Avanti Popolo! Doch wohin? Von  Nora Hoppe

Dank an Nora Hoppe für die Zusendung ihres Artikels in deutscher Fassung, von ihr übersetzt. Evelyn Hecht-Galinski

https://english.almayadeen.net/articles/opinion/avanti-popolo

Avanti Popolo!

Doch wohin?

 

Von  Nora Hoppe

Al Mayadeen

  1. August 2024

 

Damit die Völker der Welt sich stärker an der Politik und an den Entscheidungen, die die neue Welt gestalten, beteiligen können, brauchen sie ein politisches Bewusstsein

 

 

 

In dieser Inkubationszeit einer Multipolaren Welt werden neue harmonische Formen der Interaktion, der Transaktionen und der Zusammenarbeit erforderlich sein, um nicht nur zwischen kooperierenden, zuträglichen Führern und Handelspartnern verschiedener Länder Gleichheit zu gewährleisten… sondern auch zwischen den Völkern dieser Länder.

 

 

Auf dem 15. BRICS-Gipfel, der im vergangenen August in Johannesburg, Südafrika, stattfand, rief der chinesische Präsident Xi Jinping die BRICS-Länder dazu auf, den Austausch zwischen den Völkern zu verstärken und das gegenseitige Lernen zwischen den Zivilisationen zu fördern: „Es gibt viele Zivilisationen und Entwicklungswege auf der Welt, und so sollte die Welt auch sein. Die Geschichte der Menschheit wird nicht mit einer bestimmten Zivilisation oder einem bestimmten System enden. Die BRICS-Länder müssen sich für den Geist der Inklusion einsetzen, für eine friedliche Koexistenz und Harmonie zwischen den Zivilisationen eintreten und den Respekt aller Länder bei der unabhängigen Wahl ihrer Modernisierungswege fördern.“ Er fügte hinzu: „Die Freundschaft zwischen den Völkern ist der Schlüssel zu gesunden Beziehungen zwischen den Staaten.[Hervorhebung von mir] Nur mit intensiver Pflege kann der Baum der Freundschaft und Zusammenarbeit fruchtbar wachsen. Der Ausbau des Austauschs zwischen unseren Völkern und der Geist der Partnerschaft, der von allen gelebt wird, ist eine würdige Sache, die unser dauerhaftes Engagement verdient.“

 

Sowohl Präsident Xi Jinping als auch Präsident Wladimir Putin sind sich darüber im Klaren, dass Diskussionen allein keinen wirklichen Wandel in der Welt herbeiführen können und dass wahre „Harmonie“ von der Integration all der verschiedenen Elemente eines jeden Staates abhängt: der verschiedenen Völker, der verschiedenen Kulturen, der verschiedenen Sozialklassen, der verschiedenen Glaubensrichtungen… Wenn eines dieser Elemente bei wichtigen Entscheidungen vernachlässigt wird, wird es Probleme geben.

 

Grundsätzlich sollte sich die politische Beteiligung der Völker nicht nur auf die Teilnahme an Wahlen beschränken, sondern auch auf die Wahl des Systems, in dem sie leben wollen.

 

Doch damit die Völker der Welt sich stärker an der Politik und an den Entscheidungen, die die neue Welt gestalten, beteiligen können, brauchen sie ein politisches Bewusstsein… und das kommt entweder von der Bildung und der sozialen Aufklärung oder von der Lebenserfahrung in einem ständigen täglichen Kampf für ihre Rechte. In den meisten Ländern ist es in der Regel die Arbeiterklasse, die – im rohesten und physikalischsten Sinne – das ausgeprägteste politische Bewusstsein (bzw. Klassenbewusstsein) hat – gerade weil sie ständig von Ausbeutung bedroht ist und ständig für angemessene Bezahlung, Sicherheit und Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung kämpfen muss. (Auf jedem Fall ist das Thema „politisches Bewusstsein“ komplex und würde einen separaten und tiefer gehenden Aufsatz erfordern).

