Der russisch-ukrainische Krieg: Eine Weltblutpumpe wie im Ersten Weltkrieg Eine Analyse von Big Serge

Der russisch-ukrainische Krieg: Eine Weltblutpumpe wie im Ersten Weltkrieg

Der Ukraine-Krieg ähnelt an gewissen Frontabschnitten den Schlachten des Ersten Weltkriegs – auch wenn der Blutzoll bisher noch weit unter dem liegt, was etwa die Schlacht von Verdun gefordert hat. Dennoch: Die Aussichten für die ukrainische Armee sehen düster aus und auch die Lieferung von westlichen Kampfpanzern wird daran nichts ändern.

 

Der russisch-ukrainische Krieg: Eine Weltblutpumpe wie im Ersten

Weltkrieg

Eine Analyse von Big Serge

Der Ukraine-Krieg ähnelt an gewissen Frontabschnitten den Schlachten des Ersten Weltkriegs – auch wenn der Blutzoll bisher noch weit unter dem liegt, was etwa die Schlacht von Verdun gefordert hat. Dennoch: Die Aussichten für die ukrainische Armee sehen düster aus und auch die Lieferung von westlichen Kampfpanzern wird daran nichts ändern.
Der russisch-ukrainische Krieg: Eine Weltblutpumpe wie im Ersten WeltkriegQuelle: Sputnik © Viktor Antonyuk

Eine Analyse von Big Serge

Seit der überraschenden Entscheidung Russlands, sich in der ersten Novemberwoche freiwillig vom Westufer des Dnjepr bei Cherson zurückzuziehen, gab es kaum dramatische Veränderungen an den Frontlinien in der Ukraine. Zum Teil spiegelt dies die vorhersehbare Wetterlage in Osteuropa wider, bei der die Schlachtfelder in Schlammfelder verwandelt werden, was die Mobilität stark einschränkt. Seit Hunderten von Jahren ist der November ein schlechter Monat für den Versuch, große Streitkräfte über größere Entfernungen zu bewegen. Und wie auf Bestellung, konnten wir in den sozialen Medien Videos von Fahrzeugen sehen, die in den Weiten der Ukraine im Schlamm feststeckten.

Podoljaka zum Ukraine-Krieg: Russland kurz vor Einkesselung von Artjomowsk und Soledar

Die Rückkehr zum Stellungskrieg spiegelt jedoch auch das Zusammenspiel der zunehmenden ukrainischen Erschöpfung mit den unnachgiebigen russischen Bemühungen wider, die verbleibende Kampffähigkeit der ukrainischen Streitkräfte zu zermürben und zu dezimieren. Im Donbass haben die Russen dafür den idealen Ort gefunden.

Allmählich ist deutlich geworden, dass Russland in einen Zermürbungskrieg übergegangen ist, durch den die Asymmetrie seines Vorteils beim Beschuss aus der Ferne maximiert wird. Es gibt eine anhaltende Verschlechterung der Fähigkeit zur Kriegsführung aufseiten der Ukraine, was es Russland ermöglicht, das derzeitige Tempo beizubehalten, während es seine neu mobilisierten Streitkräfte für Offensivaktionen organisiert und so die Voraussetzungen für zunehmende und untragbare ukrainische Verluste schafft.

In Ernest Hemingways Roman „The Sun Also Rises“ (Auch die Sonne geht auf – deutscher Titel: Fiesta) wird ein ehemals wohlhabender, aber vom Glück verlassener Charakter gefragt, wie es dazu kam, dass er bankrottging. „Auf zwei Arten“, antwortet er. „Erst allmählich und dann ganz plötzlich.“ Eines Tages werden wir uns vielleicht fragen, wie die Ukraine diesen Krieg verloren hat und werden wohl zu demselben Schluss kommen.

Ein Verdun im Kleinformat

Angesichts des Ausmaßes ihrer Loslösung von der Realität kann man mit Sicherheit sagen, dass die Medien des Westens äußerst niedrige Ansprüche an die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine stellen. Aber selbst unter Berücksichtigung dieses niedrigen Standards ist die Art und Weise, wie der Kampf um Bachmut dem eigenen Publikum präsentiert wird, absolut lächerlich. Der Kampf um Bachmut wird als perfekte Synthese aller Metaphern eines russischen Scheiterns präsentiert. Kurz gesagt lautet die Essenz: Russland erleidet schreckliche Verluste, während es darum kämpft, eine kleine Stadt mit geringfügigem strategischem Wert zu erobern. Insbesondere britische Offizielle haben in den vergangenen Wochen darauf bestanden, dass Bachmut wenig bis gar keinen strategischen Wert hat.

