„Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr“ Von Werner Rügemer Papyrossa

 

Werner Rügemer ist es gelungen mit seinem neuen Buch, das „Imperium EU“ und seine ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr“ zu entlarven und zu erklären wie es in Europa wirklich läuft. Spannend, lesenswert und wichtig!

 

Werner Rügemer

Imperium EU
ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr

Neue Kleine Bibliothek 284
Paperback, 319 Seiten

Erschienen, Anfang November 2020

ISBN 978-3-89438-726-6

In der Europäischen Union herrscht Arbeitsunrecht. Nicht nur durch gesetzlich fixierte Billiglöhnerei. Selbst die offiziellen Niedrigstandards werden millionenfach und straflos verletzt, etwa beim Mindestlohn und durch kettenartiges Subunternehmertum, auch für Millionen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter. Die abhängig Beschäftigten werden finanziell degradiert, gedemütigt, zermürbt, zum Schweigen gebracht. In den neuen EU-Staaten Osteuropas und des Balkans geschieht das noch brutaler als in den reichen westlichen Gründungsstaaten. Die eigentliche Krise der EU liegt tiefer als Brexit oder Rechtspopulismus. Sie entfaltet sich in der Arbeitswelt und in der sozialen, rechtlichen, finanziellen, kulturellen Ungleichheit der gesellschaftlichen Klassen. Bei aller derzeit wachsenden Kritik bleibt das Arbeitsunrecht ausgespart: Es ist das große Tabu der EU. Doch in vielen Mitgliedsstaaten hat das Aufbegehren längst begonnen, tiefer und vielfältiger als öffentlich zugestanden. Diese Kämpfe befinden sich mitten in einem Klärungsprozess. Es geht um gerechte Arbeit in einem freien, demokratischen und friedlichen Europa!

Werner Rügemer, Dr. phil., *1941, Publi­zist, Mitbegründer der »Aktion gegen Arbeitsunrecht«. Zahlreiche, auch international beachtete Bücher.

 

Literatur
Aus dem Buch „Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr“
Polen: ‚Westbindung‘: Militärisch und wirtschaftlich
Von Werner Rügemer

In seinem neuen Buch „EU-Imperium: ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr“ (Köln 2020) schildert Werner Rügemer die Organisation des ArbeitsUnrechts in der EU seit den Vorstufen in den 1950er Jahren (Montanunion, EG, EWG): Wichtige Akteure wie Jean Monnet (US-Banker, bis heute gefeierter „Gründervater Europas“), Grundlagentexte, Richtlinien, Subventionspraktiken, Migrations-Agenturen, Gerichtsurteile, Komplizenschaft von Kontrollbehörden. Rügemer bezeichnet das EU-weite ArbeitsUnrecht – dazu gehören auch Millionen WanderarbeiterInnen in der Bau-, Logistik-, Fleisch-, Agrar-, Gesundheits-, Pflege-, Tourismus- und Bordellindustrie – als wesentliche Ursache der politischen Rechtsentwicklung. Im Vorwort geht Rügemer auf den Klassencharakter der Gesundheitssysteme in der EU und der vorherrschenden Virologie sowie der Corona-Maßnahmen ein. Im 2. Teil des Buches schildert Rügemer weithin unbekannte Formen sowohl des ArbeitsUnrechts wie auch neuer Gegenwehr in einem Dutzend EU-Mitglieds-, Anwärter- und assoziierter Staaten, so in Spanien, Kroatien, Ungarn, Polen, Litauen, Österreich, Skandinavien, Nordmazedonien und auch der Schweiz. Wir veröffentlichen das Kapitel „Polen: ‚Westbindung‘: Militärisch und wirtschaftlich“ (gekürzt).

