Der Film „Der Gerechte“ erzählt die Geschichte eines Russen, der Hunderte Juden rettete Von Jewgeni Norin

Wann wird dieser wichtige Film, auch  in deutschen Kinos zu sehen sein?   Evelyn Hecht-Galinski

Der Film „Der Gerechte“ erzählt die Geschichte eines Russen, der Hunderte Juden rettete

Mehr als 2.000 Nachkommen von jenen Menschen, die der kleinen Partisanen-Einheit von Nikolai Kiseljow ihr Überleben verdanken, leben heute auf der ganzen Welt verstreut. Der Film „Der Gerechte“ erzählt die Geschichte von Russen, die Hunderte Juden vor dem Holocaust retten konnten.

 

Der Film „Der Gerechte“ erzählt die Geschichte eines Russen, der Hunderte Juden rettete

Von Jewgeni Norin

Mehr als 2.000 Nachkommen von jenen Menschen, die der kleinen Partisanen-Einheit von Nikolai Kiseljow ihr Überleben verdanken, leben heute auf der ganzen Welt verstreut. Der Film „Der Gerechte“ erzählt die Geschichte von Russen, die Hunderte Juden vor dem Holocaust retten konnten.
Der Film "Der Gerechte" erzählt die Geschichte eines Russen, der Hunderte Juden rettete© © Central Partnership Productions

Von Jewgeni Norin

Nikolai Kiseljow war keiner der berühmtesten Helden des Zweiten Weltkriegs. Und wäre da nicht der unerwartete Kassenerfolg von „Der Gerechte“ (A Righteous Man, russisch: Prawednik ), einem neuen russischen Kriegsdrama unter der Regie von Sergej Ursuljak, wäre seine Leistung vielleicht eine der vielen wenig bekannten Episoden in diesem langen und blutigen Krieg geblieben. An seinem ersten Wochenende hat dieser „Film über einen wahren Helden“ den Megahit „Tscheburaschka“ von der Spitze der nationalen Kinokassen verdrängt.

Wie der Regisseur selbst sagte, handelt es sich bei diesem Film nicht um einen rechtschaffenen Mann, sondern um jemanden, „der tat, was getan werden musste“. Kiseljow, gespielt von Alexander Yatsenko, hatte überhaupt nicht die Absicht, ein Kriegsheld zu werden – er war ein ruhiger, kompetenter Angestellter, der es vorzog, Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Aber durch die Umstände wurde er zum Partisanen und aus eigener innerer Kraft zum Helden, der ein humanitäres Wunder vollbrachte.

Eine jüdische Hölle

Zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, wurde die Evakuierung aus den westlichen Gebieten der UdSSR unterbrochen. Zehn Millionen Menschen waren in den von den Nazis besetzten Gebieten gefangen. Juden waren in der schlimmsten Lage – sie konnten unter keinen Umständen mit der Gnade der Deutschen rechnen. In einigen Gebieten wurde die Situation durch den wilden Antisemitismus lokaler Nazi-Anhänger zusätzlich verschlimmert. So war beispielsweise Estland bereits im Dezember 1941 nach buchstäblich sechs Monaten Besatzung für „judenfrei“ erklärt worden. Historisch gesehen hatten viele Juden in diesen Gebieten gelebt, und jetzt wurden sie deportiert oder gleich umgebracht.

Nördlich von Minsk in Weißrussland gab es eine jüdische Stadt namens Dolginowo, die ziemlich schnell vom Krieg überrollt wurde: Feldtruppen der Wehrmacht durchquerten das Gebiet, ohne anzuhalten. Die Räder der Vernichtungsmaschine begannen sich nicht sofort in Bewegung zu setzen, aber im Frühjahr 1942 erinnerte man sich an Dolginowo. Die übliche Methode der Nazi-Strafeinheiten – sowohl in jüdischen als auch in slawischen Dörfern – bestand darin, die Siedlung abzusperren, ihre Bewohner in ein großes Gebäude zu treiben, es in Brand zu stecken und dann diejenigen zu erschießen, die versuchten zu fliehen. Genau dieses Schicksal ereilte Dolginowo 1942.