Das Gegenteil dieser Behauptung ist jedoch wahr: Bachmut nimmt eine strategisch-operativ entscheidende Schlüsselstellung in der ukrainischen Verteidigung ein. Russland hat diesen Ort in eine Grube des Todes verwandelt, was die Ukrainer dazu zwingt, eine exorbitante Anzahl von Soldaten zu opfern, um diese Stellung so lange wie möglich zu halten. Tatsächlich ist das Beharren darauf, dass Bachmut strategisch oder operativ nicht von Bedeutung ist, eine Beleidigung für das westliche Publikum, weil sowohl ein kurzer Blick auf eine Landkarte die Stadt deutlich im Herzen eines regionalen Straßennetzes zeigt, als auch weil die Ukraine eine große Anzahl von Einheiten dorthin verlegt hat.

Aber machen wir doch einen Schritt zurück und betrachten Bachmut im Kontext der Gesamtposition der Ukraine im Osten. Die Ukraine begann den aktuellen Krieg mit vier ausgebauten Verteidigungslinien im Donbass, die in den vergangenen acht Jahren angelegt wurden, sowohl als Folge des Krieges gegen die Volksrepubliken Lugansk und Donezk (LVR und DVR) als auch als Vorbereitung auf einen möglichen Krieg gegen Russland. Diese Verteidigungslinien sind um städtische Ballungsräume herum strukturiert, die miteinander durch Straßen- und Schienen verbunden sind und grob wie folgt dargestellt werden können:

Der Donbass ist ein besonders geeigneter Ort, um effiziente Verteidigungslinien zu errichten: Er ist stark urbanisiert und industriell. Donezk war vor 2014 die urbanisierteste Region in der Ukraine, mit über 90 Prozent der Bevölkerung, die in städtischen Gebieten lebten, die von robusten, typisch sowjetischen Gebäuden dominiert werden, zusammen mit großangelegten Industriekomplexen. Die Ukraine hat einen Großteil des vergangenen Jahrzehnts damit verbracht, diese Verteidigungslinien auszubauen. Die Siedlungen an der Front sind mit Schützengräben durchzogen, wie auf Satellitenbildern deutlich zu erkennen ist. Ein Video aus Awdejewka zeigt das Ausmaß der ukrainischen Befestigungsanlagen.

Wenden wir uns dem Zustand dieser Verteidigungsgürtel zu. Der erste Gürtel, der ungefähr von Sewerodonezk und Lissitschansk nach Popasna verlief, wurde im vergangenen Sommer von den russischen Streitkräften durchbrochen, nachdem diesen ein großer Durchbruch bei Popasna gelungen war, worauf Lissitschansk Anfang Juli eingenommen wurde. Seither verläuft die Frontlinie direkt entlang dessen, was ich als den zweiten und dritten ukrainischen Verteidigungsgürtel bezeichne – und beide Gürtel bluten derzeit stark.

Die Eroberung von Soledar durch die Truppen von Wagner hat die Verbindung zwischen Bachmut und Sewersk durchtrennt. Während um Donezk herum der stark befestigte Vorort Marinka fast vollständig von ukrainischen Truppen gesäubert wurde, ist die berüchtigte ukrainische Stellung in Awdejewka – jener Ort, von dem aus die Zivilbevölkerung der Stadt Donezk beschossen wird – jetzt an zwei Flanken durch russische Truppen bedroht.

Diese Positionen sind für die Ukraine absolut entscheidend. Der Verlust von Bachmut wird den Zusammenbruch der letzten Verteidigungslinie bedeuten, die einem Vorstoß auf Slawjansk und Kramatorsk im Weg steht, was bedeutet, dass die östliche Position der Ukraine rasch auf ihren vierten – und schwächsten – Verteidigungsgürtel zurückfallen wird.

Der Ballungsraum Slawjansk ist für die Ukraine aus mehreren Gründen eine weitaus schlechtere Verteidigungsposition als an den anderen Verteidigungsgürteln. Als jener Gürtel, der am weitesten im Westen – und damit am weitesten von den Ausgangslinien des Februar 2022 entfernt – liegt, ist er der am wenigsten ausgebaute und am wenigsten befestigte aller vier Verteidigungsgürtel. Zweitens befinden sich viele der – sagen wir mal „nützlichen“ – Dinge rund um Slawjansk im Osten der Stadt, darunter sowohl eine dominierende Anhöhe als auch die großen Autobahnen.

