Bericht der Sonderberichterstatterin Francesca Albanese zur „Situation der Menschenrechte in den palästinensischen besetzten Gebieten seit 1967“

Ich danke Norman Paech sehr für die Genehmigung der Zweitveröffentlichung seines wichtigen erschütternden  Artikels zum Bericht der Sonderberichterstatterin Francesca Albarese,  vom 21. November 2022, auf den Nachdenkseiten.

 

Bericht der Sonderberichterstatterin Francesca Albanese zur „Situation der Menschenrechte in den

palästinensischen besetzten Gebieten seit 1967“

Norman Paech

 

Ein Artikel von Norman Paech

 

Dieser Bericht findet in den normalen und die öffentliche Meinung bestimmenden Medien unseres Landes kaum einen Niederschlag. Deshalb können wir Norman Paech nur dankbar sein, dass er für die NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser seinen Text zur Verfügung stellt. Albrecht Müller.

An Berichten über die Situation der Menschenrechte in den von Israel besetzten Gebieten Palästinas fehlt es dem UN-Menschenrechtsrat nicht. Seit dem ersten Bericht des Südafrikaners John Dugard im Jahr 2007 haben er und sein Nachfolger seit 2014, der US-Amerikaner Richard Falk, als Sonderberichterstatter mehrere Untersuchungen der Menschenrechtslage in den besetzten Gebieten vorgelegt. In einem waren sie sich alle einig, in der scharfen und ungeschminkten Verurteilung der Gewalt, der Unterdrückung und schweren Menschenrechtsverbrechen der Besatzung. Sie nannten es schon damals ein Apartheidsystem. Und eines war ihnen auch noch gemeinsam, eine Veränderung der Verhältnisse in Israel und Palästina konnten sie nicht bewirken. Beide Autoren, angesehene jüdische Völkerrechtsprofessoren, wurden vielmehr aus Jerusalem angegriffen, und nach kurzen Jahren verloren sie ihre Aufgabe. Als dann Richard Falk und seine Kollegin Virginia Tilley im Auftrag der Wirtschafts- und Sozialkommission der UNO (ECOWAS) 2017 einen weiteren Bericht erstellten, steigerte sich die Empörung über den Vorwurf der Apartheid und des Rassismus derart, dass UN-Generalsekretär Guterres den Bericht kurz nach seinem Erscheinen von der Website der UNO nehmen ließ.

Und nun liegt ein weiterer Bericht der neuen Sonderberichterstatterin Francesca Albanese vor, noch analytischer, schärfer und pointierter die schweren Verbrechen aufzeigend, die sich aus ihrem Befund des Siedlerkolonialismus und des Apartheidsystems notwendig ergeben. Auch ihr wurde der Zutritt zu den besetzten Gebieten verwehrt, sodass sie ihre Untersuchung auf die juristische Analyse der reichhaltig vorhandenen Dokumente, Reports und Literatur sowie Gespräche, Interviews und Online-Treffen stützte.

Schon zu Beginn macht sie deutlich, dass der in jüngerer Zeit in den Vordergrund gerückte Begriff der Apartheid zwar den systematischen Charakter der israelischen Verbrechen hervorheben kann, aber dennoch einige Begrenzungen hat. So beziehe er nicht die Erfahrungen der palästinensischen Flüchtlinge mit ein und berücksichtige nicht die dem System von Anfang an innewohnende Rechtswidrigkeit der Besatzung. Vor allem aber benenne er nicht die Grundursachen des Netzes rassendiskriminatorischer Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen, die das tägliche Leben in den besetzten Gebieten seit 1967 strangulieren mit der eindeutigen Absicht, sich das Land anzueignen, die Bevölkerung zu vertreiben und durch die eigenen Siedler zu ersetzen. „Das ist das Markenzeichen des Siedlerkolonialismus und ein Kriegsverbrechen nach dem Römischen Statut.“ (II A 10c, S. 15)

Francesca Albanese legt ihrer Untersuchung das Recht auf Selbstbestimmung zugrunde, welches in den Kämpfen der Dekolonisation in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Völkerrecht und gestützt auf zahllose Resolutionen der UN-Generalversammlung zu einem zwingenden Recht erstarkte. Siedler-Kolonialismus und Apartheid erklären sich ihr zufolge erst durch den Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Unterworfenen. Es wird ihnen systematisch verweigert, ob in seiner politischen Dimension, eine eigene Regierung und Rechtsprechung ohne fremde Einmischung bilden zu können, seiner ökonomischen und kulturellen Dimension, frei über ihre Reichtümer und Ressourcen verfügen zu können, oder in seiner außenpolitischen Dimension, die die volle Souveränität über das eigene Territorium und die uneingeschränkte Handlungsfähigkeit auch international bedeutet.

