Erst das Fressen, dann die Moral von Velten Schäfer Der Freitag

 

„Doch was als politische Wachsamkeit daherkommt, kann schnell in eine weltfremde Reinheitsidee abrutschen. Wer in einer Lage wie der, die zu kommen scheint, zuerst auf die Abgrenzung gegenüber „falschem“ Protest schaut, hat kapituliert.“

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/putin-querfront-und-alles-rechtsoffen-wie-man-den-protest-abwuergt

Illustration: Der Freitag

Erst das Fressen, dann die Moral

von Velten Schäfer

Energiepreisproteste Wenn das progressive Lager etwas bewirken will, darf es nicht erwarten, dass jede*r schon jetzt auf der richtigen Seite steht. Deshalb: Die Angst vor Widersprüchen muss abgelegt werden – Plädoyer für einen heißen Herbst ohne Scheuklappen

Bert Brecht schien in der Sache entschieden: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“. Doch so sehr seine Dreigroschenoper zum Kanon gehörte, so wenig Berührung hatten Westeuropas Progressive lange mit dem, was hier gemeint ist. Ihr Urknall hieß „68“; trotz aller Klassen-Rhetorik war das kein Sozialprotest. Sondern eine Kulturrevolte gegen das genormte Leben auf dem Höhepunkt des bürokratischen Nachkriegskapitalismus. Weg mit altbackenen Werten und Lebenslügen! Es ging stets um Moral, und danach kam lange nichts.

Nun aber kehrt sie wohl zurück, die Frage nach dem Fressen, Heizen, ja Duschen. Ganz will man das in den linken Milieus noch nicht glauben. Und so besieht man sich die Frage nach dem Fressen: Ist sie nicht furchtbar hässlich? Fressen, wie das schon klingt! Appelliert diese Frage nicht an niedere Instinkte, an Angst, Egoismus, Neid und Missgunst? Das ist ja so schrecklich – elementar.

So wird gezögert: Wollen wir sie wirklich stellen, diese hässliche Frage? Schämen wir uns ihrer nicht ein wenig? Viele blieben wohl lieber standhaft – auf dem Felde der Moral. Im Stillen ist da vielleicht gar die verquere Hoffnung, des Dilemmas enthoben zu werden. Nämlich durch Leute, die jene Frage nach dem Fressen so falsch stellen, so „putinistisch“, „populistisch“, so verschwörungsgläubig oder „rechtsoffen“, dass man sich mit gutem Gewissen von ihr abwenden kann.

Und solche Leute werden sich finden, schließlich macht der Kampf um das Fressen nicht automatisch edel und gut. Gerade das aber scheint das progressive Lager mit wachsender Unduldsamkeit zu erwarten: dass eine Sache oder eine Gruppe, für die und mit der man kämpft, möglichst a priori und widerspruchslos aufseiten des Guten stehe. Jedes Thema, das auch die Bösen ansprechen, anzusprechen, gilt dann selbst als böse, jeder Satz ist tabu, den jemand böse meinen könnte, wenn man ihn nur konsequent „weiterdenkt“: Achtung: Querfront, hört man dann. Klingt Sahra Wagenknecht nicht schon wie Alice Weidel? Doch was als politische Wachsamkeit daherkommt, kann schnell in eine weltfremde Reinheitsidee abrutschen. Wer in einer Lage wie der, die zu kommen scheint, zuerst auf die Abgrenzung gegenüber „falschem“ Protest schaut, hat kapituliert. Weiterlesen in der freitag.de autoren

 

--

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*