Die rettenden Partisanen

Man mag es nicht glauben, aber es gelang vielen Bewohnern zu überleben. Einige flohen in die Wälder, während andere es sogar schafften, sich zwischen den brennenden Häusern zu verstecken und zu überleben. Insgesamt sammelten sich schließlich mehr als 200 Überlebende in den umliegenden Wäldern.

Doch nun standen sie vor der Frage, was zu tun war. Ja, es war ein warmer Sommer, aber es gab weder Nahrung noch Unterkunft, und im Herbst würde die Situation hoffnungslos werden. Wenn es Männer gegeben hätte, hätten sie sich den Partisanen anschließen können, aber unter den Überlebenden von Dolginowo befanden sich hauptsächlich Frauen und Kinder.

Sie wandten sich an Wassili Woronjanski, dem Kommandanten einer örtlichen Partisanengruppe. Woronjanski – gewöhnlich „Onkel Wasja“ genannt –, war vor dem Krieg Offizier eines Fernmeldebataillons. Im Sommer 1941 wurde seine Einheit umzingelt, doch statt nach Osten zu fliehen, blieb er vor Ort und gründete seine eigene Partisanengruppe. Bis 1942 hatte er eine schlagkräftige, gut bewaffnete Gruppe unter seinem Kommando und betrachtete den Schutz der Zivilbevölkerung als eine seiner Aufgaben. Die Überlebenden von Dolginowo stellten ihn jedoch vor ein Problem. Die Hunderte Flüchtlinge mussten ernährt werden, und außerdem hing das Überleben seiner Partisanen von der Mobilität ab. Frauen und Kinder waren keine passende Ergänzung zu einem mobilen Trupp. Woronjanski hatte zudem keinen Überschuss an Nahrungsmitteln und an warmer Kleidung. Eine Entscheidung musste getroffen werden.

Er beschloss also, die Menschen aus Dolginowo über die Frontlinie in das „Hinterland“ zu evakuieren. Angesichts der herrschenden Umstände war dies das Äquivalent zu einem Flug zum Mars, aber der Partisanenkommandant hatte einige Ideen. Nikolai Kiseljow wurde damit beauftragt, die Dolginowo-Juden in Sicherheit zu bringen.

Der Auserwählte

Kiseljow wurde in der Nähe der Stadt Ufa in Baschkirien geboren und war weniger als dreißig Jahre alt. Ursprünglich hatte er nicht vor, Offizier zu werden. Er absolvierte das Institut für Außenhandel in Leningrad –, der sowjetische Name für St. Petersburg –, konnte aber aufgrund des Krieges nicht in seiner gewählten Karriere Fuß fassen. Er diente als Junioroffizier in der Miliz, aber im Herbst 1941 wurde seine Einheit in der Nähe von Wjasma umzingelt, Kiseljow verwundet und gefangen genommen.

Hier zeigte er jedoch seinen wahren Charakter. Sobald er sich erholt hatte, entkam Kiseljow – er sprang mit anderen Gefangenen aus einem fahrenden Gefangenenzug, der in Richtung Westen unterwegs war. Nachdem er erschöpft und immer noch von seiner Verwundung geplagt ein Dorf erreicht hatte, versteckte er sich dort, bis der junge Offizier von Partisanen aufgegabelt wurde. Bis 1942 hatte er sich bereits als taktischer Kommandant in der Abteilung von Woronjanski etabliert, der Kiseljow nun mit einer teuflisch schwierigen Mission betraute.

Zunächst organisierte er ein Feldlager, um sich mit den Überlebenden aus dem Dorf Dolginowo auf den Marsch vorzubereiten. Außer dem Kommandanten und den Flüchtlingen, darunter 35 Kinder, bestand der Treck nur aus sieben bewaffneten Partisanen, darunter eine junge Frau namens Anna Sirotkowa. Ende August brach die Karawane Richtung Osten auf.

Ein harter Weg

Ziel der Partisanen war das „Surasch-Tor“ –, einer der seltsamsten Orte entlang der sowjetisch-deutschen Frontlinie. Dieser Sektor an der Grenze zwischen Russland und Weißrussland war eine solide Ansammlung von extrem dichten Wäldern und Sümpfen. Daher gab es dort lange Zeit keine Frontlinie als solche: Große Streitkräfte konnten dort nicht durchkommen, während nur spärliche Patrouillen einen Abschnitt von etwa vierzig Kilometern Länge kontrollierten.