 

 

„Freiheit wird nie gewährt: Sie wird gewonnen…

 

„…Gerechtigkeit wird nie gegeben: Sie wird eingefordert… Freiheit und Gerechtigkeit müssen von den Unterdrückten aller Länder und Ethnien erkämpft werden…“ – zitiert von A. Philip Randolph, einem amerikanischen Gewerkschafter und Bürgerrechtsaktivisten.

 

Damit die Völker der Welt eine stärkere Rolle bei den Entscheidungen, die für ihre Zukunft getroffen werden, übernehmen können, müssen sie selbst auf ihrer Beteiligung bestehen… was von ihnen allen nicht nur verlangt, sich ihrer Lage politisch bewusst zu werden, sondern auch eine größere Verantwortung auf sich zu nehmen – was wiederum bedeutet, sich Entschlossenheit und Selbstdisziplin aufzuerlegen. Das Verantwortungsbewusstsein fördert dann auch das aktive Streben nach Wissen und weniger Passivität.

 

Um die Harmonie und das friedliche Zusammenleben zwischen den Völkern und Gesellschaftsschichten zu gewährleisten, wird den Menschen ein ständiger, unablässiger Kampf abverlangt, der im Grunde genommen den Kampf aller Lebewesen auf dieser Erde widerspiegelt. Denn ein Muskel ohne Bewegung verkümmert…

 

 

Ein ewiger Kampf

 

Damit sich alle Völker von jeglicher Form der Knechtschaft oder Ungerechtigkeit befreien können, betonte Patrice Lumumba in seiner Rede anlässlich der Proklamation der Unabhängigkeit des Kongo die Notwendigkeit von Beharrlichkeit, Ausdauer und unbeugsamem Willen seitens der Menschen: „Für diese Unabhängigkeit des Kongo, wie sie heute zusammen mit Belgien gefeiert wird, ein befreundetes Land mit dem wir von gleich zu gleich handeln, wird kein Kongolese der diesen Namen verdient vergessen dass wir sie im Kampf gewannen. Ein Kampf von Tag zu Tag, ein glühender und idealistischer Kampf, in dem wir von keiner Entbehrung, keinem Leiden verschont blieben und für den wir unsere Kraft und unser Blut gaben.“

 

… denn wie wir heute wissen… läutete die Zeit nach diesem „Unabhängigkeitstag“ – nach Lumumbas schändlicher Ermordung – nicht das Ende, sondern nur den Übergang zu einer neuen und viel heimtückischeren Art von Kolonialismus ein: einer, der von Belgien auf die USA übertragen wurde, einer, der für „die Ewigen Kriege“ sorgen sollte (ein Markenrezept, das unter anderem in Afghanistan, im Irak und in Libyen angewandt wurde) – beginnend mit der von der CIA unterstützten Diktatur von Mobuto, den nachfolgenden Bürgerkriegen und den Kriegen auf dem Kontinent (einschließlich des ruandischen Bürgerkriegs). Lumumbas Rede war eine Ermahnung: Echte und dauerhafte Unabhängigkeit kann nur durch einen leidenschaftlichen täglichen Kampf erreicht werden. Und aufgrund der raffgierigen Aspekte der menschlichen Natur – auch wenn der Fluch des Kolonialismus endlich getilgt sein wird – ist dies ein Kampf, der ständig weitergeführt werden muss, für immer.

 

Es stellt sich eine unverblümte, provokante Frage: In welchen Ländern der Welt spielt „die Bevölkerung“ eine wichtige Rolle in der Politik des jeweiligen Staates? Sind das die… die in Kriege verwickelt sind?

 

Die großen Unterschiede in der Beteiligung der Bevölkerung an den Angelegenheiten ihres Staates werden deutlich, wenn man die beträchtliche Apathie und Passivität in den Ländern der westlichen Welt mit dem Engagement und der Willenskraft der Menschen beispielsweise in Palästina, im Jemen und im Donbass vergleicht, die – nachdem sie durch ihre täglichen Kämpfe ein politisches Bewusstsein erlangt haben und sich ihrer Stellung in der Geschichte bewusst geworden sind – sich in jedem Moment der politischen und wirtschaftlichen Umstände bewusst sind, in die sie hineingestürzt wurden… und jede Form der Unterordnung ablehnen.