Die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc, 1980 gegründet, war gut, um mit der Parole der Freiheit den Sozialismus zu stürzen. Dafür wurde sie von katholischen Bischöfen und dem polnischen Papst Wojtyla, Johannes Paul II., vom CIA und von westlichen Gewerkschaften und „Menschenrechtlern“ unterstützt. So wurde Solidarnosc auch im EU-Staat Polen Mitglied des (a)sozialen Trialogs mit der nationalistisch-katholischen Regierung und den westlichen Großinvestoren wie Amazon: Solidarnosc verwaltet nun das ArbeitsUnrecht auch der eigenen Mitglieder.

Aufgrund ihres hohen antikommunistischen und antirussischen Potentials wie auch seiner territorialen Größe und zentralen Lage war Polen für die USA besonders bedeutsam – vergleichbar mit der Adenauer’schen Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg. Sofort 1990 etablierte sich die American Chamber of Commerce in Poland. Christine Lagarde als Präsidentin der damals außenpolitisch wichtigsten US-Kanzlei Baker McKenzie und der polnischstämmige außenpolitische Berater mehrerer US-Präsidenten, Zbigniew Brzezinski, entwickelten ab Mitte der 1990er Jahre im Auftrag der US-Regierung die Strategie zur wirtschaftlich-militärischen Erschließung Polens. (1)

Dazu gehörte die frühe Aufnahme in die NATO. Polen wurde unter den US-Präsidenten Bush, Obama und Trump zum Zentrum der „Ost-NATO“. Das sind die Staaten, die besonders eng mit den USA zusammenarbeiten und von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer einen Gürtel gegen Russland bilden. Er wird auch Intermarium genannt: Wiederauflage des gegen die Sowjetunion gerichteten Konzepts des antisemitischen polnischen Diktators und Hitler-Verbündeten Josef Pilsudski aus den 1930er Jahren. Der wiederum hatte nostalgisch auf die polnische Adelsherrschaft in Osteuropa während des 16. bis 18. Jahrhunderts zurückgegriffen. (2) Die katholischen Oligarchen heute haben darum gebettelt, dass das gegen Russland gerichtete Mittelstreckensystem der USA, Aegis, hier aufgestellt wird.

Nicht zufällig war es beim NATO-Gipfeltreffen 2016 in Warschau, dass Obama bekräftigte: Das Bündnis richtet sich gegen den Aggressor Russland, die europäischen NATO-Mitglieder müssen ihr Militärbudget auf zwei Prozent des Bruttosozialprodukts erhöhen, es werden gemeinsame Manöver durchgeführt. 2018 erfüllten die meisten Staaten der Ost-NATO bereits die zwei-Prozent-Forderung: Polen, Litauen, Lettland, Estland – Rumänien mit 1,9 Prozent knapp darunter – für das Militärbudget. (3)

EU-Beihilfen für militärisch nutzbare Autobahnen

Ein großer Teil der EU-Beihilfen ging in den Bau von 3.300 Kilometer Autobahn. Sie sollen insbesondere den LkW-Verkehr für die Produktions-, Dienstleistungs- und Lieferketten westlicher Investoren fördern. (4) Das gilt etwa für die an Autobahnkreuzen errichteten Logistikzentren von Amazon, deren Einzugs- und Lieferbereich nach West- wie Osteuropa reicht. (5)

Gleichzeitig, abgestimmt mit der NATO, dienen die nord-südlich und ost-westlich verlaufenden Autobahnen auch dem Transport von Militärgeräten und Truppen, so ost-westlich die 670 Kilometer von Görlitz an die ukrainische Grenze. Die Ukraine ist in der US-Strategie der Schlüsselstaat, um Russland anzugreifen.

Ganz Polen eine Sonderwirtschafts-Zone

Die EU feiert Polen mit den jahrelangen Fünf-Prozent-Wachstumsraten als erfolgreichste Wirtschaft unter den ex-sozialistischen Staaten. Ein wichtiger Faktor sind die Sonderwirtschafts-Zonen (SWZ): Kein anderer Staat hat so viele. Besser gesagt: Polen entwickelte sich zu einer einzigen SWZ. Zunächst richtete die Regierung 14 SWZ ein. Sie locken Investoren mit zahlreichen Subventionen: Zu den EU-Beihilfen kommen Steuerbefreiungen, kostenfreie Anbindung an die Autobahnen, kostenfreie Energie-, Wasser/Abwasser-Anschlüsse, subventionierte Energiekosten, vergünstigte Kredite.

