Das Missverständnis von Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen, bei Overton-Magazin erschienen Artikel auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

https://overton-magazin.de/top-story/das-missverstaendnis/

Das Missverständnis

von

Nach einem Angriff jüdischer Siedler auf al-Mughayyir im besetzten Westjordanland im April 24. Screenshot aus dem Video

Israels Kritiker im Ausland und Israelis im Ausland, die auf Kritik an ihrem Land stoßen, entziehen sich einem möglichen Dialog. Warum ist dem so?

 

Das Klischee besagt, dass wenn jüdische (auch kritische) Israelis im Ausland einer satten Kritik ihres Landes ausgesetzt sind, sie als Reaktion sogleich zu “Patrioten” werden, die Kritik “von außen” mithin nicht zulassen, auch wenn sie sie nicht aktiv abwehren. Ein innerer Schutzreflex wird aktiviert, der im Extremfall die “illegitime” (weil eben “von außen” kommende) Kritik als Antisemitismus abschmettert bzw. im gemäßigteren Fall als unzulässig abweist.

Das hat zum einen mit den Auswirkungen der “zuhause” erfahrenen ideologischen Indoktrination zu tun, die die Bürger des Staates gelehrt hat, dass “die ganze Welt gegen uns”, die politische Attacke gegen Israel nichts als eine neue Form des traditionellen Judenhasses sei, und wir uns daher nicht in der Gewissheit, historisch auf dem rechten Weg zu sein, beirren lassen dürfen. Derlei narzisstische Kollektivplatitüden gehören zwar zum Arsenal einer jeden national-chauvinistischen Selbstsetzung, gewinnen aber im zionistischen Selbstverständnis und in der von diesem abgeleiteten nationalen Identität eine besonders gewichtige Stellung, weil sie ex- bzw. implizit suggeriert, sich auf die historische Leiderfahrung der Juden, kulminierend im Holocaust, berufen zu dürfen.

Thema Okkupation ist in Israel tabuisiert

Zum anderen beruht dieses Muster aber auf einem Missverständnis, das sich aus der Situation im Ausland ergibt. Denn während die “von außen” kommende Kritik an Israel (insofern sie nicht einem realen antisemitischen Ressentiment entstammt) sich gemeinhin auf den israelische-palästinensischen Konflikt, auf die Okkupationsbarbarei und die sich aus ihr ergebenden partikularen Oppressionen und Gewaltausbrüche bezieht, befassen sich mittlerweile die wenigsten jüdischen Israelis mit diesem “Problem”. Die Realität Israels ist zwar von diesem “Problem” in jeglicher Hinsicht aufs tiefste geprägt, aber seine Bürger lassen sich von ihm kaum beeindrucken. Dafür hat Netanjahu über Jahre mit perfiden propagandistischen Machinationen und gewieften Manipulationen erfolgreich gesorgt. Die Kritik an Israel, auf die der israelische Bürger im Ausland trifft, stößt bei ihm daher auf ein Unverständnis, das sich dem “Antisemitismus”-Vorwurf verschwistert, statt sich mit dem realitätsbezogenen Inhalt der Kritik auseinanderzusetzen – diesen hat er ja ideologisch-effektiv verdrängt.

Das zeigt sich im gegenwärtigen Krieg mit besonderer Deutlichkeit. Unmittelbar nach dem 7. Oktober fühlten sich die meisten Israelis durch das barbarische Hamas-Massaker in ihrem fundamentalen (über Jahrzehnte ideologisch geformten) Opferbewusstsein bestätigt und waren dadurch von vornherein gegen die ausländische Kritik an der Maßlosigkeit der von Israel im Gazastreifen aus Rache- und Vergeltungsbedürfnis praktizierten Mord- und Verwüstungsexzesse gleichsam immunisiert. Nicht nur wurde in den israelischen Medien nicht in Bildern vermittelt und journalistisch erörtert, was alle Welt seit Beginn des Krieges zu sehen bekam, sondern die Bereitschaft, sich den horrenden Auswirkungen der IDF-Aktionen auszusetzen, kam erst gar nicht auf, wurde gleichsam – konsensuell abgestimmt – im Keime erstickt. Nicht von ungefähr handelte sich UN-Generalsekretär António Guterres das Attribut des “Antisemiten” ein, als er vom Kontext des 7. Oktober zu sprechen wagte. Es ist ja genau dieser Kontext (die anhaltende Okkupation), der im israelischen Diskurs seit Jahren tabuisiert ist.

Zerrissene innerisraelische Gesellschaft

Der ausländischen Kritik kann das egal sein; sie sucht ja nicht den Dialog mit dem Israeli im Ausland. Und doch müsste auch sie sich vor Augen führen, dass sich der kritische Israeli mit etwas anderem in den letzten beiden Jahren intensiv befasst, namentlich mit dem innerisraelischen Desaster einer Gesellschaft, die sich mittlerweile gefährlich nah am Rande des Bürgerkriegs bewegt. Was im Ausland zumeist nicht begriffen wird, ist die den zionistischen Staat heftig beutelnde politische (letztlich auch soziale) Zerrissenheit.

