Das postsowjetische Russland ist tot – Eine Transformation mit offenem Ausgang Eine Analyse von Dmitri Trenin

Es lohnt sich mit Russland und seiner Transformation zu beschäftigen    Evelyn Hecht-Galinski

Das postsowjetische Russland ist tot – Eine Transformation mit offenem Ausgang

Russland ist im auslaufenden Jahr in eine neue Phase der Turbulenzen eingetreten und hat sich dadurch bis fast zur Unkenntlichkeit verändert. Aber wir müssen erst noch genau verstehen lernen, welche Veränderungen tatsächlich stattgefunden haben. Eine Analyse von Dmitri Trenin Um mit einem Wort zu beschreiben, wie sich das Jahr 2022 für Russland gestaltete?

Das postsowjetische Russland ist tot – Eine Transformation mit offenem

Ausgang

Eine Analyse von Dmitri Trenin

Russland ist im auslaufenden Jahr in eine neue Phase der Turbulenzen eingetreten und hat sich dadurch bis fast zur Unkenntlichkeit verändert. Aber wir müssen erst noch genau verstehen lernen, welche Veränderungen tatsächlich stattgefunden haben.
Das postsowjetische Russland ist tot – Eine Transformation mit offenem AusgangQuelle: Sputnik © Mikhail Klimentyev / SPUTNIK / AFP

Eine Analyse von Dmitri Trenin

Um mit einem Wort zu beschreiben, wie sich das Jahr 2022 für Russland gestaltete? Ich würde sagen: Transformativ.

Das ist an sich nichts Neues. Kriege rekonstruieren ausnahmslos die Grundlagen derer, die sie führen. Der Konflikt in der Ukraine ist keine nebensächliche Angelegenheit. Bereits nach zehn Monaten scheint seine Wirkung weitaus größer zu sein als jene des Krimkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts oder des russisch-japanischen Krieges Anfang des 20. Jahrhunderts. Die passendste Analogie, die man dazu in der russischen Geschichte finden kann, ist der Erste Weltkrieg, und das nicht nur aufgrund der Dominanz der Artillerie und der Realität der Kriegsführung in den Schützengräben.

Dieser Krieg in der Ukraine ist für Russland der erste Konflikt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der eine – wenn auch noch begrenzte – Mobilisierung erforderte. Und er wird sicherlich auch der größte Krieg in Bezug auf die erlittenen Verluste sein.

Dieser Krieg ist jedoch nur ein gewaltsames Element in einem umfassenderen hybriden Konflikt zwischen Russland und dem kollektiven Westen. Dementsprechend wurden die sogenannten „Sanktionen aus der Hölle“ verhängt und anschließend viele noch strengere Maßnahmen, die sich nur wenige Menschen noch vor einem Jahr hätten vorstellen konnten. In der Folge wurde Russland praktisch vollständig vom westlich dominierten globalen Finanzsystem ausgeschlossen. Dabei wurde der Handel mit Westeuropa, dem Hort von Moskaus traditionellen Hauptwirtschaftspartnern, stark eingeschränkt und die Beziehungen im Energiebereich zwischen der EU und Russland, die wichtigste materielle Säule der Beziehungen zu Westeuropa, wurden umgehend niedergerissen. Die Hälfte der Währungsreserven Russlands im Ausland wurden eingefroren und die Privatvermögen einiger Bürger des Landes beschlagnahmt.

Auf der politischen Seite wurde Russland nicht nur gezwungen, den Europarat zu verlassen. Außenminister Lawrow wurde von der Teilnahme an der Jahrestagung der OSZE ausgeschlossen und durfte erst im letzten Moment an der Sitzung der UN-Generalversammlung teilnehmen. Etwa zwei Drittel der UN-Mitgliedsstaaten haben Russlands Vorgehen in der Ukraine verurteilt; das Europäische Parlament hat Russland als staatlichen Sponsor des Terrorismus gebrandmarkt, und der Deutsche Bundestag hat Moskau die alleinige Schuld für die Hungersnot der frühen 1930er-Jahre in der Sowjetunion aufgebürdet, was in Bezug auf die damals betroffenen ukrainischen Gebiete heute als „Völkermord“ bezeichnet wird. Die deutsch-russische Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg, eines der Wunder der Geschichte, erodierte umgehend.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, arbeiteten viele im Westen daran, so etwas wie eine moralische Hinrichtung Russlands herbeizuführen und das Land zu einer modernen Version eines Deutschland nach 1945 zu machen. Man verbietet die russische Kultur, schließt russische Sportler von internationalen Wettbewerben aus – einschließlich von der Fußballweltmeisterschaft und den Olympischen Spielen – und verbannt sogar russische Kleintiere aus Schönheitswettbewerben für Hunde und Katzen.

