„Endlösung der Russenfrage“ und neue Epoche – Pressekonferenz des russischen Außenministers Lawrow

„Endlösung der Russenfrage“ und neue Epoche – Pressekonferenz des russischen Außenministers Lawrow

Die NATO führt mittels der Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen Russland, erklärte der russische Außenminister Sergei Lawrow. Dies bezeugen nicht nur zahlreiche Expertenmeinungen, darunter von Henry Kissinger, sondern auch der Umfang der westlichen Unterstützung für Kiew.

„Endlösung der Russenfrage“ und neue Epoche – Pressekonferenz des

russischen Außenministers Lawrow

Während einer Pressekonferenz hat Russlands Außenminister die diplomatische Bilanz des Jahres 2022 gezogen. Dabei sprach er vom westlichen Neokolonialismus, verglich die Pläne der NATO mit Hitlers „Endlösung“ und bezeichnete die Gegenwart als einen Epochenwechsel.
"Endlösung der Russenfrage" und neue Epoche – Pressekonferenz des russischen Außenministers LawrowQuelle: Sputnik © Sergei Gunejew

Die NATO führt mittels der Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen Russland, erklärte der russische Außenminister Sergei Lawrow. Dies bezeugen nicht nur zahlreiche Expertenmeinungen, darunter von Henry Kissinger, sondern auch der Umfang der westlichen Unterstützung für Kiew. Im Rahmen einer knapp dreistündigen Pressekonferenz über die Ergebnisse des Jahres 2022 zog Russlands Chefdiplomat den Schluss, dass der Konflikt in der Ukraine eine globale Dimension habe und den Wechsel von einer US-dominierten zu einer multipolaren Weltordnung einleite.

Lawrow zufolge gingen die USA von legitimen zu illegitimen Methoden über, um die eigene Dominanz zu sichern. Um Russland zu sanktionieren, habe der kollektive Westen alle „heiligen“ Grundlagen des eigenen Globalisierungsmodells, darunter die Prinzipien des freien Marktes und freien Wettbewerbs, Unantastbarkeit des Eigentums und die Unschuldsvermutung verletzt und zerstört. Auch wenn sich die Sanktionen gegenwärtig gegen Moskau richten, sei klar, dass sie grundsätzlich auch gegen andere Staaten angewandt werden könnten.

Der Europäischen Union attestierte Lawrow, sich vollständig dem US-amerikanischen Diktat untergeordnet zu haben. Aus der gemeinsamen Deklaration der EU und der NATO gehe hervor, dass die beiden Strukturen zunehmend zusammenwachsen, ihre Interessen rücksichtslos mit allen Mitteln durchsetzen und dabei historisch zusammenhängende Regionen wie etwa Russland und die Ukraine oder Transkaukasien zerstören. Der Minister erinnerte an die Bezeichnung der nichteuropäischen Länder als „Dschungel“ durch den EU-Chefdiplomaten Josep Borrell.

Indessen werden nicht nur Entwicklungsländer, sondern auch Europa selbst vom Neokolonialismus der Vereinigten Staaten ausgebeutet. Auf eine entsprechende Frage eines Journalisten des isländischen Radio Saga führte Lawrow aus:

„Kolonialismus ist, wenn man jemand anderen erobert und auf seine Kosten lebt. Erobern kann man aber auf unterschiedliche Weisen. Man kann wie im 17. Jahrhundert Sklaven in ein Schiff stopfen oder man kann alle Pläne und Programme eines Landes oder einer Struktur dem eigenen Willen unterordnen, so wie jetzt es die USA mit der Europäischen Union machen.“

Die EU habe ihre Selbstständigkeit vollständig verloren und sei zu einem Anhängsel der NATO geworden, während die USA gestiegene Gaspreise in Europa nutzen, um eine Migration der europäischen Industrie nach Amerika zu erwirken und die EU als wirtschaftlichen Konkurrenten auszuschalten.

Den Grundkonflikt der bestehenden Weltordnung formulierte Lawrow wie folgt:

„Washingtons Kurs auf ein Diktat in internationalen Angelegenheiten bedeutet buchstäblich Folgendes: Wir US-Amerikaner dürfen alles, was wir wollen und wo wir wollen. Auch am anderen Ende der Welt werden wir tun, was wir für nötig erachten. Ihr alle anderen dürft aber ohne unsere Zustimmung nichts unternehmen, nicht einmal als Reaktion auf direkte Bedrohungen eurer Sicherheit die wir selbst an euren Grenzen schaffen.“

Speziell in Bezug auf den Konflikt des kollektiven Westens mit Russland zog der Außenminister historische Parallelen zu Napoleons Imperium und zum Dritten Reich:

„So wie Napoleon praktisch ganz Europa gegen das Russische Kaiserreich mobilisierte, wie Hitler die Mehrheit der europäischen Länder eroberte, unter den Helm stellte und gegen die Sowjetunion warf, gründeten auch die USA eine Koalition aus praktisch allen europäischen Ländern und führen einen Stellvertreterkrieg gegen unser Land mit demselben Ziel: ‚Endlösung der Russenfrage‘.“

Aus diesem Grund gebe es momentan kaum Aussichten auf eine diplomatische Lösung des Ukraine-Konflikts, erklärte Lawrow anschließend den Journalisten der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti und der US-amerikanischen MBN. Der kollektive Westen nutze die Ukraine zur Zerstörung des bisher bestehenden internationalen Sicherheitssystems, weswegen Verhandlungen nicht ausschließlich über die Ukraine geführt werden müssten. Dabei habe Russland den „strategischen Dialog“ mit den USA nicht beendet. Moskau werde Washington zwar „nicht nachlaufen“, aber auf ernst gemeinte Initiativen reagieren, was etwa das Treffen zwischen dem Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergei Naryschkin und CIA-Chef William Burns im November 2022 belege.