 

Wir können auch fragen: Warum sind sich die Arbeiterklassen in Russland im Allgemeinen der militärischen Sonderoperation und der Opfer ihrer Soldaten stärker bewusst als die Bourgeoisie in deren Großstädten, die von dem in der Ukraine geführten Krieg oft bequemerweise nichts zu wissen scheint? Ist dies also eine Klassenfrage…?

 

 

 

Der große Schlaf…

 

Trotz der marginalen Proteste gegen den Völkermord in Gaza und trotz der jüngsten Wahlen in Europa, die eine wachsende Unzufriedenheit mit den installierten neoliberalen „young global leaders“ des WEF zeigen, scheint die Mehrheit der Bevölkerungen der westlichen Welt in einem Koma zu verharren, in das sie in den letzten Jahrzehnten – seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – allmählich hineingedriftet ist.

 

Die „westlichen liberalen Demokratien“ hatten es bereits geschafft, einen Keil zwischen „The Great Unwashed“ [dem ungewaschenen Pöbel“] (wie der viktorianische Politiker und Schriftsteller Edward Bulwer-Lytton die „einfache Bevölkerung“ bezeichnete) und die Machteliten zu treiben, und zwar durch ein Konstrukt, das als „repräsentative Demokratie“ bekannt ist – ein rhetorisches Surrogat für Demokratie, das, wie Professor Rainer Mausfeld (emeritierter deutscher Professor für Allgemeine Psychologie, Kognitionsforscher und soziopolitischer Analytiker) hier beschreibt, „die die tatsächliche Form einer Eliten-Wahloligarchie verschleiern sollte“ und „die emanzipatorischen Bedürfnisse der Selbstbestimmung neutralisieren soll“. Bei dieser Form ist die Bekleidung politischer Ämter im Prinzip an den Besitz von Vermögen gebunden, und der Abgeordneter sei in der Regel ein gebildeter Besitzbürger, der „durch seine geistige Überlegenheit den Willen der Wähler bestimmt, damit sie sich unter mehreren Konkurrenten seinem Willen unterwerfen“. Die repräsentative Demokratie dient also dazu, den Prozess der Entrechtung der Bevölkerung – mit ihrer Zustimmung – voranzutreiben.

 

Die westlichen kapitalistischen Eliten der Nachkriegszeit führten eine liberale Version von „Brot und Spiele“ ein, die eine neue Form der Knechtschaft für ihre untergeordneten Klassen schuf – nämlich die massenhafte Sucht nach Konsum, die im Laufe der Zeit, während der „fetten Jahre“, die Bevölkerung passiv und selbstgefällig machte. Sie wurden immer zur leichteren Beute eines aufgezwungenen „falschen Bewusstseins“ (Friedrich Engels), indem sie gefügig eine von der herrschenden Klasse fabrizierte Ideologie übernahmen, die ihnen auf lange Sicht keinen Nutzen bringen würde. Aber das ideologische Paket von Überzeugungen, Wahrnehmungen, kulturellen Normen, Stigmata und Feindbildern – jene erhabenen „westlichen Werte“ -, die von dieser „kulturellen Hegemonie“ (wie von Antonio Gramsci beschrieben) geschaffen wurden, ließen die Machtsysteme und die Weltanschauung ihrer Herren ihrer Bevölkerung als tugendhaft, demokratisch, exzeptionell und besonders nachahmenswert erscheinen… und verliehen diesen „Anhängern“ ein Zugehörigkeitsgefühl.