Die 14 SWZ sind Industrieparks, die 300 weitere Außenstellen unterhalten. Inzwischen können sich westliche Konzerne aber selbst den Ort einer Niederlassung aussuchen, unabhängig von einer SWZ. Als die Supermarktkette Lidl ihr neues Logistikzentrum an einem neuen Standort einrichten wollte, wo es keine SWZ gab, erklärten die Behörden den Standort kurzerhand zu einer neuen SWZ. Die Passauer Neue Presse setzte durch, dass der von ihr ausgesuchte Standort für eine Großdruckerei zu einer SWZ erklärt wurde. (6)

So errichteten und errichten die Auto- und Zulieferkonzerne VW, Daimler, MAN, Bosch, FIAT, General Motors, Opel/PSA, Toyota, KIA und Hyundai (Südkorea), die Elektromultis Siemens, Samsung (Südkorea) und Sharp (Japan), die Logistikkonzerne Deutsche Post DHL, UPS und Girteka (Litauen), die Chemiekonzerne BASF und Henkel hochsubventionierte Niederlassungen. Die Lufthansa betreibt mit General Electric ein Wartungszentrum für Flugzeuge. Kaufland und Lidl eröffnen immer mehr Supermärkte. Auch Autozulieferer wie Festo, Sitech (VW), ABM Greiffenhagen und Lenze lassen hier arbeiten. Um sie herum gruppieren sich Sub-Subunternehmer-Ketten einheimischer Mittel- und Kleinbetriebe.

IWF, Westliche Banken, Konzern-Lobby

Zu den Steuer-Subventionen, die der polnische Staat gewährt, kommt die Steuerflucht. So laufen die meisten Investitionen und Kredite – vor allem aus den USA – steuerlich über die EU-Finanzoasen Niederlande und Luxemburg. (7)

Die US-amerikanische Handelskammer in Polen vertritt 300 US-Unternehmen und Banken, darunter 80 aus der Liste der 500 größten US-Konzerne. Sie versteht sich als „die führende Stimme der internationalen Investoren in Polen“. Sie unterhält zusammen mit der US-Botschaft „enge Beziehungen“ zu den polnischen Behörden. Die Regierung verleiht immer wieder Vertretern der Handelskammer den höchsten Zivilorden. (8) An zweiter Stelle als Lobbyist steht die Außenhandelskammer aus Deutschland.

„Nach Polen sind große westliche Konzerne gekommen, die im Grund hier machen, was sie wollen, ohne Rücksicht auf den polnischen Kontext und die lokalen Bedingungen“, so Andrzej Szabaj, Professor für Politische Philosophie an der Universität Torun. (9)

Tagsüber im Autokonzern, abends Pakete ausliefern

In den Filialen der Auslandskonzerne gibt es nur kleine Stammbelegschaften, in keinem anderen EU-Staat ist der Anteil an Leiharbeitern – wöchentlich kündbar – so hoch. Die im Westen führenden Leiharbeit-Verkäufer Adecco, Manpower und Randstad betreiben hier große Niederlassungen.

