Polens Produkt inmitten seines Wahljahres 2023: Reine Russophobie Eine Analyse von Elem Chintsky

Polens Produkt inmitten seines Wahljahres 2023: Reine Russophobie

Die Panzer sind nun auf dem Weg, die Tische gedeckt und die Soldatentrachten gebügelt. Außerdem befindet sich Polen auch noch im Wahljahr. Eine wundervolle Zeit, die Russophobie einen Gang höher zu schalten. Aber es geht dabei auch um die Zukunft der EU und der Ukraine.

 

Polens Produkt inmitten seines Wahljahres 2023: Reine Russophobie

Eine Analyse von Elem Chintsky

Die Panzer sind nun auf dem Weg, die Tische gedeckt und die Soldatentrachten gebügelt. Außerdem befindet sich Polen auch noch im Wahljahr. Eine wundervolle Zeit, die Russophobie einen Gang höher zu schalten. Aber es geht dabei auch um die Zukunft der EU und der Ukraine.
Polens Produkt inmitten seines Wahljahres 2023: Reine RussophobieQuelle: www.globallookpress.com © Tomasz Gzell/Polska Agencja Prasowa

Eine Analyse von Elem Chintsky

Für die polnische Republik begann das Jahr energisch und zielorientiert. Neben dem konstanten Diplomatie-Terror gegenüber Berlin seitens der Warschauer Führung waren auch die Medien erpicht darauf, den Grundtenor für das gesamte neue Jahr früh und klar zu setzen: Russlandhass, wohin man nur schaut, und Projektion von „Kollaboration mit dem russischen Unmenschen“ bei politischen Gegnern und Mitstreitern im In- und Ausland.

Die hochfrequenten Vorwürfe der polnischen Regierung, dass sich Deutschland insgeheim bereits auf eine energiepolitische „Zeit danach“ mit Russland einstellt und die Ukraine bisher nur halbherzig unterstützte, trug dazu bei, dass der zögerliche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seinen Berliner Koalitionspartnern und den US-Hauptinhabern in der Causa „deutsche Panzer für den Frieden“ endlich stattgab.

Diese Art der vorwurfsvollen Warschauer Außenpolitik gegenüber dem westlichen Nachbarn wird sich so schnell nicht ändern, da noch ein anderes Projekt im Raum steht: die Reparationsforderungen von zurzeit 1,3 Billionen Euro für den deutschen Schaden an Polen während der Okkupation im Zweiten Weltkrieg. Es sei denn, die PiS verliert die relative Mehrheit im polnischen Parlament bei den Herbstwahlen in diesem Jahr. Da wären wir auch schon bei der Innenpolitik.

Die PiS-Regierung steht einem oppositionellen Flickenteppich gegenüber: Es gibt zum einen die Koalicja Obywatelska („Bürger-Koalition“, KO), mit der liberalkonservativen „Bürgerplattform“ (PO) von Donald Tusk an der Spitze, die linksliberal-zentristischen „Die Moderne“ und „Initiative Polen“ sowie die polnischen „Grünen“. Zum anderen ist die Koalicja Polska („Polen-Koalition“) aktiv und vereint die „Polnische Bauernpartei“ (PSL) als Anführerin sowie die viel kleinere „Union Europäischer Demokraten“ (UED), das „Zentrum für Polen“ (CdP) und „Kukiz’15“, die man alle von zentristisch bis sehr konservativ verorten kann, die aber mit einem ideologischen Missfallen gegenüber der PiS verbleiben.

Der Grund für die beiden „Koalitionskollektive“ ist, dass sich die konservative PSL geweigert hat, mit den progressiven Parteien, welche die PO bei sich toleriert, in einem Block zu sein.

Noch ist nicht ganz klar, wie die letzten Positionsverschiebungen vorgenommen werden, aber bevor der offizielle Wahlkampf beginnt, müssen alle diese Parteien harmonisch, synchronisiert und geeint an den Startlinien gegen den staatssozialistischen PiS-Giganten stehen. Zum Beispiel befürworten die kleineren Oppositionsparteien die Panzerlieferungen an die Ukraine, aber nicht die Reparationsforderungen gegenüber Berlin.