 

In den letzten Jahrzehnten haben Hollywood und die Medien eine wichtige Rolle bei der Förderung dieser Ideologie gespielt. Es dauerte nicht lange, bis neue „Realitäten“ geschaffen wurden, die Individualismus und Narzissmus förderten, um die Selbstzufriedenheit zu steigern, die Gesellschaft zu spalten und mehr Gehorsam einzuflößen. Im Zeitalter der künstlichen Intelligenz sind vor allem junge Menschen von künstlichen „Realitäten“ verblendet, die ihnen über ihre Mobiltelefone vermittelt werden und die sie von jeglichem Verantwortungsbewusstsein ablenken – selbst gegenüber ihrer eigenen Familie; dennoch bleiben sie manipulierbar und von ihren Herren kontrollierbar, da sie keine eigene Identität haben.

 

Diese Form der Neo-Sklaverei wird entweder durch einen allmählichen Aufklärungsprozess (für den es momentan keine Anzeichen gibt und für den auch keine Zeit mehr bleibt) oder durch schwere Entbehrungen beseitigt werden… oder durch einen furchtbaren Katastrophe wie einen großen Krieg.

 

 

Im Westen lässt die Betäubung bei einigen langsam nach…

 

Da die Entbehrungen im Westen jetzt nicht nur die Arbeiterklasse, sondern aufgrund der sich verschlechternden Volkswirtschaften auch die meisten Mitglieder der Mittelschicht betreffen, werden einige dieser Klasse aus ihrem rosigen Zustand der Trägheit aufgerüttelt: Da sie nicht mehr mit erschwinglichem Wohnraum, medizinischer Versorgung, angemessener Bildung und jeglichen erbaulichen Formen der Kultur versorgt werden, haben sie das Vertrauen in alle öffentlichen Einrichtungen und Autoritätspersonen verloren.

 

Das böse Erwachen hat diese Bevölkerungsgruppen in einen Zustand der Verzweiflung und extremer Empörung versetzt. Aber ohne Führung, ohne Wissen über die Geschichte und die Welt, ohne Sinn für Unabhängigkeit, ohne kulturelle Identität… haben sie keine Orientierung und keine Handlungsoption.

 

Wohin kann dann… all diese aufgestaute blinde Wut führen?

 

 

In einer entstehenden Neuen Welt…

 

Dennoch entwickeln viele Völker, die zur Globalen Mehrheit gehören, ein politisches Bewusstsein, da sie sehen, dass es Alternativen zur TINA (There is No Alternative) gibt, die ihnen von der westlichen neoliberalen Weltordnung aufgezwungen wurde… Sie sehen: Bevölkerungen, die massenhaft aus der Armut befreit werden (China); Länder, die trotz Sanktionen florieren und gleichzeitig den Nazismus und Imperialismus bekämpfen (Russland); kleine und mittellose Gemeinschaften von Freiheitskämpfern (Palästina, Ansarullah, Hisbollah), die reiche, mit Atomwaffen ausgerüstete Giganten (das zionistische Gebilde) den Stirn bieten; bedrängte Länder in Afrika, die ihre jahrhundertealten Kolonialherren vertreiben (die Allianz der Sahel-Staaten); souveräne Staaten, die dem Hegemon den Rücken kehren und erfolgversprechende Partnerschaften (BRICS+) bilden, um einen gerechten Handel und einen für beide Seiten vorteilhaften Austausch zu fördern…

 

Dieser mühsame globale Kampf der Staaten, sich von den Fesseln einer unipolaren Welt zu befreien, hat den verschiedenen Völkern der Globalen Mehrheit Hoffnung für sich und ihre Nachkommen gegeben.

 

Aber letztlich muss das Volk in jedem Staat entscheiden, in welchem System es leben will. Und damit sie diese Entscheidung treffen können, müssen sie sich stärker in die Angelegenheiten ihres Staates einmischen, sich mehr Wissen über Geschichte und Zivilisationen aneignen… und sich auf ein endloses und aktives Engagement vorbereiten, das immer ein Kampf sein wird.

Nora Hoppe

Unabhängige Filmemacherin, Drehbuchautorin; Essayistin; Übersetzerin.

 

 

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