Israel in kollektiver Lethargie Von Moshe Zuckermann

Ich danke Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen, heute auf Overton erschienen Artikel auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

Israel in kollektiver Lethargie

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In Haifa nahmen gestern an einer Demonstration zur Befreiung der Geiseln und mit der Forderung nach einem Waffenstillstand 150 Menschen teil. Screenshot aus Haipo-YouTube-Video.

Man weiß in Israel, dass Netanjahu bewusst einen Deal mit Hamas unterwandert, der die Befreiung der Geiseln erzielen würde. Warum protestieren nicht Hunderttausende auf Israels Straßen?

 

Als der gegenwärtige Gazakrieg infolge des 7. Oktober ausbrach (und die Regierung sich von der ersten Schockwirkung des Desasters schnell “erholte”), legte sich eine teils selbstauferlegte, teils propagandistisch angefachte Einheitsemphase über die gesamte jüdische Bevölkerung des Landes, etablierte sich mit Parolen wie “Gemeinsam werden wir siegen!” und institutionalisierte sich nach und nach in den Medien, die kaum noch Kritik an der schuldig gewordenen Regierung, schon gar nicht an der Armee, zuließen und zuweilen den Eindruck erwecken mochten, dass sie – freiwillig oder “von oben” gesteuert – gleichgeschaltet sind.

Das ist bekanntlich für Kriegszeiten nicht ungewöhnlich: Nicht nur die Musen schweigen, wenn die Kanonen donnern (was übrigens nicht stimmt), sondern eben auch die Kritik; man soll ja die konzentrierte Anstrengung und den kämpferischen Einsatz gegen den äußeren Feind nicht durch “Ablenkung vom Wesentlichen” unterwandern. Wenn Soldaten an der Front fallen, darf man sich nicht mit politischen Petitessen befassen. Dass die Petitesse die Frage nach der schieren Raison des Krieges belangen könnte, spielt dabei keine Rolle. Im Hebräischen hat dafür der Slang den ironisierende Slogan “Ruhe – man schießt” kreiert.

Die Bevölkerung ist in Lähmung verfallen

Nach zehn Monaten des Krieges fällt aber auf, dass da nicht mehr nur eine selbstgewählte (und durch perfide Manipulation der Regierung befeuerte) Zurückhaltung am Werk ist, sondern dass eine allgemeine Lähmung die Bevölkerung erfasst hat. Bedenkt man die Massendemonstrationen gegen Netanjahu, die nach Beginn seines Prozesses wegen Korruption, Betrug und Veruntreuung monatelang anhielten, sowie den vehementen Protest in den neun Monaten vor dem 7. Oktober, als er mit seiner faschistischen Regierungskoalition einen für eine “Justizreform” ausgegebenen Staatsstreich versuchte – blickt man fassungslos auf die sich apathisch-lethargisch durch die langen Monate des Krieges quälende israelische Bevölkerung. Dies umso mehr, als sich immer deutlicher herausstellt, dass auch der von Israel geführte mörderische Krieg nicht zu bewirken vermag, was man sich zum Ziel gesetzt hat: Weder hat es die mächtige IDF geschafft, die Hamas militärisch vollends zu bezwingen, noch hat man durch den militärischen Druck – mithin die verbrecherische Tötung von etwa 40.000 Gaza-Bewohnern und die materielle Verwüstung des Gazastreifens – die Befreiung der von der Hamas gefangenen Geiseln bewirkt.

Besagte Lähmung mag ihre Gründe darin haben, dass die Kräfte ausgezehrt sind und der Krieg mittlerweile neue Fronten für Israel gezeitigt hat: die Hisbollah in Libanon und den Iran mit seinen Stützpunkten im Jemen, in Syrien und dem Irak. Man ist ohnmächtig. Am deutlichsten wird das in der Reaktion auf Netanjahus Handhabung des Geiselproblems sichtbar. Mittlerweile sagen es die gemarterten Angehörigen der Geiseln unverhohlen: Netanjahu geht keinen Deal mit der Hamas ein, weil er den Krieg aus Privatinteresse des Macht- und Herrschaftserhalts nicht beenden will.