Wer auch immer unter den europäischen Eliten keine weitere Eskalation in Mittel- und Osteuropa haben möchte, sollte sich sputen, den Polen zu helfen, das „kleinere Übel“ an der Wahlurne zu wählen – entweder Tusks liberalkonservative PO oder eine andere der oben aufgelisteten Parteien aus den beiden EU-freundlichen Oppositionslagern.

Die polnische Beteiligung am und die Position zum Ukrainekrieg mit all den dazugehörigen Facetten wie Geschichtsvergessenheit und Russenhass werden sich zwar dadurch nicht diametral ändern, aber zumindest die bilateralen Beziehungen zu Berlin könnten einem ersten Heilungsprozess unterzogen werden.

Das „kleinere Übel“ sollte tatsächlich als solches auch verstanden werden: Tusk ist kein Freund Moskaus, entgegen den Behauptungen der PiS-Belegschaft im verfeindeten Lager. Tusk war über die „lasche“ Umsetzung der Russlandsanktionen durch Partnerländer wie Deutschland und Ungarn empört und sprach dazu nach dem Februar 2022 öffentlich von einer „Schande“. Es gibt keine Garantie für ein allgemeines Tauwetter nach einem Tusk-Sieg, nur vorsichtige Hoffnung auf Normalisierung – wenn überhaupt.

Die PiS hat ihren politischen Hauptopponenten Anfang des Jahres auch bereits erkannt, markiert und auserkoren: mit dem ideologisch nahen Fernsehsender Telewizja Republika. Dieser startete den Versuch, Tusk als einen Putin-Kollaborateur und naiven Russlandversteher darzustellen. Eine mittlerweile rege diskutierte Dokumentation, die in der ersten Januarwoche veröffentlicht wurde, gab Anlass dazu. Der Titel: „Nasz człowiek w Warszawie“ – film o powiązaniach Tuska z Rosją (zu Deutsch: „Unser Mann in Warschau“ – ein Film über Tusks Verflechtungen mit Russland).

Jeder der dort befragten Experten, selbst der ausländischen, gehört zur US-genehmen Deutungsmatrix, die über die Konflikte und regionalen Kriege, an denen Russland teilnahm, sehr voreingenommen berichten. Es wurde auf jegliche neutralen Stimmen, die zumindest auf eine andere Sichtweise hätten hinweisen können, verzichtet.

Russland soll 2008 vollkommen unprovoziert und vorsätzlich Georgien angegriffen haben und nur dank der Initiative des polnischen Staatsoberhaupts Lech Kaczyński darauf verzichtet haben, das komplette Land, samt der Hauptstadt Tiflis, brutal zu annektieren. Diese Behauptung wird als objektiver Fakt dargestellt. Dass der damalige georgische Präsident mit seinen Truppen als Erster in Südossetien einmarschierte, wird von den polnischen Autoren verschwiegen – um nur eines von vielen inhaltlichen Versäumnissen zu nennen.

Und so hat man auch Aussagen von Katarzyna Gójska, Publizistin bei der Gazeta Polska, die sehr selbstsicher Russland die schlimmsten Gräueltaten attestiert und somit versucht, ihren Vorwurf an Tusk für dieses Jahr zu verstärken:

„Das muss doch eigentlich unmöglich sein, dass er [Tusk] nicht weiß, dass die Russen in Tschetschenien Zehntausende tschetschenische Kinder gemeuchelt haben. Dass in Tschetschenien echte, reguläre Konzentrationslager in Betrieb waren. Dass Frauen unvorstellbaren Torturen unterzogen wurden – einfach unvorstellbaren. Und Donald Tusk, im Namen unseres Staates, behauptete, dass man mit Putin, mit Russland ’so, wie es ist‘, weiterreden sollte.“

Der berühmte, herzhafte Lachanfall, dem Putin unterlag, nachdem der deutsche Journalist Hubert Seipel in seiner Doku („Ich, Putin“, 2012) den russischen Präsidenten zu den NATO- und US-Raketenabwehrsystemen in Osteuropa im exklusiven Interview angesprochen hatte, wird von den PiS-Autoren auch missbraucht.