Alles in allem war die Ukraine sehr darauf fokussiert, die Bachmut-Linie zu halten, da diese eine weitaus bessere Position bietet, und dementsprechend hat Kiew unzählige Einheiten in diesen Sektor gepumpt. Das absurde Ausmaß des Umfangs ukrainischer Streitkräfte in diesem Gebiet ist zwar allgemein bekannt, aber trotzdem, als Randbemerkung: Öffentlich zugängliche ukrainische Quellen zählen mindestens 34 Brigaden oder gleichwertige Einheiten, die im Gebiet Bachmut eingesetzt wurden. Viele davon kamen bereits vor Monaten zum Einsatz und sind längst aufgerieben worden. Aber über die gesamte Zeitspanne des bisherigen Kampfes in diesem Gebiet zeigt sich hier eine erstaunlich hohe Zahl an Streitkräften seitens der Ukraine.

Russische Streitkräfte, hauptsächlich Einheiten von Wagner und aus der LVR, haben diese ukrainische Festung durch den großzügigen Einsatz von Artillerie nach und nach vernichtet. Im vergangenen November gab der – mittlerweile ehemalige – Berater von Selenskij, Aleksei Arestowitsch zu, dass die russische Artillerie auf der Bachmut-Achse ungefähr einen Artillerievorteil von neun zu eins hatte, wodurch Bachmut in eine Todesfalle verwandelt wurde.

Im Westen wird diese Schlacht als eine dargestellt, in der die Russen – üblicherweise stereotyp als von Wagner beschäftigte ehemalige Häftlinge bezeichnet – Frontalangriffe auf die ukrainische Verteidigung lancieren und schreckliche Verluste erleiden bei dem Versuch, die Verteidigung mit einer Überzahl an Soldaten zu überwältigen. Das Gegenteil davon ist sehr viel näher an der Wahrheit. Die russischen Streitkräfte bewegen sich deshalb so langsam vorwärts, weil sie erst die ukrainische Verteidigung mit Artillerie plattmachen und anschließend vorsichtig in die pulverisierten Überreste vordringen.

Die Ukraine wirft derweil weiterhin Einheit um Einheit in die Schlacht, um die Schützengräben mehr oder weniger mit frischen Kräften aufzufüllen. Ein Artikel im Wall Street Journal über diese Schlacht veröffentlichte bei dem Versuch, eine Geschichte über russische Inkompetenz zu präsentieren, versehentlich ein Geständnis eines ukrainischen Kommandanten vor Ort, der sagte: „Bisher steht der Wechselkurs, zu dem wir unsere Leben gegen ihre Leben eintauschen, zugunsten der Russen. Wenn das so weitergeht, könnten wir bald pleite sein.“

Vielerorts wurden Vergleiche mit einer der berüchtigtsten Schlachten des Ersten Weltkriegs angestellt – der blutigen Katastrophe von Verdun. Während es nicht angebracht ist, den Orakeln aus der Militärgeschichte eine übertriebene Beachtung zu schenken – in dem Sinne, dass eine gründliche Kenntnis des Ersten Weltkriegs es nicht gestattet, Ereignisse in der Ukraine vorherzusagen –, bin ich auf der anderen Seite jedoch ein sehr großer Anhänger geschichtlicher Analogien, und der deutsche Plan für die Schlacht bei Verdun ist eine passende Analogie für das, was derzeit in Bachmut passiert.

Die Schlacht von Verdun wurde vom deutschen Oberkommando konzipiert, um die französische Armee zu lähmen, indem man diese in einen vorbereiteten Fleischwolf trieb. Die Idee war, entscheidende Verteidigungshöhen anzugreifen und zu erobern – Boden, der so wichtig war, dass Frankreich sich gezwungen sah, einen Gegenangriff durchzuführen, um ihn zurückzuerobern. Die Deutschen hofften, dass Frankreich seine strategischen Reserven für diese Gegenangriffe einsetzen würde, die man in der Folge zerstören wollte. Während Verdun die französische Kampfkraft nicht vollständig schwächen konnte, wurde es zu einer der blutigsten Schlachten der Weltgeschichte. Eine deutsche Münze zum Gedenken an die Schlacht zeigt ein Skelett, das Blut aus der Erde pumpt – eine erschreckende, aber treffende visuelle Metapher.

