen beschlossen hat, in irgendeinem Punkt auch nur das geringste Maß an Recht oder Vernunft zuzugestehen. Tatsachen müssen verdreht, wichtige Sachverhalte verheimlicht und ein Bild muss präsentiert werden, das die unwissenden Menschen durch seine grobe Färbung davon überzeugt, dass ihre Regierung schuldlos, ihre Gründe rechtmäßig und die unbestreitbare Bosheit des Feindes zweifellos bewiesen ist. Ein kurzer Moment des Nachdenkens würde jede vernünftige Person davon überzeugen, dass solch eine offensichtliche Einseitigkeit nicht der Wahrheit entsprechen kann. Aber ein kurzes Nachdenken ist nicht erlaubt; Lügen werden mit großer Schnelligkeit verbreitet. Die gedankenlose Masse nimmt sie an und ihre Aufregung beeinflusst das Übrige. Die Menge an Unsinn und Schwindel, die in Kriegszeiten in allen Ländern unter dem Namen des Patriotismus verbreitet wird, reicht aus, um anständige Menschen erröten zu lassen, wenn sie nachträglich ihre Illusionen verlieren. […]

Möglicherweise hat nichts die öffentliche Meinung stärker beeindruckt – und das gilt für sämtliche Länder – als die Unterstützung der Propaganda durch Intellektuelle und literarische Berühmtheiten. Sie verstanden es besser als die Staatsmänner, den schwierigen Stoff der Unwahrheit mit literarisch wertvollen Formulierungen und wortgewandten Äußerungen zu bedecken. Auch ohne den Schatten eines Beweises konnten sie mithilfe ihrer literarischen Fähigkeiten dieser oder jener Lüge einen Stempel unzweifelhafter Glaubwürdigkeit aufdrücken oder sie beiläufig als eine anerkannte Tatsache ausgeben, manchmal durch Ausdrücke falscher Unvoreingenommenheit, ein anderes Mal durch rhetorische Empörung. Der engstirnigste Patriotismus konnte edel erscheinen, die widerlichsten Anschuldigungen konnten als entrüsteter Ausbruch von Menschlichkeit dargestellt werden und die bösartigsten und rachsüchtigsten Ziele konnten fälschlicherweise als Idealismus getarnt werden. Alles war legitim, was die Soldaten zum Weiterkämpfen bewegen konnte. […]

In diesem Nebel der Unwahrheiten, ein großer Teil davon unentdeckt und als Wahrheit anerkannt, werden Kriege geführt. Der Nebel entsteht aus Angst und wird durch Panik genährt. Jeder Versuch, auch nur die unwahrscheinlichste Geschichte anzuzweifeln oder abzustreiten, muss sofort als unpatriotisch, wenn nicht gar als verräterisch verurteilt werden. Dadurch hat die rasche Verbreitung von Lügen freie Bahn. Würden sie nur dazu dienen, den Feind im Kriegsspiel zu täuschen, wären sie nicht die Mühe wert, sich darüber Gedanken zu machen. Da aber die meisten von ihnen darauf abzielen, Empörung zu entfachen und die Blüte der Jugend des Landes darauf vorzubereiten, das höchste Opfer zu bringen, werden sie zu einer ernsten Angelegenheit. Daher kann ihre Enthüllung auch nach dem Kampf noch nützlich sein, um den Betrug, die Heuchelei und den Schwindel aufzudecken, auf denen jeder Krieg beruht, sowie die unverhohlenen und geschmacklosen Mittel, die seit so langer Zeit angewandt werden, um das arme, unwissende Volk daran zu hindern, den wahren Sinn des Krieges zu erkennen.

Arthur Ponsonby

Arthur PonsonbyArthur Ponsonby, 1. Baron Ponsonby of Shulbrede (geb.1871; gest.1946) war ein britischer Staatsbeamter, Politiker, Schriftsteller und Pazifist. Zunächst war Ponsonby Mitglied der Liberal Party, für die er 1908 in das Unterhaus einzog. 1914 gründete Ponsonby mit anderen die „Union of Democratic Control“ (UDC). Ziel dieser Gruppe war es, den vermeintlichen militärischen Einfluss auf die britische Regierung zurückzudrängen und sich für den Frieden einzusetzen. Die UDC war insbesondere gegen die Zensur und die Einführung der Wehrpflicht anstelle des im Vereinigten Königreich üblichen Freiwilligensystems. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wechselte Ponsonby zur Labour Party (die er 1940 wieder verließ) und war seit 1922 wieder Mitglied des Unterhauses. Er war von 1934 bis 1937 Vorsitzender der „War Resisters International“.

Bücher von Arthur Ponsonby

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