Dem 7. Oktober gingen neun Monate voran, während denen eine massive Protestbewegung israelischer BürgerInnen mit gesammelten Kräften bemüht war, den von der israelischen Führungsspitze für eine “Justizreform” ausgegebenen Staatsstreich aufzuhalten, bei dem es Netanjahu und Konsorten darum ging, das Justizsystem derart zu schwächen, dass die Gewaltenteilung zu erodieren, die formale israelische Demokratie endgültig zu kollabieren und eine anvisierte Diktatur des Premierministers sich zu formen begann. Netanjahu hatte ein persönliches Interesse an dieser Entwicklung, weil sie den gegen ihn wegen Korruption, Betrug und Veruntreuung geführten Prozess aushebeln und seinen Machterhalt garantieren sollte, nicht zuletzt dadurch, dass er die sektorialen Bedürfnisse seiner Koalitionspartner ungestört bediente.

Der 7. Oktober ließ diese zivilgesellschaftlich beeindruckende Protestbewegung nahezu völlig erlahmen, als der Krieg ausbrach und alle Staatsinstitutionen, aber auch der öffentliche politische Diskurs gleichsam gleichgeschaltet wurden. Erst in den letzten Wochen, als sich zunehmend herausstellte, dass Netanjahu und seine Koalition bereit sind, die von der Hamas unter lebensbedrohlichen Bedingungen gefangen gehaltenen Geiseln zu opfern, um ja nicht den Krieg beenden zu müssen, verstärkten sich die Protestaktionen gegen Netanjahu und seine Koalitionspartner, freilich in viel kleinerem Maßstab und keinesfalls vergleichbar mit der Intensität und Persistenz des Protests vor dem 7. Oktober.

Man vergesse gleichwohl nicht, dass bei der Demonstrationsaktivität vor Ausbruch des Krieges und erst recht danach zu keinem Zeitpunkt das “Problem” – der von Guterres als solcher apostrophierte “Kontext” – thematisiert, geschweige denn zum zentralen Anliegen eines Ausgangs aus der Misere erhoben wurde. Das über die Thematisierung der Okkupation verhängte Tabu hat sich eher verstärkt und verfestigt.

Und so kommt es, dass ein Deal mit Hamas zur Geiselbefreiung, der einiges von der Verfahrenheit der innerisraelischen Situation zu lösen vermöchte, systematisch verhindert wird: Ein Waffenstillstand im Gazastreifen würde auch die derzeitigen Kampfhandlungen mit der Hisbollah beenden, die Rückkehr der Evakuierten im Norden und Süden des Landes zu ihren Wohnorten ermöglichen und anderen Maßnahmen zur geopolitischen Pazifizierung der Region Vorschub leisten. Das liegt aber nicht im Interesse des am unbedingten Machterhalt orientierten Netanjahu.

Und das Erstaunliche: Er, der die Hauptverantwortung für die Katastrophe des 7. Oktobers und das Desaster des Gazakriegs trägt und sich zu dieser Verantwortung nicht einmal zu bekennen bereit ist; er, der die israelische Gesellschaft polarisiert und gespalten hat wie kein Politiker in der gesamten israelischen Parlamentsgeschichte zuvor; er, der keine Skrupel hat, die Geiseln zu opfern, mithin ein zentrales moralisches Gebot des zionistischen Ethos fundamental zu verraten; er, der zu keinem Zeitpunkt aufgehört hat, seine Politik verlogen, manipulativ und korrupt zu betreiben – hat Erfolg. Keine nennenswerte Opposition hat sich gegen ihn im Parlament erhoben. Er will einen möglichst langen Krieg und sorgt dafür, dass der Krieg andauert (jetzt schon mit der Option einer neuen Front im Libanon). Er ist erstarkt (was unmittelbar nach dem 7. Oktober niemand für möglich gehalten hätte). Und es ist nicht ausgemacht, dass er die nächsten Wahlen nicht wieder gewinnen wird – wenn nicht mit seiner Partei (der z.Z. eine Niederlage vorausgesagt wird), so doch als der bevorzugte Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten.

Und darin liegt das Missverständnis der Auslandskritik an Israel wie auch des auf diese Kritik im Ausland reagierenden Israeli. Die Auslandskritik, die die Palästinenserfrage zu thematisieren trachtet, begreift nicht, dass Israels Politiker wie auch die allermeisten israelischen BürgerInnen dagegen immun sind; und jene, die die Auswirkungen des israelischen Krieges kritisieren, begreifen nicht, dass der Krieg im Interesse der gegenwärtig in Israel herrschenden Regierung liegt, die Politiker des zionistischen Staates mithin gegen diese Kritik immun sind. Und der auf die Kritik an Israel im Ausland stoßende Israeli, begreift offenbar nicht, dass seine “patriotische” Reaktion auf sie nichts anderes indiziert, als seine Erbärmlichkeit sowohl im Hinblick auf die Beurteilung der Triftigkeit dieser Kritik als auch im Hinblick auf das Erkennen der negativen Funktion, die dieser reflexartige “Patriotismus” im Ausland im Kontext der Bekämpfung der innerisraelischen Katastrophe erfüllt.

Ähnliche Beiträge:

 

--

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Entdecke mehr von Sicht vom Hochblauen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen