Historiker Emmanuel Todd: In diesem Krieg geht es um Deutschland

Wir Bürger spüren und wissen das, im Gegensatz zu unseren politischen US-Nato-treuen und voller Russophobie „Regierenden“    Evelyn Hecht-Galinski

Historiker Emmanuel Todd: In diesem Krieg geht es um Deutschland

Die „Seite des Guten“, auf der Deutschland stehen möchte, sei diesmal nicht jene der Vereinigten Staaten. Deutschland befindet sich laut dem Historiker Emmanuel Todd in einer Lage, die „in kognitiver Hinsicht überfordert“. Die letzte autonome politische Handlung Deutschlands gegenüber den USA sei der Kontakt zu China.

Historiker Emmanuel Todd: In diesem Krieg geht es um Deutschland

Die „Seite des Guten“, auf der Deutschland stehen möchte, sei diesmal nicht jene der Vereinigten Staaten. Deutschland befindet sich laut dem Historiker Emmanuel Todd in einer Lage, die „in kognitiver Hinsicht überfordert“. Die letzte autonome politische Handlung Deutschlands gegenüber den USA sei der Kontakt zu China.
Historiker Emmanuel Todd: In diesem Krieg geht es um DeutschlandQuelle: Gettyimages.ru © picture alliance / Kontributor

Der Soziologe und Historiker Emmanuel Todd absolvierte das Institut d’études politiques de Paris und promovierte in Cambridge in Geschichte. Von 1977 bis 1984 war er Literaturkritiker für die französische Zeitung Le Monde, seitdem arbeitet er am Institut national d’études démographiques. Im Jahr 1976 beschwor er in seinem Buch „La chute finale“ den Zusammenbruch der Sowjetunion. Im Rahmen eines aktuellen Interviews mit dem Schweizer Wochenmagazin Weltwoche (Bezahlschranke) heißt es einleitend:

„Der französische Historiker Emmanuel Todd sagte den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus. Heute sieht er die USA im Niedergang. Frankreich werde ausgelacht, die Briten handelten kopflos. Am schlimmsten stehe es um die Deutschen, die zur Zielscheibe der Amerikaner geworden seien. Russland hingegen gehe es besser, als viele westliche Beobachter meinen.“

Todd betont zu Beginn des Gesprächs, dass er sich in seinem Heimatland aktuell nicht an der Ukraine-Russland-Debatte beteilige. Ein internationaler Bestseller von ihm sei weiterhin nicht als französische Originalausgabe erhältlich. Thematisch behandele das Buch auch den Krieg in der Ukraine. Bezüglich einer sehr verkürzten geopolitischen Gesamteinschätzung der Gegenwart und der Interviewfrage, ob „der Westen die Russen“ aufgrund eines „erschreckenden intellektuellen Defizits“ unterschätzt habe, lautet die Analyse von Todd:

„Er hat sich bestätigt. Die USA zogen sich aus Afghanistan und dem Irak zurück. Den Aufstieg Irans konnten sie nicht stoppen. Genauso wenig wie jenen Chinas. Die Saudis nehmen die USA nicht mehr ernst. In Amerika steigt die Sterblichkeit, die Lebenserwartung sinkt. Alle Zeitungen schreiben: Der Westen ist normal und Putin geisteskrank. Die Russen sind blutrünstige Monster. Die Demografie sagt etwas anderes: Russland ist stabiler und seine Gesellschaft zivilisierter geworden.“

In Todds politischen Analysen erhalten weltweite demografische Entwicklungen regelmäßig einen Schwerpunktbezug, so breche aktuell „in den produktivsten Industrieländern die arbeitende Bevölkerung (in Realzahlen)“ zusammen. Todd sei gegenwärtig „verzweifelt von der ‚westlichen Irrationalität'“, das Verhalten des Westens sei für ihn ein „einziges Rätsel“. Todd wörtlich:

„Man weiß nie, wo man ist. Die Zeitungen erzählen uns, wie die Russen auf Gefängnisse schießen, die sie besetzt haben. Dass sie Atomkraftwerke beschießen, die sie vor Ort kontrollieren. Dass sie Pipelines in die Luft jagen, die sie selber gebaut haben.“