Aus Sicht der Russen bestand die Hauptfunktion des „Tors“ darin, die Partisanen zu versorgen. Es war quasi ein „Autobahn-Anschluss“ für abgelegene Orte – und mehrere Tausend Menschen passierten es innerhalb weniger Monate. Ausbilder und Partisanen –, ausgerüstet mit Funk und Sprengstoff –, gingen Richtung Westen, während Zivilisten, Verwundete, Spezialisten und Kommandeure, die es für wichtig hielten, sich aus dem deutschen Rücken zu evakuieren, in die entgegengesetzte Richtung gingen.

Kiseljow und sein Trupp mussten Hunderte Kilometern laufen. Das „Surasch-Tor“ war keine Garantie für eine Rettung, es bot nur eine Aussicht auf Erfolg.

Buchstäblich zu Beginn des Marsches geschah das Unerwartete. Die Partisanen stießen auf eine deutsche Patrouille. Die Leute zerstreuten sich und gingen in Deckung, aber Kiseljow hatte bereits alle angewiesen, was in solchen Situationen zu tun wäre und wohin sie gehen sollten, sodass dieser Vorfall nur wenige Folgen hatte: Lediglich ein paar Menschen gingen verloren, und diese fanden schließlich ihren Weg zurück zur Gruppe. Innerhalb von drei Tagen war es Kiseljow gelungen, seine Schützlinge wieder zu sammeln.

Die Gruppe bewegte sich fast immer nur nachts auf Waldwegen. Die Straßen zu benützen wäre tödlich gewesen, sie zu überqueren jedes Mal eine nervenaufreibende Angelegenheit. Wären sie auf eine Patrouille gestoßen, hätte sich eine Gruppe von acht bewaffneten Partisanen nicht freischießen können. Angesichts der Anzahl an Kindern und Frauen wäre es unrealistisch gewesen, einer Patrouille zu entkommen. Daher mussten sie mit größter Vorsicht vorgehen. Oft waren große Umwege durch die Wälder nötig, um einen besonders gefährlichen Sumpf oder ein im Weg stehendes deutsches Feldlager zu umgehen.

Niemand wird zurückgelassen

Lokale Partisanen stellten manchmal Essen und Führer zur Verfügung. Die Route war nicht immer klar und es war notwendig, nur in eine ungefähre Richtung zu gehen. Lebensmittel mussten in den Dörfern requiriert werden. Wenn sich die erschöpften Flüchtlinge schlafen legten, machten Kiseljow und seine Kameraden weiter –, sie suchten nach Nahrung, erkundeten die Gegend, standen Wache und verhandelten mit Einheimischen. Alle waren chronisch unterernährt, viele waren krank.

Ein junger Mann namens Schimon hatte unterwegs blutigen Durchfall und konnte kaum mehr gehen. Jemand verlangte ihn zurückzulassen, aber seine Mutter sagte, sie würde nicht zulassen, dass ihr Sohn getötet werde. Der Partisanenkommandant befahl, den jungen Mann an den Armen zu stützen.

Ein dreijähriges Mädchen namens Bella weinte ständig vor Hunger. Das Kind war nicht zu trösten, aber sein Schluchzen hätte allen zum Verhängnis werden können – wegen der Sümpfe, die oft den Weg blockierten, mussten die Gruppe sich nicht selten direkt unter die Nase deutscher Feldlager und Patrouillen durchschleichen. Einige der Flüchtlinge schlugen vor, das Mädchen liegenzulassen oder es sogar zu ertränken. Kiseljow trug das Kleinkind viele Kilometer in seinen Armen, beruhigte es und fütterte es aus seiner eigenen Ration. Er verstand, dass die Menschen einfach verrückt geworden waren, vor Hunger, Müdigkeit und Angst.

Dieser Mann erwies sich als reinstes Eisen. Er ließ nicht zu, dass seine Gruppe auseinander fällt: Auf Nachzügler wurde gewartet, während die Verlorenen beharrlich gesucht wurden. Gleichzeitig erfuhr seine Gruppe immer wieder Zuwachs, als sich auf ihrem Weg neue Flüchtlinge anschlossen. Inzwischen brachen einige vor Erschöpfung den Marsch ab, während Kälte, Hunger und Entbehrungen alle vorhandenen Krankheiten verschlimmerten. Es kam oft vor, dass ein Flüchtling morgens einfach nicht mehr aufwachte.

