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Chomsky: Coronavirus zeigt „kolossales Versagen des Neoliberalismus“

Der Philosoph und bekannte linke Intellektuelle Noam Chomsky, hier während einer Konferenz im mexikanischen Puebla im November 2017. [(Archivbild) EFE/Francisco Guasco]

Für Noam Chomsky zeigt die Coronavirus-Pandemie ein „weiteres kolossales Versagen der neoliberalen Version des Kapitalismus“ auf. Die besonders heftigen Auswirkungen in den USA seien dabei Ergebnis der „surrealen“ Reaktionen aus dem Weißen Haus.

Noam Chomsky gilt als Begründer der modernen Linguistik und einer der bekanntesten Intellektuellen der Welt. Nach seiner langjährigen Tätigkeit am Massachusetts Institute of Technology (MIT), ist Chomsky seit Herbst 2017 Mitglied des Fachbereichs Linguistik am College of Social and Behavioral Sciences der University of Arizona.

Er sprach per Videoanruf mit Cristina Magdaleno von EURACTIVs Medienpartner Efe. Das komplette Interview im spanischen Original finden Sie hier.

Professor Chomsky, welche Lehren lassen sich aus der aktuellen Pandemie ziehen?

Eine Lektion ist, dass es sich um ein weiteres kolossales Versagen der neoliberalen Version des Kapitalismus handelt. Es ist ein gewaltiges Scheitern. Wenn wir daraus nicht lernen, wird es beim nächsten Mal noch schlimmer kommen.

Es ist offensichtlich, was passiert ist: Nach der SARS-Epidemie im Jahr 2003 wussten die Wissenschaftler ganz genau, dass weitere Pandemien kommen würden, wahrscheinlich auch von der Sorte Coronavirus. Es wäre möglich gewesen, sich zu diesem Zeitpunkt darauf vorzubereiten. Also in etwa so, wie man es bei der Grippe macht: Man hat jedes Jahr einen neuen Grippeimpfstoff, weil es immer wieder leichte Mutationen und Variationen gibt, aber man ist darauf vorbereitet. Also kann man [Impfstoffe] schnell herstellen.

Aber im aktuellen Fall wurde das nicht gemacht.

Jemand muss sich der Sache annehmen und sie verfolgen. Es gibt dafür zwei denkbare Akteure: Die Pharmakonzerne haben die Mittel; sie sind superreich, weil wir sie mit Geschenken überhäufen. Aber sie wollten keine derartigen Impfstoffe herstellen, denn sie beobachten Marktsignale. Und die Marktsignale sagen Ihnen, dass es keinen Profit zu machen gibt, wenn man sich auf eine potenzielle Katastrophe in der Zukunft vorbereitet. Zweitens kommt dann der neoliberale Hammer, dass die Regierungen ebenfalls nichts tun können. Sie sind somit Teil des Problems, nicht der Lösung.

In den Vereinigten Staaten ist das Ganze zu einer absoluten Katastrophe geworden, wegen dieser Bande, die in Washington regiert. Sie wissen immer ganz genau, wie sie jedem in der Welt die Schuld in die Schuhe schieben können, außer sich selbst. Dabei sind sie für die Katastrophe verantwortlich. Die USA sind inzwischen das Epizentrum der Krise. Sie sind das einzige Land, das derart funktionsunfähig ist, dass es der Weltgesundheitsorganisation nicht einmal Daten über Todesfälle und Infektionen zur Verfügung stellen kann.

Von der Leyen: „Haben das Coronavirus am Anfang unterschätzt“

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in einem Interview eingeräumt, dass das Corona-Virus von der Politik unterschätzt worden ist.

Wie würden Sie die Reaktion der Trump-Administration insgesamt beschreiben?

Als surreal. Die Art und Weise, wie sich dies alles entwickelt hat, ist surreal.