In den angelagerten Subunternehmen dominieren alle Formen der befristeten und zerstückelten Arbeit: Hier kann man froh sein, wenn wenigstens der Mindestlohn von 3,50 Euro/Stunden (Stand 2020) korrekt bezahlt wird, wenn auch nicht für alle Überstunden. „Tatsache ist, dass in Polen die Zahl prekärer (Kurzzeit)Stellen in der ganzen EU die höchste ist“, konstatiert zufrieden die Unternehmerpostille FAZ. (10)

Selbst wer direkt bei einem Autokonzern Vollzeit arbeitet, verdient nicht genug, um die hohen Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Tagsüber bei Toyota etwas über dem Mindestlohn verdienen, abends für Deutsche Post DHL noch Pakete ausliefern – dieses Zweitjob-Muster ist verbreitet. (11)

Subventionen und Rechtsbrüche für die Niedriglöhnerei

Der Staat subventioniert die Konzerne durch (12)

  • aufgestockte Löhne
  • Kostenerstattung für neu eingerichtete und umgerüstete Arbeitsplätze
  • Zuschüsse für Trainingsprogramme
  • Erstattung von Sozialabgaben bei eingestellten Arbeitslosen
  • Erlaubnis zu unbezahlten Praktika bis 12 Monate ohne Arbeitsvertrag.

Gleichzeitig lässt der Staat es zu, dass Unternehmen diese niedrigen Standards verletzen. Das ermittelt nicht die EU, sondern etwa die deutsche Gewerkschaft verdi. Die polnische Arbeitsinspektion deckt die Nichtbezahlung von Überstunden, Arbeitszeiten von über 16 Stunden und die Verletzung von Schutzvorschriften. (13)

Privilegien für Staats-Arbeiter: Von der EU gefördert

Wie in Ungarn besteht ein großer Staatssektor. Dazu gehören der Ölkonzern Orlen und mit PGG die großen Kohle-Kraftwerke und Bergwerke, die Kohle und Braunkohle liefern. PGG ist der größte Kohlekonzern in der EU. 80 Prozent der Energie in Polen kommt aus Kohle.

Der Staat fördert diese veraltete, giftige Energie. Er gibt sie verbilligt an Investoren weiter. Die EU subventioniert das: Sie bewilligte im Jahr 2019 Beihilfen, damit „große Energieverbraucher“ von „Abgabeermäßigungen“ profitieren können. Das soll der „weltweiten Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industriezweige“ dienen. (14)

EU und Green Deal?

In dieser kapitalistischen Staatswirtschaft blüht die Vetternwirtschaft. Beschäftigte haben hier ungewöhnliche Privilegien: Sichere und unbefristete Arbeitsplätze, großzügige Gehaltserhöhungen von jeweils 12 Prozent in 2019 und 2020. Dazu gibt es Quartalsprämien, die sich zu einem 14. Monatsgehalt summieren.

Damit stützt die Regierung wie in Ungarn und Tschechien eine einheimische Oligarchie. Sie verschafft sich damit auch Gewinne, mit denen sie Sonderprojekte für andere Günstlinge finanziert, (15) aber auch Kindergeld und ein Wohnungsbauprogramm für die untere Mittelschicht: das sind wichtige Wähler. (16)

EU-Agrarbeihilfen: Kleinbauern werden arbeitslos

Die EU subventioniert Landwirtschaft: Zuschüsse bis 50 Prozent und Prämien für Modernisierungen. Von 2014 bis 2020 waren das 8,6 Mrd. Euro, das größte Agrarprogramm pro Kopf in der EU. Die Subventionen sind aber für die vielen Kleinbauern unerreichbar, ein Großteil leidet unter den Pachten, die durch das land grabbing kapitalkräftiger Investoren – einheimische Alteigentümer und westliches Agrobusiness – erhöht werden.

So wurde Polen zum größten Geflügel-Exporteur in der EU. Die Regierung zahlt den arbeits- und landlosen Bauern, da sie eine wichtige Wählerschaft sind, großzügige Sozialleistungen. Das reicht zwar irgendwie zum Leben, aber Arbeitslosigkeit und Verarmung in den Dörfern schreitet fort. (17)

Auswandern, einwandern

2,5 Millionen Polen sind dauerhaft ausgewandert, andere verdingen sich wochen- und monatsweise als Saisonkräfte im Westen. Gleichzeitig wird die millionenfache Einwanderung noch ärmerer Menschen gefördert.