Im eigentlichen Kontext war dieser Lacher eine Reaktion auf Seipels Erklärung, dass die westlichen Raketenabwehrsysteme nichts mit Moskau zu tun hätten und an den Grenzen Russlands lediglich deswegen platziert sein sollen, um sich gegen den Iran zu schützen. Geht in dem Propagandawerk natürlich verloren. Der Lacher wird benutzt, um in der Stimmung der jetzigen, internationalen Kriegs- und Krisenlage Wladimir Putin als dunklen, zynischen und blutrünstigen Diktator im Bewusstsein des polnischen Zuschauers zu brandmarken und zu bestätigen.

Die Autoren nehmen sich auch die Rede Putins auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 vor. Aus diesem historischen Auftritt schneiden sie lediglich 0,5 Prozent heraus und stellen es so dar, als ob Putin den damals dort versammelten Westen proaktiv, unprovoziert und grundlos mit einem zukünftigen Krieg bedrohte. Vermeintliche „Signale“, die nur polnische Hellseher aus dem engen Kreis Lech Kaczyńskis bereit waren, „richtig einzuordnen“ und Alarm zu schlagen.

Die Moral von der Geschichte ist am Ende, dass der 2010 bei Smolensk verunglückte polnische Präsident Lech Kaczyński als politische Reinkarnation Piłsudskis und weiser, russophober Prophet die „Machenschaften“ und „versteckten, bösartigen“ Absichten Wladimir Putins antizipiert hat, damals schon aufdeckte und auf sie hinwies, ihm aber fast niemand zuhörte, woraufhin er dann genau dafür – laut den Autoren der Doku – „mit dem Tod bestraft“ worden sei.

Wie bereits erwähnt – vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten zwölf Monate – hat diese propagandistische Auslegung eine enorm hohe Effektivität. In den YouTube-Kommentaren danken die Zuschauer in Strömen für „die Wahrheit“ und für das, was vermeintlich „nie ausgesprochen wird“. Nicht ohne Grund versucht Tusk, der dort sehr schlecht abschneidet, nun juristisch die Verbreitung dieses Filmes verbieten zu lassen. Das Problem ist, dass Voreingenommenheit nicht nur bei der polnischen Justiz herrschen könnte, sondern auch bei YouTube (wo der Film natürlich frei zugänglich ist) – die Geschäftsführerin der Video-Plattform, Susan Wojcicki, ist eine Cousine von Mateusz Morawiecki, dem jetzigen Regierungschef Polens.

Die Doku ist insofern nützlich, als dass viel Arbeit in die Recherche der Regierungschronik Tusks als Ministerpräsident (2007–2014) eingegangen ist. Mit großem Augenmerk auf – wie der Titel suggeriert – die bilateralen Beziehungen zwischen Warschau und Moskau. Aus heutiger Sicht könnte man tatsächlich auch behaupten, dass die Amtszeiten Tusks die historisch russlandfreundlichsten in der Geschichte polnischer Staatlichkeit gewesen sind. Die Redner in der Doku bestätigen diese Einschätzung sogar. Statt diese Epoche der Annäherungen positiv zu konnotieren, wird dies in den düster-drastischen Kontext eines epochalen Fehlers der Tusk-Regierungen eingerahmt.

Der Schein trügt

Liberalkonservative beziehungsweise polnische Neoliberale wie Tusk und Radosław Sikorski werden in katholisch-konservativen Kreisen Polens als die gemäßigten, „freidenkerisch-progressiven“ Schoßhündchen Brüssels gesehen. Dabei sind sie im identischen Maße USA-verliebt und USA-ergeben wie die katholischen Nationalkonservativen bei der PiS. Die Russophobie beider Volksbewegungen, die Polen zurzeit diskursiv in kognitiver Geiselhaft halten, ist beiderseits heftig und real – aber kommt unterschiedlich zum Ausdruck. Bei der PO beziehungsweise KO ist sie bloß etwas unterschwelliger, nicht so aggressiv und aufmüpfig wie bei Kaczyńskis Polit-Block.