Das Ausmaß und die Heftigkeit dieser Breitseiten wurden von der Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft, seiner Gesellschaft und der Politik mehr als bloß aufgefangen. Das BIP des Landes ist zwar geschrumpft, aber im vergangenen Jahr um weniger als drei Prozent bei einer Inflation von etwa 12 Prozent – das ist niedriger als in vielen EU-Mitgliedstaaten. Der Bevölkerung ist es im Großen und Ganzen gelungen, sich an die neuen Umstände anzupassen, einschließlich an den völlig unerwarteten Schock der militärischen Mobilisierung.

Da viele Exporte nach Russland verboten wurden, hat das Land erneut gelernt, Produkte in großem Umfang selbst herzustellen, von Kleidung bis hin zu Passagierflugzeugen. Technologische Souveränität ist kein Schlagwort mehr, sondern Politik geworden. Die finanzielle Souveränität wird durch ein nationales Zahlungssystem und der Außenhandel unter Verwendung von binationalen Währungen, einschließlich des Rubels, gestärkt.

Westliche Restriktionen und die allgemeine Russlandfeindlichkeit haben dazu beigetragen, Restillusionen über Westeuropa und Nordamerika zu beseitigen und der längst überfälligen Neuausrichtung der russischen Außenhandelspolitik auf Asien, auf den Nahen Osten, auf Afrika und Lateinamerika kräftigen Auftrieb zu geben. Russische Eliten, die mit einer binären Wahl konfrontiert waren, haben einen Prozess der Selbstreflexion durchlaufen: Einige sind in Russland geblieben, während andere näher an ihr Vermögen im Ausland gezogen sind. Pro-westliche Bewegungen innerhalb Russlands haben die meisten ihrer wichtigsten Vorkämpfer und Anhänger verloren, von denen die meisten ausgewandert sind, während der russische Patriotismus bei vielen Bürgern gestärkt wurde. In Bezug auf Werte und Ideen wird die Kultur des Konsums von der Kultur des Gemeinwohls herausgefordert.

Kann es sein, dass die schlimmsten Zeiten auch die besten Zeiten sein können und dass das, was man derzeit in Russland erlebt, einer schöpferischen Zerstörung gleichkommt? Das mag sein, aber an der Schwelle zum Jahr 2023 stehen wir erst ganz am Anfang eines Prozesses, der verspricht, so weltbewegend zu werden wie der Untergang der Sowjetunion, aber in die entgegengesetzte Richtung geht. Es stimmt, es herrscht immer noch viel Unsicherheit. Schlechte Dinge können die guten Entwicklungen immer noch verdrängen. Ein Teil der Elite träumt immer noch davon, sich mit dem Westen zu versöhnen, selbst um den Preis einer Kapitulation, und die Geduld der einfachen Leute könnte angesichts neuer außergewöhnlicher Härten jederzeit zu Ende gehen. Es ist jedoch einfach unmöglich, die Uhr auf den 22. Februar 2022 zurückzudrehen, geschweige denn auf 2013. Das wird einfach nicht passieren.

Russland ist keine Nation, die sich an Versuch und Irrtum orientiert. Historisch gesehen bewegte sich Russland von einer Krise zur nächsten, mit Phasen des Friedens und der Ruhe – und dazwischen des unvermeidlichen Verfalls. Nach dem Ende des Krieges in Tschetschenien genoss Russland zwei Jahrzehnte Frieden, relative Stabilität und ein gewisses Maß an Wohlstand. Jetzt ist es an der Zeit, sich einer großen neuen Krise zu stellen, die gerade erst begonnen hat, nachdem die erste Ausgabe des postsowjetischen Russlands ihr Potenzial nachweislich erschöpft hat.

Die Konturen der Russischen Föderation 2.0 sind noch nicht ganz klar. Man kann nur auf eine lebensfähigere und sich selbst tragende Wirtschaft hoffen, mit unabhängigeren und solideren Finanzen; einer leistungsfähigeren technologischen und wissenschaftlichen Basis; einem gerechteren Gesellschaftsvertrag; einem politischen System, das den Bürgern gegenüber rechenschaftspflichtiger ist; einer leistungsorientierten Elite, die eher dem Allgemeinwohl als dem Individuum dient; einem Militär, das auf der nicht nuklearen Seite stärker ist; einer Außenpolitik, die sich eng mit der wachsenden globalen Mehrheit nicht westlicher Länder verbindet und – schließlich – eine zufriedenstellende Grundlage für neue Beziehungen zu Westeuropa und Nordamerika findet.

Das ist eine lange Wunschliste. Klar ist jedoch: Der Weg in eine bessere Zukunft für Russland muss in der Ukraine gelegt werden, – wenn auch zweifellos zu einem hohen Preis.

Aus dem Englischen

Dmitri Trenin ist Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Senior im Kollegium für Forschung am Institut für globale Ökonomie und internationale Beziehungen. Er ist zudem Mitglied des russischen Rates für internationale Beziehungen.

Mehr zum Thema – Nichts wird die Russen dazu bringen, eine Trennung von der Ukraine zu akzeptieren

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*