Aus der Ukraine, von der EU und der NATO hochgelobt und verarmt, arbeiten inzwischen über eine Million Pendler und Übersiedler auf Billigarbeitsplätzen in Polen, als Haushalts- und Putzhilfen und als Saisonarbeiter für Agrarkonzerne. Die Regierung will möglichst viele der 900.000 Polen aus Großbritannien zurückholen, aber die wollen nicht. (18)

2004 waren in Polen 10.000 Speditionsfirmen registriert. 2017 waren es 30.000. Die über Leihfirmen angeheuerten LkW-Fahrer – etwa 300.000 – kommen zunehmend ebenfalls aus der Ukraine, aus Litauen, Weißrussland, Moldawien und auch aus Sri Lanka. Auch hier hilft die Arbeitsaufsicht bei der Verletzung von Arbeits- und anderen Gesetzen: Die eingereichten Dokumente über Wohnort, Lizenz, Versicherung der Fahrer werden ohne Prüfung akzeptiert. (19)

Die nationalistische Regierung wirbt mit christlich lackiertem Populismus für den Zusammenhalt der Gesellschaft, für den Wert der Familie. Der Kult der Gottesmutter Maria ist überall präsent. Aber die erzwungene, auch organisierte Aus- und Einwanderung zerreißt Millionen Familien, europa- und weltweit.

Verstärkte Aufbrüche, erstickt – nicht ganz

Der überschuldete Standort-Staat hat, außer den zentralen Ministerien, die öffentliche Verwaltung „verschlankt“: Das betrifft Arbeitsaufsicht, Schulen, Krankenhäuser.

Ärzte im Hungerstreik

Die Krankenhäuser sind personell nicht nur unterbesetzt. Die nicht ausgewanderten Ärzte, Pfleger und Hebammen sind schlecht bezahlt. Sie sind vielfach nur befristet angestellt. Viele haben als Schein-Selbständige einen Honorarvertrag. Krankenhaus-Ärzte machen nach dem Dienst noch ein paar Stunden ihre Privatpraxis auf. Ärzte in Ausbildung verdienen 500 Euro im Monat.

Im Dezember 2017 brach die lange Unzufriedenheit auf. 200 Ärzte, vor allem Assistenzärzte gingen in einen Hungerstreik, vier Wochen lang. Das hatte es noch nicht gegeben. Über 1.000 Ärzte kündigten gleichzeitig ihre opt out-Klausel: Um ein bisschen mehr zu verdienen, hatten sie zu den 48 Wochenstunden noch weitere 15-20 Wochenstunden übernommen. Jetzt machten sie Dienst nach Vertrag, ohne Überstunden. Sie gingen auf die Straße. (20)

Im Januar 2018 legten die Assistenzärzte nach, verweigerten Extraarbeit, legten in mehreren Kliniken den Betrieb lahm. Das war alles erstmalig, machte großes Aufsehen. Sogar im Ausland wurde (ein bisschen) berichtet. Der Gesundheitsminister wurde ausgewechselt. Der Erfolg schien nahe. Die Regierung stellte Verbesserungen und Gehaltserhöhungen in Aussicht. Die Gehälter wurden ein bisschen aufgestockt. Aber es wurden keine neuen Stellen geschaffen.

Große Ernüchterung stellte sich ein, Frust. „Es war sehr einfach, diesen ganzen Ärger, der da unter der Oberfläche gärte, auf die Straße zu bringen.“ Aber: „Nach unserem couragierten Hungerstreik bin ich wirklich überrascht, wie wenig wir erreicht haben“, so der 31jährige Aktivist Dr. Filip Dabrowski, Gynäkologe. (21) Keine Solidarnosc hatte sich solidarisch gezeigt.