Multipolarität statt Dominanz und Isolation

Versuche der Vereinigten Staaten, ihre Vormachtstellung zu sichern, seien letztendlich gegen den geschichtlichen Fortschritt gerichtet, erklärte Lawrow:

„Dieser verbissene Versuch, auf Biegen und Brechen, mit verbotenen Mitteln die Dominanz der USA und des restlichen Westens, den Washington vollständig unterwarf, zu sichern, zeugt vom Verständnis, dass sie gegen den objektiven Lauf der Geschichte handeln und im Grunde die Entstehung einer multipolaren Welt aufzuhalten versuchen.“

Dabei vollziehe sich die Entwicklung hin zur Multipolarität nicht auf Beschluss einzelner politischer Akteure, sondern durch die natürliche wirtschaftliche Entwicklung nichtwestlicher Länder. Zu neuen Zentren von Wirtschaftswachstum gehören unter anderem China, Indien, die Türkei, lateinamerikanische sowie potentiell auch afrikanische Staaten.

Russland versuche in diesem Zusammenhang, die Kooperation mit internationalen Partnern unabhängig vom Westen und dessen neokolonialen Methoden aufzubauen. Dies ist nach Lawrow das Fazit des vergangenen Jahres, allerdings handele es sich um langfristige Prozesse, die viel Zeit in Anspruch nehmen werden.

Aus Lawrows anschließenden Antworten an Journalisten ging indessen hervor, dass Russland bereits jetzt einige Erfolge im Aufbau und Pflege internationaler Beziehungen vorweisen kann. So befinden sich die Beziehungen zu China auf einem historischen Höhepunkt:

„Dies ist keine Allianz, kein Bündnis, aber in vielerlei Hinsicht ist es fester als ein Bündnis. Die Beziehungen sind pragmatisch, vertrauensvoll, beruhen auf gegenseitigem Respekt und einem Interessenausgleich. Das ist genau das, was ein ideales Beziehungsformat zu jedem Land ist und direkt auf den Prinzipien der UN-Charta beruht.“

Russland und China kooperieren unter anderem im Rahmen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, BRICS, der Neuen Seidenstraße sowie betreiben militärische Zusammenarbeit, so Lawrow weiter.

Auch Moskaus Beziehungen zu arabischen Staaten befänden sich im Aufschwung.

„Ich sehe ein Verständnis unserer Position, ein Verständnis, dass es nicht nur und eigentlich überhaupt nicht um die Ukraine geht, sondern gerade um den Kampf um eine neue Weltordnung zwischen denjenigen, die glauben, dass sie vollständig ihren Regeln unterstellt sein soll – und die Regeln sehen eine Dominanz der USA und ihrer Satelliten vor – und denjenigen, die wollen, dass die Weltordnung demokratisch ist.“

Mit westlichen Forderungen nach Demokratie seien ausschließlich innerstaatliche Strukturen gemeint, erklärte Lawrow seine Äußerung. Eine Demokratie in internationalen Beziehungen sei vom Westen hingegen nicht gewollt.

Trotz des beispiellosen westlichen Drucks unterstütze kein arabisches Land die antirussischen Sanktionen. Dies ist mit Ausnahme der Bahamas auch für sämtliche Staaten Lateinamerikas und der Karibik der Fall. Unter lateinamerikanischen Ländern sei die Kooperation mit Kuba, Venezuela und Nicaragua besonders intensiv, allerdings arbeite Moskau auch mit anderen Ländern der Region bedingungslos zusammen:

„Wir haben keine Monroe-Doktrin. Wenn wir in diese Region [Lateinamerika; Anm. d. Red.] kommen, bringen wir keine Risiken und drohen auch nicht, ein Land unseren Interessen zu unterwerfen oder eine bestimmte politische Kraft zu fördern.“

Russlands Exporte nach Lateinamerika seien im vergangenen Jahr um zehn Prozent gestiegen, Tausende Lateinamerikaner studieren in Russland. Auch der Tourismus entwickele sich dank Visafreiheit mit 27 lateinamerikanischen Ländern.

Epochenwechsel und neue Perspektiven

Die formale Grundlage für die künftige multipolare Weltordnung könnte die UN-Charta bilden, erklärte der russische Außenminister. Das Dokument sei für seine Zeit revolutionär gewesen, allerdings wurden dessen Prinzipien vom Westen pervertiert. Grundsätze der Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten und der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten würden durch zahlreiche Militäraktionen der USA mehrmals aufs Gröbste verletzt.

Den impliziten Vorwurf einer Journalistin von Sky News, wonach Russlands Militäroperation die UN-Charta ebenfalls verletze, wies Lawrow indessen zurück. Er betonte, dass die territoriale Integrität eines Staats respektiert werden kann, solange dieser nicht gegen das Selbstbestimmungsrecht der eigenen Bevölkerung verstößt. Die Ukraine habe 2014 unter Verletzung der eigenen Verfassung einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung im Donbass begonnen und damit das Recht auf territoriale Integrität verwirkt.

Nach Lawrows abschließender Einschätzung werde die Formung einer multipolaren Weltordnung eine universalgeschichtliche Bedeutung haben und viel Zeit in Anspruch nehmen:

„Der Prozess der Formierung einer neuen Weltordnung wird lange dauern und eine gewisse historische Epoche einnehmen. Wir befinden uns im Höhepunkts dieses Prozesses.“

Der Maßstab der gegenwärtigen Ereignisse sei ihren unmittelbaren Teilnehmern nicht immer klar, weshalb ein Erfahrungsaustausch zwischen Politikern und Medien wichtig sei, schlussfolgerte Lawrow.

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