Macht korrumpiert, wenn sie nicht überwacht wird Von Annette Groth

 

Aktueller Online-Flyer vom 26. Oktober 2020  



Kundgebung im Rahmen der Verleihung des Kölner Karlspreises an Sabiene Jahn und Julian Assange, Köln, 16.10.2020


Macht korrumpiert, wenn sie nicht überwacht wird
Von Annette Groth

In Kooperation mit Assange-Aktionsgruppen und dem Bundesverband Arbeiterfotografie hat die NRhZ am 16. Oktober 2020 den Kölner Karlspreis für Engagierte Literatur und Publizistik an die Eventmanagerin und Künstlerin Sabiene Jahn und den WikiLeaks-Gründer Julian Assange verliehen. Stellvertretend für den inhaftierten Julian Assange hat sein Vater John Shipton den Preis entgegengenommen. Die Preisübergabe fand im Rahmen einer ca. 55-stündigen Mahnwache für die Freilassung von Julian Assange statt – verbunden mit der Präsentation der Skulptur „ANYTHINGTOSAY?“ des italienischen Künstlers Davide Dormino (drei Stühle, auf denen Edward Snowden, Julian Assange und Bradley/Chelsea Manning stehen, und ein freier Stuhl, auf den sich stellen kann, wer dazu etwas zu sagen hat) – unmittelbar vor dem Kölner Dom. Im Rahmen der Einweihungskundgebung am 16. Oktober 2020 sprach Annette Groth (ehem. menschenrechtspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE). Das Manuskript ihrer Rede ist nachfolgend wiedergegeben.


Annette Groth vor der Skulptur ANYTHINGTOSAY? von Davide Dormino (Foto: arbeiterfotografie.com)

Lieber John, liebe Freunde und Freundinnen, Dank Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann, Herausgeber der Neuen Rheinischen Zeitung, NRhZ, stehen wir hier, und schreien die Ungerechtigkeit, die Julian Assange erfährt, laut heraus. Peter Kleinert, der frühere Herausgeber der NRhZ, hat den Kölner Karlspreis für Engagierte Literatur und Publizistik ins Leben gerufen und heute erhalten Julian Assange und Sabiene Jahn, diesen Preis. Sabiene Jahn ist eine mutige, aufrechte Künstlerin und Kämpferin für Menschenrechte und Demokratie, herzlichen Glückwunsch, liebe Sabiene! Es ist mir eine große Ehre, die Laudatio auf Julian Assange zu halten, und ich danke nochmals Anneliese und Andreas für ihr außerordentliches Engagement und für die Organisation dieser tollen Veranstaltung! Es dürfte allen klar sein, wie sehr die Presse- und Meinungsfreiheit auch bei uns gefährdet ist, vor allem in Corona-Zeiten, das will ich jetzt aber nicht vertiefen.

Seit einiger Zeit attackieren Polizisten insbesondere bei antifaschistischen Protesten oder Hausräumungen gezielt JournalistInnen, mit Schlagstöcken, Pfefferspray oder anderen Mitteln, zerstören Kameras und beleidigen sie verbal aufs Gröbste.

Seit März, Anfang des Corona-Ausnahmezustands, waren laut dem Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (DJU) Berlin-Brandenburg in der Gewerkschaft Verdi insgesamt etwa 50 Kolleginnen und Kollegen davon betroffen. Anfang Oktober hat die Polizei bei der Besetzung des Bundesverbands Braunkohle im Haus der Wirtschaft drei Kolleginnen und Kollegen festgenommen, darunter ein Journalist von Spiegel TV.

Angezeigt werden Polizisten sehr selten, weil die Polizei im Fall von antifaschistischen Protesten meist nicht mehr zwischen Journalisten und Aktivisten unterscheidet. Darüber hinaus läuft man Gefahr, plötzlich vom Opfer zum Täter erklärt zu werden, und damit also möglicherweise eine Gegenanzeige und ein Ermittlungsverfahren am Hals hat.

Die Behandlung und Diffamierung von Andersdenkenden hat inzwischen eine Dimension erreicht, die mir große Angst macht. Immer mehr WissenschafterInnen und JournalistInnen trauen sich nicht mehr die Wahrheit zu sagen, aus Angst vor shit-stürmen, die von handfesten Drohungen und Diffamierungen bis zu existenzbedrohenden beruflichen Nachteilen gehen können. Ich nenne das die neue Hexenverfolgung. Damit will man einschüchtern und Menschen davon abbringen, die Wahrheit zu sagen. Und das ist sehr erfolgreich, wie wir z.B. an den haarsträubenden Diffamierungen von Menschen sehen, die die israelische Regierungspolitik kritisieren und die Respektierung der Menschenrechte einfordern.

Nichts anderes hat Julian Assange gemacht: er hat die Wahrheit über die US-Kriegsverbrechen im Afghanistan- und im Irakkrieg gesagt und dafür Beweise geliefert, das ist sein Verbrechen! Sein einziges Verbrechen heißt Journalismus.