LehrerInnen 2019: Größter Streik seit Systemwechsel

Wie das Gesundheitssystem ist auch das öffentliche Schulsystem marode. Es gibt zu wenig Lehrer, die meisten sind über 50 Jahre alt, nur 7 Prozent sind unter 30. Dazu sind die wenigen schlecht bezahlt: Für Berufsanfänger zahlt der Staat 420 Euro im Monat, nach 15 Jahren Berufstätigkeit 1.250 Euro brutto. Die Gebäude verfallen. Es gibt zu wenig Räume, weil marode Gebäude geschlossen werden müssen. Deshalb sind die Klassen mit bis zu 40 Schülern überfüllt. In manchen Schulen hat die Regierung deshalb Schicht-Unterricht angeordnet. Viele Lehrer können sich nur mit Nachhilfe-Stunden über Wasser halten: Das marode System schafft in perverser Logik die Nachfrage. (22)

Regierung schickt Priester als Streikbrecher

Im April 2019 brach die Scheinruhe auf. Die beiden Lehrerorganisationen ZNP und FZZ hatten drei Jahre lang einen unbefristeten Streik vorbereitet – 90 Prozent der Mitglieder hatten für den Streik gestimmt. Vier Fünftel der LehrerInnen beteiligten sich. Auch Hausmeister und ErzieherInnen in den Kindergärten schlossen sich an. In den großen Städten wurden Kundgebungen abgehalten.

Gefordert wurde wie bei den Ärzten eine Gehaltserhöhung, um 15 Prozent in diesem und nochmal 15 Prozent im nächsten Jahr. Gefordert wurde auch die bessere Ausstattung der Schulen. Die Bevölkerung war gespalten, wie die polnische Gesellschaft überhaupt: die Hälfte war für den Streik. Die andere Hälfte war dagegen – das waren vor allem die PiS-Wähler. Der Gegenvorschlag der Regierung: Ihr könnt die Unterrichts-Wochenstunden von 18 auf 24 erhöhen, dann könnt ihr auch mehr verdienen, nämlich 9,6 Prozent. (23)

Gleichzeitig forderte die Regierung die Schulleiter auf, die Namen und Daten der Streikenden zu melden. Wo Prüfungen auszufallen drohten, kommandierte die Regierung 9.000 Ordensschwestern, Priester, Förster, Feuerwehrleute, pensionierte Lehrer und auch Gefängniswärter in die Schulen.

Solidarnosc mit Regierung für schlechte Arbeitsbedingungen

Solidarnosc hatte ihren Mitgliedern verboten, am Streik teilzunehmen. Aber sie verhandelte mit der Regierung – ohne Absprache mit den beiden Lehrerorganisationen: Gehaltserhöhung um fünf Prozent, eine Sondervergütung für Berufsanfänger, eine Ausbildungshilfe ab 80 Euro pro Monat. Und die Lehrerausbildung wird verkürzt.

ZNP und FZZ beendeten den Streik unter Vorbehalt, im Herbst solle weiter gestreikt werden. Aber es wurde nicht weiter gestreikt. Insgesamt bleibt das allgemeinbildende Schulsystem marode – ohne Ersatz.

International vernetzt gegen Amazon

Amazon mit 650.000 Beschäftigten weltweit – mit „Corona“ sind es 170.000 mehr – ist eines der wichtigsten Labore der digital organisierten Arbeit für den Kampf um Menschenrechte:

  • Amazon kooperiert nicht nur eng mit dem US-Militär und verarmt zahlreiche Staaten durch Steuerbetrug.
  • Amazon verbreitet weltweit Hass gegen Gewerkschaften und jede Form der kollektiven Vertretung der Beschäftigten.
  • Amazon fördert alle Formen der Prekarität und der allseitigen und allzeitigen Verfügung über die Arbeitskraft, auch in der Nacht und am Sonntag.
  • Amazon setzt auch alle Formen der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz ein, um abhängig Beschäftigte auszupressen, zu überwachen, zu disziplinieren.