Todds Einschätzung zur Causa Nord-Stream-Sprengung, möglichen Verursachern und gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmungen lautet:

„Natürlich die Amerikaner. Aber das ist völlig unwichtig. Es ist normal. Wichtig ist die Frage: Wie kann eine Gesellschaft glauben, dass es die Russen gewesen sein könnten? Wir haben es hier mit einer Umkehrung der möglichen Realität zu tun. Das ist viel schlimmer.“

Todd erkenne aktuell die drohende Gefahr eines „Zusammenbruchs der protestantischen Welt“. Die USA hätten in den zurückliegenden Jahrzehnten zur „Durchsetzung ihrer Interessen immer wieder Kriege geführt – auch angezettelt“, so der Historiker im Interview. Zu den bedenklichen außenpolitischen Entwicklungen der EU, speziell Deutschlands, unter der Meinungsvorherrschaft der USA analysiert Todd:

„Auch die Russen sprechen von Machtverhältnissen, aber ihre Sprache ist defensiv. Die Europäer schwadronieren von Frieden und der Verbreitung ihrer humanistischen Werte ohne Armee. Das geopolitische Denken ist ihnen abhandengekommen. Zwischen der offensiven Strategie der Amerikaner und der defensiven Strategie der Russen befinden sich die Europäer in einem atemberaubenden Zustand der geistigen Verwirrung. Das gilt ganz besonders für Deutschland.“

Zusammengefasst steht es Todds Wahrnehmung zufolge um Deutschland gegenwärtig folgendermaßen:

„Ich habe sehr viel Mitgefühl mit den Deutschen. (…) Deutschland ist ein Land, das sich vom Krieg losgesagt hat. Ein Land praktisch ohne Armee. Das so wenig Kinder zeugt, dass seine hauptsächlichste Sorge darin besteht, Arbeitskräfte für die Erhaltung seiner Industrie ins Land zu holen. (…) Es interessiert sich nur für die Wirtschaft. Seine Logik war: Russland liefert Gas, unsere beiden Länder sind komplementär.

Und seit 1945 sorgt Amerika in einer Welt, für die wir (Deutschland) keine Bedrohung mehr sein wollen, für unsere Sicherheit. Aus dieser durch und durch rationalen Überlegung heraus entstand das Projekt Nord Stream. Es ging darum, die von der Ukraine und Polen erhobenen Abgaben zu umgehen. Deutschlands Tragödie besteht darin, dass es noch immer daran glaubte, von den Vereinigten Staaten beschützt zu werden.“

Todd erläutert dann Theorien und Strategien des US-Strategen Zbigniew Brzeziński. Seine Analyse des Klassikers von Brzeziński „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ besagt, dass die USA „ihre Vorherrschaft verteidigen müssen – das ist die Doktrin Brzezińskis“. Todd weiter im Interview:

„Also die Annäherung von Russland und China verhindern. Die Finanzkrise von 2008 hat deutlich gemacht, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung zur führenden Macht in Europa wurde und damit auch ein Rivale der USA.“

Zu dem „neuen“ Verhältnis der USA gegenüber dem wiedervereinten Deutschland lautet die Einschätzung:

„Nun ließ Berlin seine Bereitschaft erkennen, sich mit den Russen einzulassen. Der Kampf gegen diese Annäherung wurde zu einer Priorität der amerikanischen Strategie. Dass sie das Gasabkommen torpedieren wollten, hatten die USA stets deutlich gesagt. Der Ausbau der NATO in Osteuropa war nicht in erster Linie gegen Russland gerichtet, sondern gegen Deutschland. Deutschland, das seine Sicherheit Amerika anvertraut hatte, wurde zur Zielscheibe der Amerikaner. Ich empfinde sehr viel Mitgefühl für Deutschland. Es leidet an diesem Trauma des Verrats durch den beschützenden Freund – der 1945 auch ein Befreier war.“

Bezüglich der im März 2022 begonnenen militärischen Reaktion Russlands gegenüber der Ukraine erklärt Todd, dass „der Westen Russland provoziert hat“. Der US-amerikanische Politologe John Mearsheimer habe zuvor „nüchtern festgehalten, dass die Zusammenarbeit der Briten und Amerikaner mit seiner Armee die Ukraine faktisch zum NATO-Mitglied“ gemacht habe. Sie, die Ukraine, „wurde aufgerüstet, um Russland anzugreifen. Putins Angriff war eine defensive Invasion“, so die Einschätzung von Todd in der Weltwoche.

Zu einer möglichen aktuellen Gesamtstrategie der NATO und den jeweiligen Rollenverteilungen der beteiligten Partnerstaaten lautet die Analyse:

„Die Wahrheit der NATO sieht so aus: Sie besteht aus der Achse Washington–London–Warschau–Kiew. Deutschland und Frankreich sind ihre Juniorpartner, mit ihrer vorherrschenden Stellung in Europa ist es vorbei. Die Polen und die Ukrainer beschimpfen und beleidigen permanent die Deutschen. Für sie ist das unerträglich. Die Macht, die sie zu beschützen vorgab, hat nichts unversucht gelassen, um die vorherrschende Stellung Deutschlands in Europa zu zerschlagen. Deutschland befindet sich in einer Lage, die es in kognitiver Hinsicht überfordert.“

Todd ergänzt weiter provokativ:

„Die Deutschen wollten nicht in den Krieg. Scholz, der mir ein sehr vernünftiger Mensch zu sein scheint, wurde kritisiert, weil er sich nicht engagieren wollte. Krieg ist grauenhaft, scheußlich, ekelhaft, schrecklich. Die Deutschen wissen nur zu genau, dass Nord Stream von den Amerikanern zerstört wurde. Durch eine gemeinsame militärische Aktion der Amerikaner, Briten und Polen. Gegen Deutschland. Aber sie können es nicht sagen.

In Tat und Wahrheit sind die Deutschen von den Amerikanern angegriffen worden. Man wollte sie vom russischen Gas abkoppeln. Immerhin – Deutschland hat nicht völlig kapituliert: Scholz reiste nach Peking. Deutschland verweigert den Amerikanern die Abnabelung von China.“

Deutschland besitze eine Mitverantwortung für den fortlaufenden Krieg in der Ukraine. In diesem Krieg geht es laut Todd „um Interessen, zu deren Durchsetzung schon immer Kriege geführt wurden: Gas, Machtansprüche, Territorien“. Todd wünsche sich, dass „die Deutschen Folgendes begreifen würden:

„Die Seite des Guten, auf der sie stehen möchten, ist diesmal nicht jene der Vereinigten Staaten. Das Gute bedeutet: diesen Krieg beenden.“

Bezüglich der Bitte um eine kurze Darlegung einer theoretischen Vision der nahenden gesellschaftlichen weltweiten Zukunft betont Todd zunächst, dass „der Westen seine Werte verloren“ habe und sich „in einer Spirale der Selbstzerstörung“ befinde. Europa gerate aktuell „wieder unter die amerikanische Herrschaft“. Wegen der „schwachen Demografie“ werde zukünftig „nicht China die Welt beherrschen, sondern Indien zur Supermacht aufsteigen“.

Russland sei im Begriff, sich „als kulturell konservative, in technischer Hinsicht fortschrittliche Großmacht neu zu bestimmen“. Ein bedenkliches demografisches Problem sei für Todd dabei jedoch, dass Russland „die traditionellen Werte der Familie verteidigt und die LGBT-Bewegung bekämpft“, dabei jedoch „seine Geburtenrate nicht besser wird“. Dies bedeute, dass „es bereits in der gleichen metaphysischen Krise steckt wie der Westen“. Zusammenfassend lautet die Warnung des Historikers:

„In der Ukraine führen sie gegeneinander Krieg. Wenn er nicht gestoppt wird, werden ihn alle verlieren.“

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