Selbst Vertreter der Armee und des Geheimdienstes meinen dezidiert, dass es höchste Zeit wird, einen Waffenstillstand herbeizuführen, wenn man die verbliebenen Geiseln lebendig befreien will. Aber Netanjahu ist unbeirrbar, nicht zuletzt, weil ihm Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, die ganz Gaza erobert sehen wollen (eventuell auch, um eine jüdische Neubesiedlung zu initiieren), ihm androhen, im Fall eines Deals mit der Hamas zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Koalition aufzulösen.

Gerade deshalb ist es aber besonders erstaunlich, dass die Massendemonstrationen nicht wieder einsetzen und die Bevölkerung Netanjahu und sein Umfeld nachgerade indolent walten lässt. Es gibt schon seit Monaten Demonstrationen für die Geiseln, die von ihren Angehörigen mit aller ihnen verbliebenen Energie organisiert werden. Aber diese umfassen nur einige (viel zu wenige) Tausend Menschen. Die jüdische Bevölkerung des Landes solidarisiert sich mit den Geiseln, aber sie tut es nur ritualisiert, indem sie sich die dafür geschaffenen Zeichen ans Hemd heftet oder an die Klinke der Wagentür bindet. Der Lamentation der Angehörigen hört man in den Medien zu, als zeremoniellen Akt der Identifikation mit den vom Schicksal Geschlagenen. Was sonst kann man schon machen?

Der Protest müsste massiv werden

Darauf gibt es eine Antwort, gerade jetzt, wo man in eine kritische Phase der Verhandlungen über die Geiselbefreiung eingetreten ist: Hunderttausende (gar eine Million) Menschen müssten auf die Straße gehen, um den gewaltlosen zivilen Widerstand zu proben; die Ökonomie müsste spürbar bestreikt werden, so auch die Schulen, Universitäten und andere Kulturinstitutionen; die Medien müssten sich ersichtlich umorientieren und die Protestbewegung dezidiert unterstützen; die Polizeigewalt muss dabei hingenommen werden, bis selbst die Polizisten, die unter ihrem Minister Itamar Ben-Gvir zu Verrätern an ihrem Beruf geworden sind, zur Besinnung kommen, etc. etc. Der Protest muss sehr massiv werden. Er darf der Regierung auf keinen Fall das Bild vermitteln, dass es sich um die schwache Demonstration einer kleinen Minorität handelt, die ignoriert werden kann

Wem diese Zeilen merkwürdig vorkommen, hat vollkommen recht. Sie entstammen eher einem Wunschdenken, als dem Denken über reale Möglichkeiten der politischen Aktion in Israel. Dabei muss man bedenken, dass die Geiselfrage an sich schon als eine moralische Pflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern zu gelten hätte, aber abgesehen davon auch für ein Symptom eines über sie hinausgehenden Zustands erachtet werden muss.

Der reflektierte israelische Bürger kann heute seiner Regierung nicht mehr naiv vertrauen: Der Staat vermag kaum noch, seine physische Sicherheit zu garantieren, auch seine ökonomische Sicherheit ist durch die Kriegswirtschaft gefährdet; zudem muss er sich fragen, in welchem zivilgesellschaftlichen Wertesystem er in absehbarer Zukunft (letztlich heute schon) wird leben müssen in Anbetracht der sich zunehmend faschisierenden öffentlichen Sphäre, und ob er seine Kinder einem diesem Werteuniversum strukturell verpflichteten Erziehungssystem ausliefern möchte. Er wird sich selbst als Fremder im eigenen Land fühlen.

Gleichwohl sind selbst diese Zeilen aus einer partikularen Perspektive formuliert, eben der des reflektierten, konsequent kritischen Bürgers. Aber wie viele von ihnen gibt es im heutigen Israel? Dies ist keine polemische Frage. Man halte sich vor Augen, wie es um das Gesinnungsmosaik des Landes bestellt ist, wenn man die Klientel der orthodoxen Parteien (die sich um nichts als um ihre sektorialen Interessen kümmern), die Klientel der nationalreligiösen, messianisch befeuerten Parteien (die sich nur mit Belangen des Siedlungswerks im Westjordanland befassen), die Wählerschaft der Schas-Partei (die auch religiös-orthodox, zudem aber noch vom ethnischen Ressentiment getragen ist) und erst recht die Netanjahu-affinen Likud-Wähler (die ihrem “Bibi” eine unerschütterliche Nibelungentreue wahren) ausnimmt?