In Polen unterhält Amazon mit EU-Beihilfen vier Logistikzentren, ein Zentrum für Softwareentwicklung und einen Standort für den Cloud-Speicherdienst Amazon Web Services (AWS). Da arbeiten 15.000 Festangestellte – die Zahl der anderen ist nicht bekannt, wechselt sowieso ständig.

Beginn: Ein Bummelstreik

Im Juni 2015 ordneten die Amazon-Chefs im Fulfillment Center (FC) Poznan kurzfristig an: Die Schicht dauert jetzt eine Stunde länger! Mehrere Beschäftigte reagierten mit einem Bummelstreik. Der Grund für den Befehl: Im deutschen FC Bad Hersfeld wurde wieder mal gestreikt.

Die unabhängige Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (IP) mit ihren nur 300 Mitgliedern hatte den Bummelstreik nicht selbst organisiert, aber einige Voraussetzungen geschaffen. Sie hatte schon einige Zeit Kontakte zu verdi-Aktivisten in Bad Hersfeld und hatte über die Lage dort in Poznan Flugblätter verteilt. So wusste man, dass man in Poznan als Streikbrecher dienen sollte. (24)

10,5 Stunden-Schicht mit unbezahlter Pause

Gearbeitet wird in Schichten zu 10,5 Stunden mit einer unbezahlten Halbstunden-Pause und in Blöcken von je vier Arbeitstagen. Für Nachtschichten und Sonntagsarbeit gibt es keine oder höchstens minimale Zuschläge. Videoüberwachung auch in den Umkleideräumen ist Standard. Amazon zahlt pro Stunde den jeweils von der Regierung beschlossenen Mindestlohn: Der wurde seit 2015 schrittweise von 2,94 Euro brutto bis 2019 auf 4,36 Euro erhöht.

IP organisierte im Folgejahr eine Urabstimmung für einen richtigen Streik. Die 2.000 Stimmen dafür reichten aber nach dem polnischen Arbeitsrecht nicht: Für einen Streik müssen alle Beschäftigten befragt werden, nicht nur die Gewerkschaftsmitglieder, und es müssen mindestens 50 Prozent für den Streik stimmen. Die Geschäftsführung hatte in angeordneten Betriebsversammlungen vor der Teilnahme an der Urabstimmung gewarnt. Schon nach dem Bummelstreik hatten die Chefs mehrere Beschäftigte zu Einzel-Verhören vorgeladen, drängten zu Aufhebungsverträgen, ließen Erklärungen unterschreiben, ob sie am Bummelstreik beteiligt waren und von wem sie dazu aufgefordert worden seien. Einige verließen „freiwillig“ die Arbeitshölle. (25)

Internationale Vernetzung

Solidarnosc ist von Amazon als zuständige Gewerkschaft anerkannt. Den von IP ausgelösten Druck konnte die gelbe, regierungsnahe Gewerkschaft schließlich doch nicht mehr ignorieren, die eigenen Mitglieder drohten wegzulaufen. So stellten Solidarnosc und IP 2019 gemeinsam Forderungen auf. Dazu gehört die Erhöhung des Stundenlohns auf 5,89 bis 8,01 Euro, also fast eine Verdoppelung.

Solidarnosc beteiligt sich inzwischen auch an den internationalen Vernetzungstreffen von Amazon-Beschäftigten. Zu den Treffen, die bisher in Brüssel, Dublin und Berlin stattfanden, kommen mittlerweile 23 Initiativen und Gewerkschaften aus 19 Staaten, auch aus den USA, Pakistan, Ägypten, Brasilien. Der Beginn waren ab 2013 die ersten Streiks im deutschen FC Bad Hersfeld. Streiks in Frankreich, Spanien, Italien folgten. Weil Amazon wegen der exzessiven Flug- und LkW-Transporte einer der größten Luftvergifter ist, beteiligten sich 3.000 US-Beschäftigte am Global Climate Strike am 20.9.2019. (26)

„Einer der wichtigsten Arbeitskämpfe“

Die Gewerkschaft UNI Global Union übernimmt die Koordination. Diese Gewerkschaft wurde 2000 gegründet, hat ihren Sitz in der Schweiz, hat sich auf die global neuen Arbeitsbedingungen eingestellt und ist inzwischen in 150 Staaten präsent. In Polen hat sie in Absprache mit IP und Solidarnosc das Organizing Center COZZ eingerichtet.