Etwas Ähnliches passiert in Bachmut in dem Sinne, dass Russland auf einen der sensibelsten Punkte an der Frontlinie vordrängt und damit ukrainische Einheiten auf sich zieht, die dann eliminiert werden. Vor einigen Monaten, kurz nach dem Rückzug Russlands vom Westufer des Dnjepr bei Cherson, sprachen die Ukrainer begeistert davon, ihre Offensivbemühungen mit einem Vorstoß nach Süden in Saporoschje fortzusetzen, um die Landbrücke zur Krim zu kappen, zusammen mit den fortgesetzten Bemühungen, im Norden von Lugansk einzudringen. Stattdessen wurden Kräfte von diesen beiden Achsen bis zu dem Punkt nach Bachmut verlegt, an dem diese Achse die ukrainische Kampfkraft in anderen Gebieten aktiv geschwächt hat. Ukrainische Quellen, die zuvor voller Optimismus waren, stimmen nun darin überein, dass es in naher Zukunft keine ukrainischen Offensiven mehr geben wird. Während Sie das hier lesen, verlegt die Ukraine weiterhin Kräfte in die Bachmut-Achse.

Gegenwärtig hat sich die Position der Ukraine um Bachmut massiv verschlechtert, wobei die russischen Streitkräfte – größtenteils Infanterie von Wagner, unterstützt von russischer Artillerie – erhebliche Fortschritte an beiden Flanken der Stadt machen. An der Nordflanke brachte die Eroberung von Soledar die russischen Linien bis in die Nähe der Nord-Süd-Autobahnen, während die fast gleichzeitige Eroberung von Klischtschewka an der Südflanke die Frontlinien bis an die Schwelle von Tschassow Jar vorangetrieben hat, das im operativen Rücken von Bachmut liegt.

Die Ukrainer sind derzeit zwar noch nicht eingekreist, aber das kontinuierliche Heranrücken der russischen Linien an die Autobahnen ist leicht zu erkennen. Gegenwärtig halten die russischen Streitkräfte Positionen, die alle innerhalb weniger als drei Kilometer von den Autobahnen entfernt liegen. Noch wichtiger ist, dass die russischen Streitkräfte jetzt die Anhöhen nördlich und südlich von Bachmut kontrollieren – die Stadt selbst liegt in einer von Hügeln umgebenen Senke –, was ihnen die Feuerkontrolle über einen Großteil des Schlachtfeldes gibt.

Ich gehe derzeit davon aus, dass Russland die Verteidigungslinie Bachmut-Sewersk bis Ende März durchbrechen wird, während die Entblößung der ukrainischen Streitkräfte an anderen Verteidigungsachsen die Aussicht auf entscheidende russische Offensiven an diesen Stellen erhöht.

Derzeit besteht die Front ungefähr aus vier Hauptachsen mit erheblichen Ansammlungen ukrainischer Truppen. Diese bestehen gemäß dem Situationsplan weiter unten von Süden nach Norden aus den Achsen bei Saporoschje, Donezk, Bachmut und Swatowe. Der Versuch, den Bachmut-Sektor zu verstärken, hat die Stärke der ukrainischen Streitkräfte in diesen Sektoren maßgeblich geschwächt. An der Saporoschje-Front beispielsweise stehen derzeit möglicherweise nur fünf ukrainische Brigaden an der Frontlinie.

Im Moment ist die Mehrheit der russischen Kampfkraft ungebunden, und sowohl westliche als auch ukrainische Quellen sind – wenn auch mit Verzögerung – zunehmend beunruhigt über die Aussicht auf eine russische Offensive in den kommenden Wochen. Gegenwärtig ist die gesamte ukrainische Position im Osten verwundbar, weil sich hier eine enorme Landzunge gebildet hat, die anfällig für Angriffe aus drei Richtungen ist.

Insbesondere zwei operative Ziele in der Tiefe haben das Potenzial, die ukrainische Logistik nachhaltig zu stören. Dies sind jeweils in Isjum im Norden und in Pawlograd im Süden. Ein russischer Vorstoß am Westufer des Flusses Oskol in Richtung Isjum zöge gleichzeitig nach sich, dass die ukrainische Gruppierung auf der Swatowe-Achse – auf dem Situationsplan als ‚S‘ gekennzeichnet – abgeschnitten und zerstört und zugleich die lebenswichtige Autobahn M03 von Charkow abgetrennt wird. Das Erreichen von Pawlograd hingegen würde die ukrainischen Streitkräfte rund um Donezk vollständig isolieren und einen Großteil des Transits der Ukraine über den Dnjepr unterbrechen.