Wohlbedacht hat Netanjahu über Jahre dafür gesorgt, alles politisch und soziale Linke so schändlich zu besudeln, dass “links” im heutigen Sprachgebrauch Israels für ein landesverräterisch konnotiertes Schmähwort erachtet wird. Von der Verkümmerung der parlamentarischen “Opposition” Israels sei ganz geschwiegen. Deren Protagonisten stehen in der (teils faschistischen) Rechtslastigkeit ihrer Anschauungen und Einstellungen denen der Regierenden in nichts nach. Nicht von ungefähr stellen sie in den Augen der allermeisten Israelis keine Alternative zur herrschenden Regierung dar.

Desillusioniert über den Staat in der inneren Emigration

Über das Scheitern der deutschen Revolution von 1848 kursierte seinerzeit unter Historikern der Witz, sie sei gescheitert, weil es verboten war, den Rasen zu betreten. Der Wahrheitskern dieses Diktums lässt sich auch aufs heutige Israel übertragen. Allerdings stellt sich die Frage, um was für einen Rasen es sich hier handelt (wenn man bedenkt, wie wenig sich gemeinhin Israelis um munizipale Anordnungen im öffentlichen Raum zu kümmern pflegen).

Gemessen daran, dass sich Israel einem akuten kritischen Notstand ausgesetzt sieht, stellt sich in der Tat die Frage, was die agilen Demonstranten von 2023 noch daran hindert, ihre Protestemphase zu erneuern. Ist es der noch andauernde Krieg, von dem aber viele wissen müssten, dass er nicht beendet wird, weil er Netanjahus Privatinteresse dienlich ist? Ist es noch immer der lodernde Hass auf die Hamas, der selbst die bedrohliche Krise des Landes in Kauf zu nehmen bereit ist, solange der Rachedurst und das Vergeltungsbedürfnis für das den Israelis am 7. Oktober Widerfahrene nicht “endgültig” gestillt worden sind? Oder zeichnet sich hier etwas Tieferes ab, etwas, das man hier bislang so noch nicht gekannt hat?

Nicht ausgeschlossen, dass sich angesichts der Indifferenz Netanjahus gegenüber dem Land und seinen Bewohnern bei den Bürgerinnen und Bürgern eine kongruente Apathie gegenüber dem von seinen Regierenden verratenen Staat gebildet hat. Desillusioniert durch ihren nicht erhörten, ja nicht einmal ernsthaft wahrgenommen Protest haben sich viele Menschen in einen Überlebensmodus der nicht nur inneren Emigration versetzt – nicht wenige von ihnen sind bereits ausgewandert, bereiten die Auswanderung vor oder “Harren der Dinge”, um sich neu zu orientieren.

Vom Zionismus, der Ideologie des Staates, scheinen sich viele bereits verabschiedet zu haben, für sie hat der Verrat der Regierenden ein zentrales Fundament der ideologischen Raison des Staates angefressen: Er ist für sie kein sicheres Heim mehr, keine “Zufluchtsstätte für den verfolgte Juden”, kein gesellschaftlicher Rahmen, in dem sie Solidarität erwarten dürfen und mit dem sie sich noch identifizieren können. Das gilt natürlich nicht für alle verbliebenen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.

Aber die Lähmung greift um sich, die Hunderttausende gehen nicht mehr auf die Straße, sie glauben nicht mehr, dass man sie hören, ihren ohnmächtigen Aufschrei überhaupt rezipieren will. Sie leben im Ungewissen, bar jeglichen gewohnten Vertrauens und haben vor allem keine klare Zukunftsperspektive vor Augen – außer die des vom ewigen Krieg durchwirkten künftigen Leben in einem jüdischen Sparta.

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