Eile war angesagt. Es war bereits Spätherbst, und erst Ende November näherte sich die Karawane von Kiseljow dem „Surasch-Tor“, während der Schneefall bereits eingesetzt hatte. Aufgrund der Kälte hätte die Gruppe jederzeit sterben können, sei es durch Unterkühlung oder indem sie durch wärmende Lagerfeuer die Aufmerksamkeit von Patrouillen auf sich zog. Die Partisanen und Flüchtlinge hatten jedoch noch etwas Zeit, dennoch kam es fast zu einer Katastrophe.

Die letzte Anstrengung

Ende Herbst 1942 beschlossen die Deutschen, das Problem mit dem „Surasch-Tor“ endgültig zu lösen. Zunächst verstärkten sie die Patrouillen rund um die Gegend und begannen dann damit, das „Tor“ zu umzingeln. Darüber hinaus sandten sie Jagdkommandos aus. Die Gruppe von Kiseljow stieß auf eines davon, nur wenige hundert Meter von dem von der Roten Armee kontrollierten Gebiet entfernt.

Im herbstlichen Wald kam es zu einer chaotischen Schießerei. Die Partisanen kämpften, während die Flüchtlinge in Richtung Freiheit stürmten – es war nur noch ein kurzer Weg dahin. Die Partisanen deckten die Flucht der Zivilisten und folgten ihnen anschließend. Am Ende geriet das deutsche Jagdkommando ins Hintertreffen –, die Soldaten hatten Angst, zu tief in sowjetisches Gebiet einzudringen und vor der Gruppe von Kiseljow befanden sich keine Nazis mehr. Am Ende, bereits an einem Bahnhof versammelt, wurden die Flüchtlinge von einem deutschen Luftangriff getroffen, der glücklicherweise ohne Folgen blieb.

Kiseljow, selbst bis zum Äußersten erschöpft, meldete sich beim örtlichen Kommando –, und wurde umgehend festgenommen! Die Spionageabwehr entschied, dass er ein Deserteur war. Der Partisanenkommandant wurde jedoch von den Flüchtlingen seiner Gruppe gerettet, die der Spionageabwehr anschaulich erklärten, wer Kiseljow war und was er geleistet hatte.

Kiseljow, der sich jetzt inmitten seiner eigenen Kameraden befand, verfasste einen kurzen Bericht für das Oberkommando der Partisanenbewegung. 52 Flüchtlinge waren an Erschöpfung gestorben oder auf dem Marsch verloren gegangen, während 218 lebend herausgebracht werden konnten.

Der lange und entbehrungsreiche Marsch schlug auf die Gesundheit von Nikolai Kiseljow und er wurde aus medizinischen Gründen aus dem Dienst entlassen. Er erholte sich jedoch allmählich wieder und kehrte nach dem Krieg zum normalen Leben zurück. Er heiratete Anna Sirotkowa, das Partisanenmädchen, mit dem er die Strapazen des Marsches geteilt hatte. Kiseljow lebte nicht allzu lange mit ihr zusammen, hatte aber ein ziemlich erfülltes Leben. Er starb in den 1970er-Jahren im Alter von 60 Jahren. Einen Orden für seine Heldentat in den weißrussischen Wäldern erhielt er allerdings erst nach dem Krieg im Jahr 1948. Seine wichtigsten Orden aber waren Briefe: Bis zum Ende ihrer Leben schrieben ihm mehr als 200 der geretteten Juden und viele ihrer Nachkommen regelmäßig Briefe der Dankbarkeit. Heute ist der Name Nikolai Kiseljow in die Gedenkwand im Garten der Gerechten im israelischen Museum Yad Vashem eingraviert. Über 2.000 Nachkommen von jenen Menschen, die der kleinen Partisanen-Einheit von Nikolai Kiseljow ihr Überleben verdanken, leben heute auf der ganzen Welt verstreut.

Übersetzt aus dem Englischen.

Jewgeni Norin ist ein russischer Historiker mit Fokus auf Russlands Kriege und internationale Politik.

Mehr zum Thema – Warum wir das aktuelle Regime in der Ukraine als nazistisch bezeichnen

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*