Das Unfassbare als Realität Von Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen, heute auf Overton veröffentlichten neuen Artikel, auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

https://overton-magazin.de/top-story/das-unfassbare-als-realitaet/

Das Unfassbare als Realität

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Ministerpräsident Netanjahu beim IDF Home Front Command am 1. August. Bild: Ma’ayan Toaf, GPO

Was kann man nach den zehn vergangenen Monaten seit dem 7. Oktober über Israels Situation sagen?

 

Zehn Monate sind nun seit dem 7. Oktober vergangen, und man mag es kaum glauben, aber die israelische Katastrophenregierung unter Leitung Benjamin Netanjahus steht noch immer unangefochten an der Spitze des Landes. Nun, angefochten mag sie wohl sein, aber nicht in der Oppositionsintensität, vor allem aber nicht mit der für eine solche nötigen kritischen politischen Masse ausgestattet, um einen Sturz dieser verbrecherischen Politführung zu bewerkstelligen. Wie kann das sein? Dies hat mehrere Gründe, von denen einige hier erörtert seien.

Was die Opposition als solche anbelangt, muss man sich eingestehen, dass die zur Verfügung stehenden Alternativen nicht sonderlich attraktiv sind. Einige ihrer Führer mögen integrer sein als Netanjahu (wozu freilich nicht sehr viel gehört), haben aber kein Alternativprogramm zur Regierungspraxis des Ministerpräsidenten aufzuweisen (so etwa Yair Lapid). Andere, wie Benny Gantz und seine Partei, haben ihr Kredit verspielt, als sie es in entscheidenden Momenten vorzogen, der Netanjahu-Regierung beizutreten, statt ihr eine ernstzunehmende Opposition zu bieten. Ihr Argument war, dass die Ausnahmesituation des Landes tatkräftige Mithilfe bei ihrer Bewältigung erfordere; Netanjahu lohnte ihnen diese Einfältigkeit mit wiederholtem Verrat – er führte sie politisch so vor, dass sie heute in Israel kaum noch als Alternative angesehen werden. Wieder andere, wie Avigdor Lieberman oder Gideon Sa’ar, bilden gesinnungsmäßig von vornherein keine Opposition zu Netanjahu; es ist lediglich parteipolitischen Querelen geschuldet, dass sie nicht beide dem Likud angehören.

Dass Netanjahu immer noch Regierungschef ist, hat also nicht zuletzt damit zu tun, dass er keine potenten Widersacher hat, die ihm politisch Paroli zu bieten vermögen. Und dennoch bleibt es unfassbar, dass er nach dem von ihm verschuldeten Desaster des 7. Oktober noch immer im Amt geblieben ist. Dafür hat er freilich strukturell (politisch vigilant) vorgesorgt, namentlich mit der Erschaffung einer Regierungskoalition, der rechtsradikalsten, die das israelische Parlament je gekannt hat, welche ihm die parlamentarische Mehrheit sichert, indem alle an ihr beteiligten Parteien ein partikulares Interesse an ihrem Erhalt haben: die beiden orthodoxen Parteien, weil sie, ohne im politischen Tagesgeschehen Israels ernsthaft involviert zu sein, milliardenschwer subventioniert werden, sodass ihre männliche Klientel von Militärdienst freigestellt werden und sich dem Thorastudium widmen kann. Gleiches gilt für die Schas-Partei (politische Vertretung der orthodoxen Juden orientalischer Provenienz), die aber an mehr ministerieller Beteiligung für ihre Belange interessiert ist.

Die beiden nationalreligiösen Parteien unter Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich bilden den faschistischen Kern der Koalition; sie sind ideologisch gestählt in ihrem Bestreben, die Siedlungsexpansion im Westjordanland voranzutreiben, zeichnen sich durch einen araberfeindlichen Rassismus aus und sind unerbittlich in ihrer Forderung, den Krieg im Gazastreifen bis zum “siegreichen Ende” fortzuführen.

Das deckt sich nun vollkommen mit Netanjahus Anliegen. Sein privates Interesse besteht ja darin, dass der Kriegszustand möglichst lang erhalten bleibe, damit der Aufruf zum Rücktritt zurückgewiesen oder die Gründung einer staatlichen Untersuchungskommission zur Erforschung des Fiaskos vom 7. Oktober vertagt werde (in Kriegszeiten sind solche drastischen Schritte “für gewöhnlich” tabuisiert). Das ermöglicht Netanjahu auch, den Fortgang seines Prozesses wegen Korruption, Betrugs und Veruntreuung noch mehr zu verzögern, als dies perfiderweise ohnehin bereits abgebremst worden ist.