Sowohl Isjum als auch Pawlograd sind etwa 95 Kilometer von den Ausgangslinien einer möglichen russischen Offensive entfernt und bieten daher eine sehr verlockende Kombination – operativ bedeutsam und gleichzeitig in relativ überschaubarer Reichweite. Seit vergangenen Donnerstag sehen wir russische Vorstöße auf der Saporoschje-Achse. Während diese im Moment hauptsächlich durch Aufklärungskräfte erfolgen, die in die „graue Zone“ – die Zwischenfront – vordringen, behauptete das russische Verteidigungsministerium, dass mehrere Siedlungen eingenommen wurden, was auf einen echten offensiven Vorstoß in diese Richtung hindeuten könnte. Das Schlüsselindiz wäre ein russischer Angriff auf Orechow, eine große Stadt mit einer ukrainischen Garnison. Ein russischer Angriff an dieser Stelle würde darauf hindeuten, dass mehr als nur ein Angriff zur Sondierung im Gange ist.

Manchmal ist es schwierig, den Unterschied zwischen dem, was man vorhersagt, und dem, was man sich wünscht, zu erkennen. Aber dies wäre sicherlich meine Wahl, wenn ich für die russische Planung verantwortlich wäre: nach Süden entlang des Westufers des Flusses Oskol auf der Achse Kupjansk-Isjum und ein gleichzeitiger Angriff nach Norden an Saporoschje vorbei auf Pawlograd. In diesem Fall glaube ich, dass ein Umgehen von Saporoschje besser wäre als sich dort in einem urbanen Nahkampf zu verzetteln.

Ob Russland dies tatsächlich versuchen wird, wissen wir nicht. Die russische operative Geheimhaltung ist viel besser als jene der Ukraine oder jene von Wagner oder der Truppen der LVR und DVR, daher wissen wir wesentlich weniger über die Vorhaben Russlands als über jene der Ukraine. Ungeachtet dessen wissen wir aber, dass Russland über eine starke Überlegenheit an Kampfkraft verfügt, und es liegen attraktive operative Ziele in Reichweite.

Bitte mein Herr, ich will mehr

Die Sicht aus der Vogelperspektive auf diesen Konflikt offenbart die faszinierende Metastruktur dieses Konflikts. Im oberen Abschnitt dieser Analyse beschrieb ich die Sichtweise einer um die russischen Streitkräfte herum strukturierten Front, die nach und nach die aufeinanderfolgenden ukrainischen Verteidigungsgürtel durchbricht. Ich denke, dass eine ähnlich fortschreitende Struktur bei der Steigerung der Kräfte in diesem Krieg auszumachen ist, mit der Russland eine Reihe ukrainischer Einheiten zerstört.

Lassen Sie mich etwas konkreter werden. Während das ukrainische Militär zumindest als Institution teilweise existiert, wurde ihre Kampfkraft bis zum jetzigen Zeitpunkt mehrfach zerstört und durch westliche Hilfe wieder aufgebaut. Es lassen sich somit drei Phasen – Lebenszyklen, wenn man so will – identifizieren:

  • In den ersten Kriegsmonaten wurde die noch vorhandene ukrainische Armee größtenteils ausgelöscht. Die Russen zerstörten einen Großteil der ursprünglichen Bestände der Ukraine an schweren Waffen und töteten viele Kader im Herzen der ukrainischen Berufsarmee.
  • Nach dieser anfänglichen Erschütterung wurde die ukrainische Kampfkraft erneut gestärkt, indem praktisch alle Bestände an sowjetischen Waffen aus den Depots der ehemaligen Länder des Warschauer Pakts transferiert wurden. Dabei wurden sowjetische Fahrzeuge und Munition, die mit den bestehenden ukrainischen Waffensystemen kompatibel waren, aus Ländern wie Polen und der Tschechischen Republik geliefert. Diese Phase war bis Ende des Frühjahrs 2022 größtenteils abgeschlossen. Anfang Juni mussten die westlichen Quellen jedoch einräumen, dass die sowjetischen Lagerbestände erschöpft sind.
  • Nachdem nun also die Lagerbestände des ehemaligen Warschauer Pakts aufgebraucht waren, begann die NATO, zerstörte ukrainische Waffen durch westliche zu ersetzen, und zwar in einem Prozess, der im vergangenen Sommer seinen Anfang nahm. Besonders hervorzuheben sind Haubitzen wie die amerikanische M-777 und die französische Caesar.

