Die Deutschen und ihre Staatsräson Ein Artikel von Oskar Lafontaine

Dank an Oskar Lafontaine für die Genehmigung seinen heute auf den Nachdenkseiten publizierten Artikel auf der Hochblauen Seite zu übernehmen-Evelyn Hecht-Galinski

Die Deutschen und ihre Staatsräson

Ein Artikel von Oskar Lafontaine

Unter der Überschrift „Ein Triumph, von dem Putin kaum zu träumen wagte“ veröffentlichte der Historiker Heinrich August Winkler im Spiegel einen Aufsatz, in welchem er CDU und SPD ermahnte, sich nicht auf die Forderung des BSW nach Friedensverhandlungen zur Beendigung des Ukrainekrieges und eine Ablehnung der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland einzulassen. „Die deutsche Westbindung steht auf dem Spiel“, zitierte der Spiegel Winkler, den er zu den bedeutendsten Historikern Deutschlands zählt. Von Oskar Lafontaine.

Um seine Warnung zu untermauern, schreibt Winkler:

„Mit der AfD verbindet das BSW die antiwestliche Ausrichtung. Beide Parteien stellen die Westbindung und damit einen wesentlichen Teil der Staatsräson der Bundesrepublik infrage. Den USA ziehen sie das Russland Putins als Partner vor. Hätten sie das Sagen in Deutschland, würde an die Stelle von Zusammenschlüssen der westlichen Demokratien, sei es in Form der NATO oder der EU, über kurz oder lang ein Arrangement mit den Diktaturen in Moskau und Peking treten.“

An diesen Sätzen stimmt so gut wie nichts, weil Winkler, dessen Hauptwerk „Der lange Weg nach Westen“ heißt, bei seinen Ausführungen den Grundfehler seiner wissenschaftlichen Arbeit wiederholt: Er setzt den Westen mit den USA gleich.

Das christliche Abendland ist nun wirklich nicht in Nordamerika entstanden, und keiner der drei Hügel, von denen es nach dem ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss seinen Ausgang genommen habe – Golgatha, die Akropolis in Athen und das Kapitol in Rom –, befindet sich in den USA, auch wenn der Sitz des US-Kongresses und des US-Senats Capitol Hill heißt.

Auch Winklers unkritische Gegenüberstellung der westlichen Demokratien auf der einen Seite und der Diktaturen in Moskau und Peking auf der anderen ist nicht mehr zeitgemäß. Hat er jemals darüber nachgedacht, warum der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter die USA „eine Oligarchie mit unbegrenzter politischer Bestechung“ und „die kriegerischste Nation der Weltgeschichte“ genannt hat und warum dieses Land in den vergangenen drei Jahrzehnten, wie es der wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses festgestellt hat, 251 militärische Interventionen in aller Welt zu verantworten hat? Westbindung als blinde US-Gefolgschaft misszuverstehen, führt zur Beteiligung Deutschlands an völkerrechtswidrigen Kriegen der Vereinigten Staaten. Auch das Desaster des Ukrainekriegs haben wir, nach der NATO-Osterweiterung, dem Putsch auf dem Majdan und der Drohung, US-Atomraketen ohne Vorwarnzeiten an der ukrainisch-russischen Grenze aufzustellen, dem großen Bruder in Washington zu verdanken, der dem Geostrategen George Friedman zufolge seit 100 Jahren das Ziel habe, zu verhindern, dass deutsche Technik und russische Rohstoffe zusammenkommen.

Durch die Sprengung der Gasleitungen Nord Stream 1 und 2 und die Zerstörung der deutsch-russischen Beziehungen haben die USA ihr geostrategisches Ziel erreicht. Deutschland gehört nach der Ukraine zu den großen Verlierern dieses von den USA provozierten und von Moskau gleichwohl völkerrechtswidrig begonnenen Krieges in Europa.

Entgegen den Befürchtungen eines der „bedeutendsten Historiker Deutschlands“ ist das BSW für die Westbindung, für ein geeintes, selbstbewusstes Europa souveräner Demokratien und für eine europäische NATO.

Solange die „kriegerischste Nation der Weltgeschichte“ an ihrem Größenwahn der Weltbeherrschung festhält, muss das demokratische Europa sich selbst behaupten und als Mittler zwischen den USA, China und Russland zum Weltfrieden beitragen.

Dieser Text ist zuerst in der „Weltwoche” erschienen.

Titelbild: DesignRage/shutterstock.com

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