Im Februar hat die Pandemie [in anderen Teilen der Welt] bereits Chaos angerichtet; jeder in den USA konnte das sehen. Und dennoch präsentierte Trump im Februar vor allem neue Budgets, die man sich genau anschauen sollte: Inmitten einer Pandemie hat er Kürzungen für das Center for Disease Control und andere gesundheitsrelevante Teile der Regierung vorgenommen. Gleichzeitig erlaubte er eine Aufstockung der Mittel für die Industrie für fossile Brennstoffe. Das sind weitere Subventionen, um organisiertes menschliches Leben in nicht allzu ferner Zukunft zu zerstören. Und natürlich gab es auch weitere Mittel für das Militär, das ohnehin bereits aufgebläht ist, und zusätzliche Gelder für Trumps berühmte Mauer.

Das sagt einiges über das Wesen dieser soziopathischen Narren aus, die die Regierung führen – und darüber, wie das Land darunter leidet.

Jetzt versuchen sie wieder verzweifelt, jemand anderem die Schuld zu geben, vor allem China und der Weltgesundheitsorganisation. Apropos: Die Finanzierung der Weltgesundheitsorganisation aussetzen – was bedeutet das eigentlich in der Praxis? Die Weltgesundheitsorganisation arbeitet überall auf der Welt, meist in ärmeren Ländern. [Die US-Regierung] sagt also quasi: „Lassen wir viele Menschen im globalen Süden sterben; denn vielleicht verbessert das unsere Wahlaussichten.“

Trump hatte die möglichen Auswirkungen der Pandemie zunächst heruntergespielt und vernachlässigt. Ist er nun – möglicherweise zum ersten Mal – von der Realität eingeholt worden?

Eins muss man Trump lassen: Er hat das wahrscheinlich größte Selbstvertrauen, das es je gegeben hat. Er lässt P.T. Barnum wie einen Amateur aussehen.

Trump ist außerdem in der Lage, in der einen Hand ein Transparent zu halten, auf dem steht „Ich liebe dich, ich bin dein Retter, vertraue mir, ich arbeite Tag und Nacht für dich“ – und mit der anderen Hand sticht er dir den Dolch in den Rücken. So geht er ja auch mit seiner Wählerschaft um, die ihn abgöttisch verehrt, ganz gleich, was er tut.

Und ihm hilft natürlich ein sehr interessantes Medienphänomen, nämlich die Mischung Fox News, Rush Limbaugh, Breitbart… der einzige Teil der Medien, den sich Republikaner anschauen. In diesen Medien wird alles, was Trump sagt, gespiegelt. Wenn er also heute behauptet: „Es ist nur eine Grippe, kümmert euch nicht drum“, werden diese Medien sagen: „Ja, es ist nur eine Grippe, kümmern wir uns nicht drum“. Aber am nächsten Tag räumt er ein, dass es eine „schreckliche Pandemie“ ist und natürlich war er der Erste, der sie bemerkt hat. Und alle schreien einstimmig: „Er ist der großartigste Mensch der Geschichte; seine neueste Entdeckung ist die großartigste Sache aller Zeiten.“

Und das geht Tag für Tag so weiter. In der Zwischenzeit schaut er sich selbst morgens Fox News an und entscheidet, was er heute sagen wird. Es ist wirklich ein erstaunliches Phänomen, wie Rupert Murdoch, Rush Limbaugh und dieser Soziopath im Weißen Haus das Land in den Untergang treiben.

Nachdem sie als geheim eingestufte Informationen über das Coronavirus erhalten hatten, verkauften einige US-Senatoren ihre Aktien – und spielten dann das Risiko des Virus für die Öffentlichkeit herunter. Die Forderungen nach Rücktritten werden lauter.

Gehen Sie davon aus, dass die Krise uns als Gesellschaft sowie unser Verhältnis zur Natur verändern wird? Und wenn ja, in welche Richtung?

Das wird wohl vor allem von den jüngeren Leuten abhängen. Insgesamt kann man dies aber nicht vorhersagen.