Russland hat im Wesentlichen mehrere Neuauflagen der ukrainischen Armee bekämpft. Zuerst die Zerstörung der Vorkriegs-Streitkräfte in den ersten Monaten des Konflikts, dann der Kampf gegen Einheiten, die mit Beständen des ehemaligen Warschauer Paktes ausgerüstet wurden. Nun dezimiert es eine Streitmacht, die sich weitgehend auf westliche Waffensysteme stützt.

Dies führte zum inzwischen berühmten Interview von General Saluschny mit der Zeitschrift The Economist, in dem er um viele Hundert Kampfpanzer, Infanterie-Kampffahrzeuge und Artilleriegeschütze bat. Tatsächlich bat er um eine komplette Armee, da die Russen bereits im Begriff waren, jene zu zerstören, die er zu diesem Zeitpunkt noch hatte.

Ich möchte nachfolgend auf einige besondere Bereiche hinweisen, in denen die Fähigkeiten der Ukraine eindeutig über ein akzeptables Maß hinaus herabgesetzt wurden, und erläutern, wie dies mit den Bemühungen der NATO zusammenhängt, die ukrainischen Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten.

Als Erstes: Die Artillerie

Russland priorisiert seit vielen Wochen den Einsatz von Gegenartillerie und scheint damit beim Aufspüren und Zerstören ukrainischer Artillerie großen Erfolg zu haben. Es scheint, dass dies teilweise mit dem Einsatz eines neuen Systems zum Aufspüren der gegnerischen Artillerie vom Typ „Penicillin“ zusammenhängt. Dieses ist ein ziemlich nettes und neues Werkzeug im russischen Arsenal. Gegenartillerie-Gefechte bestehen im Allgemeinen aus einem gefährlichen Duett von Waffen und Radarsystemen. Das Gegenartillerie-Radar hat die Aufgabe, die Artillerie des Feindes zu erkennen und zu lokalisieren, damit sie durch die eigene Artillerie zerstört werden kann. Das Spiel ist ungefähr analog zu verfeindeten Teams von Scharfschützen – die Artillerie – und Spähern – dem Radarsystem –, die versuchen, sich gegenseitig umzubringen. Und natürlich ist es auch sinnvoll, die Radarsysteme der gegnerischen Seite zu beschießen, um den Feind sozusagen blind zu machen.

Das „Penicillin“-System bietet neue starke Fähigkeiten für Russlands Gegenartillerie, da es feindliche Artilleriebatterien nicht mittels Radar, sondern durch akustische Ortung lokalisiert. Es verfügt über einen ausfahrbaren Horchmast, der in Koordination mit einigen Bodenkomponenten in der Lage ist, feindliche Geschütze durch seismische und akustische Ortung zu lokalisieren. Der Vorteil dieses Systems besteht darin, dass es im Gegensatz zu einem Radar, das Funkwellen aussendet und damit seine Position preisgibt, passiv bleibt – es steht einfach still da und lauscht. Das bedeutet, dass es dem Feind keine leichte Möglichkeit bietet, es zu lokalisieren. Infolgedessen fehlt der Ukraine in der Gegenartillerie derzeit eine passende Fähigkeit, die Russen blind zu machen – oder vielmehr taub. Außerdem wurden die Fähigkeiten der russischen Gegenartillerie durch den verstärkten Einsatz der Drohne vom Typ Lancet massiv erweitert.

Abgesehen davon hat Russland in letzter Zeit ziemlich viel an ukrainischer Artillerie zerstört. Das russische Verteidigungsministerium legt Wert darauf, den Erfolg der Gegenartillerie hervorzuheben. Nun, ich weiß, dass einige an diesem Punkt sagen werden: „Warum sollte man dem russischen Verteidigungsministerium Glauben schenken?“ In Ordnung. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Am 20. Januar berief die NATO ein Treffen auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland ein, und zwar vor dem Hintergrund, dass ein massives neues militärisches Hilfspaket für die Ukraine geschnürt werden soll. Dieses Hilfspaket enthält, siehe da, eine riesige Menge Artilleriegeschütze. Nach meiner Zählung umfasst die in der vergangenen Woche angekündigte Hilfe fast 200 Artillerieeinheiten. Mehrere Länder, darunter Dänemark und Estland, schicken der Ukraine buchstäblich alle ihre Haubitzen. Nennen Sie mich verrückt, aber ich bezweifle ernsthaft, dass mehrere Länder spontan und genau zur selben Zeit beschließen würden, der Ukraine ihren gesamten Bestand an Artilleriegeschützen zu überlassen, wenn die Ukraine nicht mit riesigen Verlusten ihrer Artillerie konfrontiert wäre.

