Das imaginierte Attentat von Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung der Veröffentlichung seines neuen auf Overton-Magazin erschienen Artikel, ebenso auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen. Evelyn Hecht-Galinski

https://overton-magazin.de/top-story/das-imaginierte-attentat/

Das imaginierte Attentat

von

Netanjahu: “This wasn’t just an attack on Donald Trump. This was an attack on a candidate for the presidency of the United States. This was an attack on America. It was an attack on democracy, it was an attack on all the democracies.” Screenhot von Video.

Worüber hat man am Tag nach dem Attentatsversuch auf Donald Trump in der Sitzung der israelischen Regierungskoalition geredet?

Es gibt den jiddischen Witz von zwei Männern, die im Schlafwagen eines Nachtzuges liegen. Nachdem das Licht ausgeschaltet ist, fängt einer von ihnen an zu stöhnen: “Oi, habe ich einen Durst! Oi, habe ich einen Durst!” Der andere steht genervt auf, steigt von der Liege ab, macht das Licht an und gießt dem Stöhnenden ein Glas Wasser ein. Der trinkt es aus, das Licht wird wieder ausgeschaltet. Nach einer Weile hört man wieder den Stöhnenden: “Oi, habe ich einen Durst gehabt! Oi, habe ich einen Durst gehabt!” Man kann diesen Witz um eine Variante verleihen, nämlich die von dem, der von Anbeginn stöhnt: “Oi, werde ich einen Durst haben!”

Auf den ehemaligen Präsidenten der USA und jetzigen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump ist bei einer Wahlkundgebung ein Attentat verübt worden. Die Kugel streifte sein rechtes Ohr und verletzte ihn leicht. Der von seinen Sicherheitsleuten von Podium heruntergeführte Trump war geistesgegenwärtig genug, blutenden Gesichtes seine geballte Faust hochzustrecken und seiner Anhängerschaft “Wehrt euch!” zuzubrüllen.

Das Foto, das ihn in dieser Pose vor der über ihn wehenden US-Fahne verewigte, dürfte ikonisch werden. Auf jeden Fall werden Vorfall und Foto dem Wahlkämpfer zunutze sein – nichts geht im Wahlkampf über die wohldosierte Melange aus standhaftem Heroismus, larmoyantem Wehklagen und protzender Standhaftigkeit des Opfers/Märtyrers. Das Team um Trump wusste sogleich, was es zu tun hatte – nicht zuletzt wurde manipulativ die Behauptung verbreitet, dass die Demokraten gegen Trump unentwegt gehetzt hätten, und der Attentatsversuch nun das Resultat sei. Aber immerhin hatte Trump ein blutiges Ohr vorzuweisen – “Oi, habe/hatte ich einen Durst!”

Am Tag nach dem Attentatsversuch in Pennsylvania fand sich die israelische Regierung zu ihrer wöchentlichen Sitzung ein. Das wäre eigentlich nicht sonderlich erwähnenswert. Denn immerhin befindet sich Israel noch immer im Krieg, die Geiselfrage hängt schwer in der Luft, viele tausende Evakuierte im Süden und Norden des Landes warten auf eine Lösung ihres Problems; es gäbe zudem manches über die Wirtschafts- und Sicherheitssituation des Landes zu bereden – Israel steckt ja in einer schweren Krise. Stattdessen nahm man den Vorfall in den USA zum Anlass, die “Hetze gegen den Premierminister, seine Familienangehörigen und Minister” zu erörtern.

“Ich kann mir kein Sandwich kaufen, weil ich nicht weiß, wer angreifen wird”

In einer Haaretz-Kolumne beschrieb die israelische Journalistin Yoana Gonen den Verlauf der Sitzung wie folgt: “Die Sitzung verwandelte sich in eine stürmische Orgie der Larmoyanz und schmeichelnder Kriecherei. [Polizeiminister] Itamar Ben Gvir und [Siedlungsministerin] Orit Stroock erinnerten sich, wie nicht anders zu erwarten, an den Abzug aus dem Gazastreifen [im Jahre 2005!], [Justizminister] Yariv Levin zog es gerade vor, die Vergangenheit zu vergessen, indem er feststellte: ‘Es ist ein Wunder, dass sich bei uns bis jetzt nicht ereignet hat, was in den USA passiert ist’ (naja, um ehrlich zu sein, bei uns ist ein Ministerpräsident wirklich ermordet und nicht nur am Ohr verletzt worden), und die restliche Zeit wurde natürlich verwendet, um die Generalstaatsanwältin zu besudeln. Man merkt, dass die Mitglieder der Koalition sehr sensibel sind für das schreckliche Leid, das die BürgerInnen Israels seit dem 7. Oktober erfahren – vielleicht nicht alle BürgerInnen, aber wenigstens 64 von ihnen [Zahl der Koalitionsmitglieder], und das ist mehr als genug. ‘Wir gehen unter großer Furcht auf den Straßen, ich kann mir kein Sandwich kaufen, weil ich nicht weiß, wer angreifen wird!’, rief dramatisch [Knessetmitglied der Likudpartei] Keti Shitrit in einem Interview auf [dem rechtsradikalen] Kanal 14, und das Herz weinte mit ihr. Gibt es jemanden in Israel, der in diesen Tagen mehr leidet als sie?”