Welche “Zufluchtsstätte für Juden” kann Israel noch zu sein beanspruchen, wenn es seine eigenen Bürger eklatant verrät?

Was sich allerdings als “glückliche Fügung” einer Kongruenz von kollektivem und privatem Interesse ausnehmen mag, ist das eigentlich Unbegreifliche am gegenwärtigen Zustand Israels. Denn Netanjahu hat nicht nur gleich nach Beginn des Krieges angefangen, die Schuld am Unglück, das Israel am 7. Oktober widerfahren war, von sich als politisch Verantwortlichem auf das Militär und auf die massiven Protestaktionen gegen seinen in den Monaten vor dem Krieg versuchten Staatsstreich abzuwälzen (er war schon immer ein großer Meister der polemischen Verleumdung und unverhohlenen Wahrheitsentstellung). Er hat auch nicht gezögert, sein Privatinteresse, dass der Krieg bis zum “totalen Sieg” weitergeführt werde, zum politischen Postulat zu erheben, als es um existenzielle Belange israelischer Bürgerinnen und Bürger ging (und bis zum heutigen Tag geht): Nicht nur hat er sich um Hunderttausende von Evakuierten im Süden und Norden des Landes nicht gekümmert, sondern er ist auch der zentrale Urheber der Verhinderung eines möglichen Deals mit der Hamas zur Befreiung der in ihrer Gefangenschaft gemarterten israelischen Geiseln (sofern sie überhaupt noch leben).

Das verzweifelte Flehen der Angehörigen der Geiseln, einen Deal mit der Hamas einzugehen, blieb unerhört; über Monate weigerte er sich, sie zu treffen (wenn sie nicht zu seinen Wählern zählten). Man kann sich keinen größeren Verrat am Grundvertrag zwischen Regierung und BürgerInnen vorstellen, als diesen. Denn wenn eine Regierung schon nicht mehr die Verantwortung übernimmt für ihr Versagen, die Sicherheit der BürgerInnen des von ihr regierten Staates zu garantieren (wie es in Israel am 7. Oktober in katastrophalem Ausmaß geschah), und diese Regierung sich auch weigert, von Feinden entführte Geiseln zu befreien (die Propaganda der Netanjahu-Regierung hat es geschafft, die Angehörigen der Geiseln zu Verrätern an der Kriegsanstrengung zu machen), dann erhebt sich ein ernsthafter Zweifel an der Raison des Staates. Im israelischen Fall darf dies auch als eine dezidierte Unterwanderung eines der fundamentalen Postulate des Zionismus gewertet werden. Welche “Zufluchtsstätte für Juden” kann Israel noch zu sein beanspruchen, wenn es seine eigenen Bürger so eklatant verrät?

Als in einer Sitzung der Verteidigungsminister, der Generalstabschef und die amtierenden Bosse der Geheimdienste Netanjahu mit dem Hinweis bedrängten, dass es höchste Zeit für einen Deal sei, wenn man die Entführten noch retten möchte, raunzte er sie an: “Ihr seid Weichlinge… ihr habt keine Ahnung, wie man eine Verhandlung führt.”

Nicht von ungefähr schrieb darüber der empörte Haaretz-Kolumnist Nehemia Shtrasler: “Es ist lächerlich, dass gerade er sich der Fähigkeit rühmt, Verhandlungen zu führen. Er ist doch darin ein Riesenversager. Bei den letzten Verhandlungen zur Regierungsbildung hat er vor jeder Rotznase kapituliert und schuf eine gigantisch aufgeblähte Regierung. Heute zählt sie 32 Minister und 5 Vizeminister. In den Verhandlungen zu ihrer Bildung hat er dem Druck der Orthodoxen und der Siedler nachgegeben (obwohl sie keine Alternative hatten) und übergoss sie mit 13.7 Milliarden Schekel, die heute zur Finanzierung des Krieges fehlen. Er kapitulierte auch vor Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, indem er dem ersten die totale Kontrolle über die Staatskasse und einen Ministerposten im Sicherheitsministerium und dem anderen, einem vorbestraften Kriminellen und glühenden Kahanisten, die Kontrolle über die Polizei verlieh.”