Überdies haben die Vereinigten Staaten neue, beispiellose Schritte unternommen, um die Ukraine mit Artilleriegranaten zu versorgen. In der vergangenen Woche haben sie ihre Lagerbestände in Israel und Südkorea geplündert, während sich Berichte häufen, dass die amerikanischen Vorräte an Granaten dermaßen erschöpft sind, dass es mehr als ein Jahrzehnt dauern wird, sie wieder aufzufüllen.

Überprüfen wir die Sachlage und sehen uns an, ob eine vernünftige Schlussfolgerung daraus gezogen werden kann:

  • Ukrainische Offizielle haben eingeräumt, dass die ukrainische Artillerie in kritischen Sektoren der Front mit neun zu eins unterlegen ist.
  • Russland setzt ein hochmodernes System als Gegenartillerie und eine große Anzahl von Lancet-Drohnen ein.
  • Das russische Verteidigungsministerium behauptet, dass es ukrainische Artilleriesysteme in großer Zahl aufgespürt und zerstört hat.
  • Die NATO hat sich beeilt, ein riesiges Paket von Artilleriesystemen für die Ukraine zusammenzustellen.
  • Die Vereinigten Staaten plündern kritische, an strategische Positionen verlegte Lagerbestände, um die Ukraine mit Granaten zu versorgen.

Ich persönlich halte es angesichts des oben Aufgeführten für vernünftig anzunehmen, dass die Artilleriefähigkeiten der Ukraine weitgehend zerschmettert sind und die NATO nun versucht, sie wiederaufzubauen.

Ein Königreich für einen Panzer

Der Hauptstreitpunkt der letzten Wochen war, ob die NATO der Ukraine Kampfpanzer zur Verfügung stellen soll oder nicht. General Saluschny deutete in seinem Interview mit dem Economist, in dem er Hunderte von Panzern forderte, auf einen stark ausgedünnten Vorrat an ukrainischen Panzern hin. Die NATO hat versucht, eine Notlösung anzubieten, indem sie der Ukraine verschiedene gepanzerte Fahrzeuge wie den Bradley und den Stryker zur Verfügung gestellt hat, die eine gewisse Mobilität wiederherstellen. Aber man muss unmissverständlich festhalten, dass diese in keiner Weise Kampfpanzer ersetzen und weit hinterherhinken, was Panzerung und Feuerkraft betrifft. Der Versuch, den Bradley etwa als Kampfpanzer einzusetzen, wird nicht funktionieren.

Bisher sieht es so aus, als würde die Ukraine eine Handvoll Panzer vom Typ Challenger aus Großbritannien erhalten, und es wurde auch darüber debattiert, deutsche Panzer vom Typ Leopard, amerikanische Abrams und französische Leclercs zu liefern. Wie üblich wird der Einfluss von Panzern auf das Geschehen auf dem Schlachtfeld sowohl von ukrainischen Propagandisten und russischen Pessimisten stark übertrieben als auch von russischen Triumphalisten stark unterschätzt. Ich schlage einen Mittelweg vor.

Die Zahl der Panzer, die der Ukraine vernünftigerweise zur Verfügung gestellt werden können, ist relativ gering, einfach wegen der Ausbildung der Besatzungen und der Logistik beim Unterhalt. Alle oben genannten Panzertypen verwenden unterschiedliche Munition, verfügen über spezielle Komponenten und erfordern eine individuelle Ausbildung. Sie gehören nicht zu der Art von Waffensystemen, die von einer ungeschulten Besatzung einfach von der Garage direkt in den Kampf gefahren werden können. Die ideale Lösung für die Ukraine wäre, nur Leopard A24 zu bekommen, da diese in vernünftiger Anzahl – vielleicht ein paar Hundert – verfügbar sein könnten und sie zumindest ein standardisierter Typ wären.

Wir sollten natürlich auch anmerken, dass die westlichen Panzer wahrscheinlich keinen großen Einfluss auf die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld haben werden. Die begrenzten Fähigkeiten des Leopard zeigten sich bereits bei den türkischen Operationen in Syrien. Man beachte das folgende Zitat aus dem verlinkten Artikel von 2018:

„Angesichts der Tatsache, dass dieser Panzer in großer Zahl bei NATO-Mitgliedern im Einsatz ist – darunter Kanada, die Niederlande, Dänemark, Griechenland und Norwegen –, ist es besonders peinlich mitanzusehen, dass er so ohne Weiteres von syrischen Terroristen zerstört werden kann, zumal er entwickelt wurde, um es mit der russischen Armee aufzunehmen.“

Letztendlich ist der Leopard ein ziemlich banaler Kampfpanzer, der in den 1970er-Jahren entworfen wurde und vom russischen T-90 übertroffen wird. Der Leopard ist eine schreckliche Waffe, aber kaum ein Schrecken auf dem Schlachtfeld. Es wird Verluste geben und die Anzahl wird dezimiert werden, genauso wie der Fuhrpark an Panzern der Ukraine von vor dem Krieg. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass eine ukrainische Armee mit ein paar Kompanien, die mit Leopard-Panzern ausgestattet sind, mächtiger sein wird als eine ohne.