„Der Kampf gegen die unternehmerische Gier Amazons ist einer der wichtigsten Arbeitskämpfe der jüngeren Geschichte“, bilanziert Christy Hoffman von UNI Global Union. (27)

Werner Rügemer: Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr.

Papyrossa Verlag, Köln Oktober 2020. 320 Seiten, 19,90 Euro

Fußnoten:

1 Werner Rügemer: Das charmante Gesicht der Ausbeutung Europas www.nachdenkseiten.de 4.11.2019
2 Vgl. Clara Weiss: Die Strategie des Intermariums, wsws.org/de 6.7.2016
3 https://de.statista.com/infografik/4861/militaerausgaben-nato-laender 3.4.2019
4 EU-Subventionen für Polen, mdr 27.4.2018
5 Amazon baut fünftes Logistikzentrum in Polen, Deutsche Verkehrszeitung 21.2.2017
6 Tomasz Konicz: Europa als Sonderwirtschaftszone, DGB Gegenblende 17.10.2012
7 Bedeutendste Investoren in Polen, Handelsblatt 21.4.2017
8 https://amcham.pl/amcham-mission, abgerufen 11.2.2020
9 Sonderwirtschaftszonen in Polen. Am Tropf der Weltkonzerne, Deutschlandfunk 23.4.2017
10 Die Polen kehren heim, FAZ 25.2.2020
11 Sonderwirtschaftszonen in Polen. Am Tropf der Weltkonzerne, DLF 23.4.2017
12 Kanzlei JP Weber: Invest in Poland. Ratgeber für Investoren, Warschau 2015, S. 125
13 ver.di: Schwarzbuch Lidl Europa, Berlin 2006
14 Europäische Kommission: Staatliche Beihilfen: Kommission genehmigt Beihilfe Polens, Pressemitteilung 15.4.2019
15 Reinhard Lauterbach: Kumpel blockieren Gleise, junge Welt 21.2.2020
16 Die Polen kehren heim, FAZ 25.2.2020
17 Die zwei Seiten der Landwirtschaft in Polen. Landwirtschaftliches Wochenblatt 37/2016
18 Poland’s strong economy lures workers back from Britain, Financial Times 11.12.2019
19 Elisa Schimantke/Harald Schumann: Das schmutzige Geschäft mit LkW-Fahrern aus Osteuropa, Der Tagesspiegel 9.10.2018
20 Polnische Ärzte fordern Regierung heraus, Deutschlandfunk 11.12.2017
21 Polnische Ärzte: Keine Verbesserung nach dem Hungerstreik, Deutschlandfunk 6.2.2020
22 Reinhard Lauterbach: Schulen bleiben zu. Polens Lehrer im Ausstand, Solidarnosc macht den Streikbrecher, junge Welt 9.4.2019
23 Lehrerstreik in Polen: Bildungssystem vor dem Zusammenbruch, meinwarschau.com 9.4.2019
24 Joern Böwe/Johannes Schulten: Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten, Berlin 2019, S. 23f.
25 Ralf Ruckus/Jan Podrozny: Amazon Polen – Über 2.000 Beschäftigte wollen streiken, Telepolis 26.6.2016
26 Von Bad Hersfeld in die Welt, ver.di publik 8/2019
27 Siehe Erstes internationales Amazon-Symposium 2.12.2019, handel.verdi.de

Online-Flyer Nr. 756  vom 04.11.2020

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