„Volk der Ewigkeit“

Aber es geht letztlich um etwas Gewichtigeres bei dieser Entwicklung. Denn Netanjahu, seine Koalitionspartner und die Oppositionspolitiker, also alle Protagonisten der politischen Sackgasse Israels, sind ja nur die Vertreter derer, die sie gewählt haben. Bezeichnend ist, dass bei allen Demonstrationen, die in Israel mit beeindruckender Ausdauer stattfinden, noch keine kritische Masse zusammengekommen ist, um den Forderungen der Demonstrierenden soziales Gewicht zu verschaffen – weder bei den Anti-Netanjahu-Demonstrationen noch bei denen für die Befreiung der Geiseln; von Demonstrationen für die Beendigung der Okkupation und den Beginn von Verhandlungen zur politischen Beilegung des Konflikts ganz zu schweigen; die gibt es gar nicht. Dass dem so ist, mag auf eine Erschöpfung der Bevölkerung zurückzuführen sein (vermutlich auch darauf, dass man mit der Hamas einen Feind vor sich hat, den nach dem 7. Oktober niemand in Israel als Verhandlungspartner akzeptieren mag).

Aber es will scheinen, als seien dabei noch ganz andere politische Unterströmungen am Werk. Paradigmatisch ist in diesem Zusammenhang die Rede, die Brigadegeneral Barak Hiram beim Abschied von seiner Division im Gaza-Krieg (auf dem Weg zur höheren Beförderung) sprach. Hiram machte vor einigen Wochen Schlagzeilen, als sich herausstellte, dass er bei den Kämpfen am 7. Oktober den Befehl gab, ein Gebäude in einem Kibbutz zu beschießen, um Terroristen zu beseitigen, obgleich er wusste, das sich in diesem Gebäude auch gefangene Kibbutzbewohner befanden, die durch den Beschuss zu Tode kamen.

Wes Geistes Kind Barak Hiram ist (er entstammt einer Siedlung im Westjordanland) konnte man seiner Rede unmissverständlich entnehmen. Er sprach von einer neuen israelischen Kultur, die sich im Land ausgebreitet habe, eine Kultur, “die alles sofort will, ein Exit [schnellen Profit] macht… darauf aus ist, cool und energetisch zu sein, abgetrennt von den Verpflichtungen ihrer Vergangenheit gegenüber, von der Last der Zukunft und sich vor allem dem gegenwärtigen Moment hingibt.”

Er wusste auch vom Preis zu berichten, den man dafür hat zahlen müssen: “Unsere Feinde haben das erkannt und witterten eine Gelegenheit, uns zu vernichten.” Aber so wie schon Hölderlin wusste, “Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch”, kam auch dem hölderlinisierenden israelischen General die Erkenntnis: “Durch die oberflächliche Verpackung von Vergnügen und Ausschweifung hindurch kommen die antiken Glaubensbekenntnisse und Werte zum Vorschein, die uns alle vereinen und uns zum Volk der Ewigkeit werden lassen.”

Haaretz-Kolumnistin Yoana Gonen reagierte auf die Rede mit dem Verdikt: “Unter dem Deckmantel einer Abschiedsrede breitete Hiram vor uns de facto seine Vision vom zukünftigen Israel aus, einem spartanischen Staat, in dem seine Bürger auf dem Schwert leben; niemand verlässt es und niemand betritt es, niemand öffnet den Mund, um zu pfeifen.” Ihr Kollege Rogel Alper war noch deutlicher. Ihm gilt Barak Hiram als der “hochrangige Vertreter des Faschismus an der Spitze der IDF”.

Im Klartext: Das liberale Tel Aviv und seine mediterran-offene Lebensweise werden als der in Israel zu bekämpfende innere Feind ausgemacht – lebensfreudige Hedonisten, linke Verräter, säkulare Abtrünnige. Ihm gegenüber werden das biblische Judentum und das “Land der Urväter” heraufbeschworen (heute vertreten durch Hiram und Seinesgleichen aus dem Siedlungswerk im Westjordanland), vor allem aber auch die alten Werte, die schon immer zu vermitteln wussten, dass “wir” das “Volk der Ewigkeit” seien, von Gott auserwählt, und daher im Bewusstsein zu leben haben, dass wir ganz allein auf der Welt sind, uns nur auf das Schwert verlassen dürfen, mithin den Auftrag haben, den “Vergnügungen des Lebens” zu entsagen, um den nie endenden Kampf (die “Last der Zukunft”) gegen die äußeren Feinde bestehen zu können.

Brigadegeneral Barak Hiram wird befördert. Er wird es noch weit bringen. Das an sich ist schon unfassbar, unfassbarer noch, dass er auf viele Anhänger in der israelischen Bevölkerung zählen darf. Dass aber dies Unfassbare Realität ist, Israels Wirklichkeit im Jahr 2024, ist wohl das Unfassbarste.

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