Ich denke, es ist vernünftig zu behaupten, dass die folgenden drei Aussagen zutreffen:

  • Die Lieferung eines Mischmaschs an westlichen Panzern würde für die Ukraine Schwierigkeiten bei der Ausbildung der Besatzungen, der Wartung und der Instandhaltung bedeuten.
  • Westliche Panzer wie der Leopard haben einen begrenzten Kampfwert und können wie jeder andere Panzer zerstört werden.
  • Westliche Panzer werden die Kampfkraft der ukrainischen Armee erhöhen, solange sie auf dem Schlachtfeld intakt unterwegs sein können.

Allerdings sieht es nicht danach aus, dass die NATO der Ukraine Kampfpanzer liefern will. Zunächst wurde vorgeschlagen, eingemottete Panzer zu entstauben und nach Kiew zu schicken; die Hersteller erklärten jedoch, dass diese Fahrzeuge nicht funktionstüchtig sind und erst 2024 kampfbereit sein würden. Damit bleibt nur noch die Möglichkeit, direkt auf NATO-eigenen Panzerbestände zurückzugreifen, womit man aber bisher zögert.

Warum? Mein Verdacht wäre, dass die NATO nicht an einen ukrainischen Sieg glaubt. Die Ukraine kann nicht einmal im Traum daran denken, Russland ohne eine angemessene Panzertruppe von seinen derzeitigen Positionen zu verdrängen. Und so deutet die Zurückhaltung bei der Übergabe von Panzern darauf hin, dass die NATO dies ebenfalls für einen Traum hält. Stattdessen priorisiert sie weiterhin Waffen, mit denen die Fähigkeit der Ukraine unterstützt wird, eine statische Verteidigung aufrechtzuerhalten – daher die Hunderte von Artilleriegeschützen –, ohne in Anfälle von Euphorie über einen bevorstehenden großen ukrainischen Panzervorstoß auf die Krim zu verfallen.

Angesichts des intensiven kriegerischen Gedönses, das sich im Westen aufgebaut hat, ist aber denkbar, dass die politische Dynamik eine Lieferung von Panzern erzwingt. Es ist möglich, dass der Punkt erreicht wird, an dem der Schwanz mit dem Hund wedelt, während die NATO in ihrer eigenen Rhetorik der bedingungslosen Unterstützung der Ukraine gefangen bleibt, bis die Ukraine einen totalen Sieg erringt hat, und wir vielleicht doch noch Leopard-Panzer in der ukrainischen Steppe brennen sehen.

Zusammenfassung: Der Tod eines Staates

Das Militär der Ukraine ist extrem dezimiert, da es sowohl exorbitante Verluste an Soldaten als auch an schweren Waffen erlitten hat. Ich vermute, dass die Zahl der ukrainischen Gefallenen sich zu diesem Zeitpunkt den 150.000 nähert, und es ist klar, dass die Bestände an Artilleriegeschützen, Granaten und gepanzerten Fahrzeugen weitgehend erschöpft sind.

Ich gehe davon aus, dass die Bachmut-Sewersk-Verteidigungslinie vor April geräumt wird, woraufhin Russland in Richtung des letzten – und schwächsten – Verteidigungsgürtels um Slawjansk vordringen wird. Inzwischen hat Russland eine beträchtliche Kampfkraft in Reserve, die zur Wiedereröffnung der Nordfront am Westufer des Flusses Oskol und zur Wiederaufnahme der Offensivoperationen in Saporoschje genutzt werden kann, wodurch die ukrainische Logistik einer kritischen Ausdehnung ausgesetzt wird.

Dieser Krieg wird auf dem Schlachtfeld zu Ende geführt und voraussichtlich mit einem für Russland günstigen Ergebnis enden.

Aus dem Englischen

Big Serge ist ein amerikanischer Blogger und Militäranalyst. Man kann ihm auf Twitter unter @witte_sergei folgen.

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