Es hängt davon ab, wie die Weltbevölkerung auf das, was geschieht, reagieren wird. Die Pandemie könnte zu überaus autoritären, repressiven Staaten führen, die die neoliberale Pest noch weiter ausbreiten als bisher geschehen. Tatsächlich arbeiten sie im Moment ja daran. Man sollte immer daran denken, dass die Kapitalistenklasse nicht nachgibt, dass sie immer kämpft. Jetzt, inmitten der [Coronavirus-Krise], fordert sie mehr Mittel für fossile Brennstoffe. Sie zerstört bisherige Vorschriften, die einen gewissen Schutz boten.

Erst kürzlich hat die US-amerikanische Umweltschutzbehörde EPA, die unter Trump zu einem Erfüllungsgehilfen der Kohleproduzenten geworden ist, Vorschriften abgeschafft, die das Austreten von Quecksilber und anderen Schadstoffen in die Luft und den Boden rund um Kraftwerke einschränken. Das bedeutet doch auch: „Lasst uns mehr amerikanische Kinder töten und lasst uns die Umwelt zerstören, weil man auf diese Weise mehr Profit für die Kohleunternehmen herausschlagen kann“.

Das passiert ständig, jeden Tag. Ich bin sicher: Wenn es keine Gegenkräfte gibt, wird sich die Welt weiter in diese Richtung entwickeln.

Was könnte sich geopolitisch aufgrund der Pandemie verändern?

Was international geschieht, ist wirklich ziemlich schockierend. Das betrifft auch die Europäische Union, die diesen Namen – Union – eigentlich nicht verdient. Deutschland macht sich bei der Bewältigung der Krise recht gut. Es hat genügend Krankenhauskapazitäten und auch an Diagnosekapazitäten mangelt es nicht. Dort hat man sich nicht strikt an die neoliberalen Regeln gehalten.

In Italien gibt es unterdessen eine schwer verlaufende Epidemie. Aber kommt deswegen Hilfe aus Deutschland?

Die Italienerinnen und Italiener bekommen glücklicherweise Hilfe – allerdings von „der Supermacht“ jenseits des Atlantiks: Kuba. Kuba schickt Ärzte. Auch aus China kommt Material. Somit bekommt Italien zumindest etwas Unterstützung – allerdings kaum von den reichen Ländern der Europäischen Union.

Tatsächlich ist das einzige Land, das jetzt echten Internationalismus zeigt – und das ist nicht das erste Mal – Kuba. Das sollte uns wirklich zu denken geben. Kuba stand 60 Jahre lang unter Beschuss der USA, sei es durch wirtschaftliche Blockaden oder durch terroristische Akte im großen Stil. Wie durch ein Wunder hat Kuba dies überlebt und der Welt weiterhin gezeigt, was Internationalismus ist.

Aber das ist nicht das, worüber Sie in den USA reden sollen und wollen. Der höfliche, gehorsame Mensch soll etwas anderes sehen. So wird aktuell die Schuld China gegeben; die „gelbe Gefahr“ wird wieder heraufbeschwört. Das ist sehr tief in der amerikanischen Geschichte verwurzelt, diese Angst: Die Chinesen kommen, um uns zu vernichten. Das geht bis ins 19. Jahrhundert zurück, man kann es scheinbar jederzeit wieder heraufbeschwören.

Es gibt aber auch einen Ruf nach einer Progressiven Internationale. Dieser Aufruf kommt von Bernie Sanders in den Vereinigten Staaten, von Yanis Varoufakis in Europa. Sie wollen progressive Elemente aus Europa, den Vereinigten Staaten und dem globalen Süden zusammenbringen.

Damit soll der „Reaktionären Internationale“ entgegengewirkt werden, die im Weißen Haus gemeinsam mit brutalen Staaten im Nahen Osten […] oder Leute wie Orbán und Salvini geschmiedet wird, deren Lebensfreude offenbar darin besteht, sicherzustellen, dass Menschen, die verzweifelt aus Afrika fliehen, im Mittelmeer ertrinken.

[Bearbeitet von Catalina Guerrero, Zoran Radosavljevic und Tim Steins]

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