Gut möglich, dass Tusk schon damals eher den Weg einer guten geopolitischen Schachpartie mit Russland verfolgte, mit versteckten Intentionen, die sich später erst gezeigt hätten – statt der offenkundigen und konfrontativen Blutfeindschaft gegenüber dem Kreml, die die PiS-Regierung bis heute bevorzugt. Wenn die PiS der grunzende und schnaufende Bulldozer ist, pflegte die PO die Form der über dem Boden gleitenden Ballerina mit einem Dolch hinter dem Rücken.

Außerdem hat Tusk – mit schriftstellerischer Hilfe der US-amerikanischen Berufs-Russophobin Anne Applebaum – in seiner Autobiografie 2021 sogar davon gesprochen, dass seine politische Karriere nach vielen missglückten Versuchen sehr spät überhaupt begonnen hat. Nämlich erst dann, als Ende der 1980er Jahre der Hauptideologe der Pax Americana höchstpersönlich, Zbigniew Brzeziński, sich Tusk seiner annahm. Der Ehemann von Applebaum wiederum, Sikorski, der Tusks Chefdiplomat gewesen ist (2007–2014), folgte ebenfalls grundlegend den Prinzipien seines Mentors Brzeziński. Sikorski kam, nun als EU-Abgeordneter, kürzlich erneut unter Beschuss seitens der polnischen Regierung, als er öffentlich machte, dass die Warschauer Führung in den ersten 10 Tagen des Ukrainekriegs mit sich gehadert haben soll, an einer Teilung der Ukraine teilzunehmen. Der polnische Ministerpräsident Morawiecki nannte Sikorskis Aussagen „beschämend“. Die PiS-Belegschaft hatte diese Gelegenheit sofort genutzt, um auch Tusk mit Sikorskis Aussage zu assoziieren, um beiden „russische Propaganda“ vorwerfen zu können. So macht man heute in Polen Wahlkampf.

Sowohl zu den Regierungsaktivitäten beider polnischer Staatsmänner Tusk und Sikorski, als auch zu denen des Parteikollegen und Staatspräsidenten Bronisław Komorowski, ist zweifelsfrei festzuhalten: Allesamt deckten, befeuerten und befürworteten die Kiewer Maidan-Unruhen ab 2013 sowie den späteren verfassungswidrigen Regierungssturz und den Beginn des Krieges des neuen Kiewer NATO-Regimes gegen die eigene Bevölkerung im Donbass. All diese Prozesse wurden von diesen „gemäßigten“ Politikern und deren Stab vorbehaltlos unterstützt. Erst danach kam die PiS an die Macht – im Herbst 2015 im Parlament, etwas früher auch mit Andrzej Duda auf dem Präsidentenposten.

Selbst wenn man neutral auf die Chronik dieser halbwegs freundlichen, polnisch-russischen Beziehungen von 2007 bis 2013/14 schaut: Es sollte nicht unterschätzt werden, dass das Jahr 2022 viele geopolitischen Nuancen, die man vorher vielleicht noch im Wechsel zwischen der PiS und PO zu Russland hätte klar unterscheiden können, aus Moskaus Sicht indessen fast zu einem Einheitsbrei verschmolzen sind.

Falls die PiS im Herbst 2023 erneut wiedergewählt wird, haben alle Beteiligten und alle Beobachter Klarheit, dass Warschau die Eskalation sowohl mit Berlin als auch mit Moskau weiter forcieren wird – auf den glühenden Trümmern, nicht nur der Ukraine, sondern auch der EU. Bei einem Wahlsieg Tusks und seiner oppositionellen Bewegung besteht zumindest ein entfernter Hoffnungsschimmer – ohne jegliche Garantie –, dass ein mühsamer Pfad für eine entschärfende Dynamik in Osteuropa geebnet werden kann.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. 

Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, wo man noch mehr von ihm lesen kann.

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