Die israelischen Regierungen haben nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, das okkupierte Land nie mehr zu verlassen und auch dort die „demographische Suprematie“ zu erlangen. Die Berichterstatterin macht deutlich, dass alle Regierungen ihre Vision eines jüdischen Staates vom Jordantal bis zum Mittelmeer ohne Rücksicht auf die palästinensische Bevölkerung verfolgt haben: vom Allon-Plan 1967 mit seinen entmilitarisierten Bantustans im jüdischen Staat, über die Annexion Ost-Jerusalems 1980, die Fragmentierung der Westbank durch den Oslo-Vertrag 1993 in die A-, B- und C-Zonen, die Verwandlung des Gaza-Streifens in eine überbevölkerte, verarmte Enklave nach den Wahlen 2006, bis zu den täglichen Demütigungen, Anschlägen, Überfällen, Razzien und Verhaftungen ohne Schutz der Gerichte in der Gegenwart. Immer ist es das Ziel gewesen, das Leben für die Menschen so unerträglich zu machen, dass sie freiwillig ihr Land verlassen.

Die Berichterstatterin erwähnt zahlreiche der bekannten Maßnahmen wie die Monopolisierung der Wasserquellen und die Verdrängung der palästinensischen Landwirtschaft aus der Zone C, dem fruchtbarsten Anbaugebiet im Jordantal. Die Vereinten Nationen kamen 2019 zu der Schätzung, dass ohne die Besatzung das Pro-Kopf-Einkommen in der Westbank 44 Prozent höher wäre als aktuell. Man kann hinzufügen, dass die Weltbank seinerzeit den jährlichen finanziellen Verlust der Palästinenser durch die Vertreibung aus dem Jordantal auf über 3 Mrd. US-Dollar schätzte. Sie erinnert an die Zerstörung des Marokkanischen Viertels in Ost-Jerusalem zu Beginn der Besatzung, um Platz für die Klagemauer zu schaffen, die Entfernung der palästinensischen Geschichte aus den Schulbüchern und die Umwandlung oder Schließung von Stätten, die die kulturelle, politische und religiöse Identität der palästinensischen Gesellschaft bewahren.

Die Berichterstatterin brauchte nur auf die wöchentlichen Veröffentlichungen des United Nation Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA – Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheit) zu schauen, um all die Vorwürfe und Anklagen bestätigt zu finden, die sie aus ihren Gesprächen und Interviews erfahren hat. So sind derzeit fast 4.500 Palästinenserinnen und Palästinenser in israelischen Gefängnissen, 730 ohne Anklage und meistens auf Grund geheimer Anschuldigungen – die berüchtigte Administrativhaft. Zwischen 500 bis 700 Kinder unter zwölf Jahren werden jährlich willkürlich verhaftet. Hinzu kommen gezielte außergerichtliche Tötungen, Entzug der Wohnerlaubnis und Deportationen, Angriffe auf Häuser, Wohnungen und Gebäude. Die täglichen Meldungen aus den besetzten Gebieten könnten eine Vielzahl weiterer Beispiele rechtswidriger Gewalt und Aggression hinzufügen, die alle nur den Befund des Berichts unterstreichen, dass es sich um ein „vorsätzlich habgieriges, die Rassentrennung förderndes, repressives Regime“ („intentionally acquisitive, segregationist and repressive regime“, VI, S. 21) handelt, mit dem einzigen Ziel, dem palästinensischen Volk den Gebrauch seines Rechts auf Selbstbestimmung zu verhindern.

Der Bericht ist skeptisch gegenüber den Möglichkeiten einer Friedenslösung nach dem Modell der bisher gescheiterten Versuche. Sie hätten sich nicht auf die Menschenrechte, insbesondere das Selbstbestimmungsrecht konzentriert und den „siedler-kolonialen“ Charakter der israelischen Besatzung übersehen. Da das Selbstbestimmungsrecht aber zwingend und für alle verpflichtend sei, müsse die israelische Regierung die „Unterjochung“ („subjugation“) des palästinensischen Volkes beenden und sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen.

Das ist dann auch die erste Empfehlung bzw. Forderung des Berichts, dass Israel seine Besatzung beende, sich sofort und bedingungslos zurückziehe und Reparationen leiste. Alle Staaten werden aufgefordert, die Verletzungen des palästinensischen Rechts auf Selbstbestimmung durch Israel zu verurteilen, das sofortige Ende der rechtswidrigen Besatzung, die Rückgabe des geraubten Landes und aller Ressourcen zu fordern und in der UN-Generalversammlung einen Plan zu entwickeln, „um die siedler-koloniale Besatzung und das Apartheid-Regime zu beenden“ (VI, S. 21). Sollte Israel den Forderungen nicht folgen, sollten die Staaten diplomatische, ökonomische und politische Maßnahmen entsprechend der Charta der Vereinten Nationen ergreifen. Es sollte eine umfassende und transparente Untersuchung aller Menschenrechtsverletzungen, des humanitären Völkerrechts bis hin zu möglichen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen der Aggression unternommen werden. Die Staaten sollten schließlich die Täter mit Hilfe des Internationalen Strafgerichtshofs und anderer universeller Justizorgane zur strafrechtlichen Verantwortung ziehen.

Der Bericht ist wie die vorangegangenen eine scharfe und schnörkellose Abrechnung mit einem kriminellen System auf der Basis unanfechtbarer Tatsachen. Unsere Medien und Politik haben darauf bisher nicht reagiert, nur Israel – mit heftigen Angriffen auf die Autorin. Hoffen wir, dass sich die Spitze der UNO diesmal nicht von dem Bericht und ihrer Berichterstatterin distanziert.

Norman Paech

 

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