Der scharfe Sarkasmus Yoana Gonens ist die ohnmächtige Waffe gegenüber der Absurdität einer historischen wie aktuellen Realität, der man als israelischer Bürger ausgesetzt ist. Denn nicht nur sind die Mitglieder der Koalition gegenwärtig mit einer “irrsinnigen Hetze gegen normale Bürger beschäftigt”, wie Yoana Gonen sagt: “ProtestaktivistInnen und Angehörige der Geiseln werden auf der Straße verprügelt, und wirkliche politische Gewalttätigkeit kommt stets aus dem Lager der Rechten. Aber die Realität hat ja nichts in den Regierungssitzungen zu suchen – sie ist sehr furchterregend. Und sie könnte die Anwesenden daran hindern, ihr Sandwich in Ruhe zu essen.”

Netanjahu und seine Familie sind aus gutem Grund bei vielen in der israelischen Bevölkerung verhasst. Breite Demonstrationen gegen den Premier, der der Veruntreuung, der Lüge und des Betrugs angeklagt ist, gab es noch vor dem versuchten Staatsstreich im Jahr 2023, und sie nahmen infolge des Staatsstreichs nur zu, als sich herausstellte, dass der Regierungschef und die perfiden ministeriellen Speichellecker, die er um sich versammelt hat, dabei sind, die Reste der formalen Demokratie Israels strukturell zu zerstören. Indes, diese massive Protestbewegung ist mit dem 7. Oktober erlahmt. Der Krieg brach aus. Zur Zeit schafft sie es noch nicht, den quantitativen Umfang und die erregte Emphase, die sie vor dem 7. Oktober kennzeichneten, wiederzuerlangen.

Verdrängung der Vergangenheit

Das eigentlich Absurde belangt aber nicht nur die ideologische Wirklichkeitsentstellung in der Gegenwart. Es ist in der Tat kaum zu fassen, dass man die vergangene Wirklichkeit Israels so zu verdrängen bzw. zu entstellen vermag, dass man selbst die Ermordung Yitzhak Rabins im November 1995 nicht erwähnen zu sollen meint. Alle politischen Morde in der israelischen und auch in der prästaatlichen Vergangenheit gingen stets vom rechten/faschistischen Lager aus. Die zionistische Linke (die in Israel lebende nichtzionistische allemal) zeichnete sich nie durch die Anwendung von mörderischer Gewalt aus, schon gar nicht durch Gewalt, die zum politischen Mord geführt hätte.

Aber der unfassbare Zynismus Netanjahus in der Gegenwart manifestiert sich darin, dass es vor allem er war, der in den Monaten vor November 1995 gegen Rabin so hasserfüllt hetzte, dass der politische Mord gleichsam in der Luft lag, ehe ihn ein Mann aus dem rechtsradikalen Siedlerlager vollführte. Und diese Praxis setzte Netanjahu durchgehend in seiner politischen Karriere bis zum heutigen Tag fort, gebrauchte mithin eine Medieninstrumentarium schändlichst manipulativer Intrige, einschließlich ihm ergebener Denunziationsverbündeten (unter ihnen ragt sein Sohn Yair heraus), spezialisiert in der Verbreitung giftiger Fake News und orchestrierter Schändung von Leumund und Renommee.

Nicht von ungefähr sagte Yair Lapid, Oppositionsführer in der Knesset, mit Bezug auf besagte Regierungssitzung: “Netanjahu ist kein Opfer, sondern ein weinerlicher Feigling.” Er fügte hinzu: “Der Mann, der eine Giftmaschine errichtet hat, der ausländische Milliardäre ins Land gebracht und eine Hetzmaschinerie aufgebaut hat, die nach und nach die Medien in Israel erobert, dieser Mann beklagt sich larmoyant, dass man gegen ihn hetzt.” Er bezeichnete Netanjahu als schlechten, selbstmitleidigen und scheiternden Premierminister, “der sich nur mit sich selbst und seinen persönlichen Interessen beschäftigt. Er muss gehen.”

Warum fürchtet Netanjahu, dass man ihm an den Kragen gehen wollen könnte?

In der Tat muss man schon so narzisstisch, ja nachgerade soziopathisch geartet sein wie Benjamin Netanjahu, einer der bestbeschützten Politiker in der Welt, um seine Paranoia solcherart zur Ideologie gerinnen zu lassen, dass er sich den Attentatsvorfall in Pennsylvania zu eigen macht und (gemeinsam mit seinen Ministern) in ein Wehklagen über die imaginierte Bedrohung seines Lebens durch Bürger seines Landes verfällt. Netanjahus Leben war in Israel noch nie bedroht, auch nicht das seiner Frau und nicht das seines älteren Sohnes (der schon seit vielen Monaten in Luxushotels in Miami weilt und auf israelische Staatskosten 24 Stunden am Tag beschützt wird). Aber “Oi, werde ich einen Durst haben!”

Zu fragen bleibt gleichwohl, warum er sich so geriert. Mit Bestimmtheit lässt sich das nicht beantworten. Aber vermuten lässt sich, dass Netanjahu sich zwar wohlbeschützt weiß und in Sicherheit wiegen darf, zugleich aber auch ahnt, dass er so viel verbrochen, mithin Israel solch katastrophischen Schaden zugefügt hat, dass man ihm an den Kragen gehen wollen könnte. Die reale Gefahr einer gegen ihn geübten Gewalt besteht zwar nicht, aber das Gefühl, dass sie nicht unverdient wäre, umtreibt ihn wohl sehr. Allerdings ist auch diese Vermutung nicht sonderlich plausibel. Sie würde voraussetzen, dass Benjamin Netanjahu ein Gewissen hat.

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