Um Julian Assange vor Gericht zu zerren und ihn lebenslang einzusperren, hat die Trump-Administration Journalismus zur Spionage umgedeutet. Sie beziehen sich auf ein Spionagegesetz von 1917, das während des Ersten Weltkrieges verabschiedet wurde, um Friedensaktivisten zum Schweigen zu bringen, die gegen die Kriegsbeteiligung der USA waren.

Nach Daniel Ellsberg, der 1971 die Pentagon-Papiere veröffentlichte, ist dies meines Wissens das zweite Mal in der Geschichte der USA, dass ein Journalist für die Veröffentlichung wahrheitsgemäßer Informationen nach dem Spionagegesetz angeklagt werden soll. An Julian Assange wird ein Exempel statuiert und die Botschaft lautet: „Wer sich mit uns anlegt, wird seines Lebens nicht mehr froh. Er wird sein Leben schließlich verlieren.“

John Pilger, einer der weltweit anerkanntesten Journalisten, hat in einem kürzlich veröffentlichten Interview gesagt: „Die Wahrheit ist, dass diese Qual, die Assange nun Tag für Tag ertragen muss, in einem Gericht, das nicht den Regeln des „ordentlichen Verfahrens“ sondern der Logik der fälligen Rache und Voreingenommenheit folgt — er muss da durch, weil die Träger politischer Macht ihn als politischen Feind ausgemacht haben. Eine vollkommen gesetzlose Herangehensweise. Ich habe über die Jahre in vielen Verhandlungen gesessen. So etwas wie diese Anklage habe ich noch nie gehört. Es ist wie die Teegesellschaft in „Alice im Wunderland“: Zwar sind alle verrückt, aber sie nehmen sich dabei vollkommen ernst. Ich glaube, die meisten Fehler, die US-Journalisten machen, sind ihrer Ignoranz in Fragen der Außenpolitik, des Kontextes und der Geschichte geschuldet.“

Auch bei uns ist die zunehmende Ignoranz vieler Journalisten, die nur noch wiedergeben, was Regierungssprecher oder ähnliche Figuren sagen, leider nicht mehr zu übersehen.

Umso wichtiger sind Journalisten, die noch angstfrei recherchieren und unbequeme Wahrheiten veröffentlichen. Darum geht es: die Verbrechen, die unsere Regierungen oder Konzerne verüben, aufzudecken und sie uns, der Bevölkerung mitzuteilen. Die Quellen, auf die sich die Rechercheergebnisse stützen, müssen geschützt werden, damit sie unversehrt bleiben und nicht getötet oder ins Gefängnis gebracht werden. Nur mit diesem garantierten Quellen-Schutz werden Menschen bereit sein, über Verbrechen zu sprechen, die vertuscht werden sollen.

Seit Wochen werden wir mit Informationen über den Gesundheitszustand von Nawalny und den Anschuldigungen gegen Putin überschwemmt, aber Informationen über den Prozess gegen Julian Assange sind rar, wie insgesamt die Medienberichterstattung über Julian Assange zumeist negativ und eher Propaganda der betroffenen Staaten war. Insgesamt gibt es nur wenige Journalisten weltweit, die sich oft und laut zu Wort melden und das Unrecht, dass an Julian Assange seit über 10 Jahren verübt wird, anprangern.

Vor einiger Zeit wurde Noam Chomsky gefragt, warum die Welt des Journalismus in Bezug auf die Verfolgung von Assange so stumm bleibt. Seine Antwort: „Vielleicht haben die Leute Angst, vielleicht haben sie andere Gründe. Aber es ist keine große Ehre für den Journalismus, zu sehen wie man sich davon zurückhalten lässt, jemanden zu unterstützen, der die höchsten Ideale des Berufstandes erfüllt und dafür brutal verfolgt wird. Dies ist eine Mission, die von Journalisten bejubelt werden sollte; sie sollten an der Front stehen, wenn es darum geht, Assange und auch sich selbst – gegen eine Staatsmacht, die außer Kontrolle geraten ist – zu verteidigen.“

Gerhart Baum, einer der letzten Liberalen der ollen FDP, betonte am 6.2. 2020: „Ich sitze heute hier, weil die Pressefreiheit kriminalisiert werden soll“. An dem Tag traten die ehemaligen Bundesminister Sigmar Gabriel (SPD) und Gerhart Baum (FDP) und die Linken-Abgeordneten Sevim Da?delen mit Günter Wallraff vor die Mikrophone in Berlin und stellten ihren gemeinsamen Appell „Freilassung für Julian Assange“ vor, den Wallraff initiiert hatte.

Die über 130 Prominenten aus Politik, Wissenschaft, Medien und Kultur, die diesen Appell unterzeichneten, forderten die Bundesregierung dazu auf, sich bei der britischen Regierung für die Freilassung von Assange einzusetzen. Aber ein Sprecher des Auswärtigen Amts erklärte, dass die Zuständigkeit des Verfahrens bei der britischen Justiz liege und die Bundesregierung über keine eigenen Erkenntnisse zu den Haftbedingungen verfüge.

Das ist eine unglaubliche Lüge, weil der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Nils Melzer, die Bundesregierung über die unmenschlichen Haftbedingungen in dem Hochsicherheitsgefängnis informiert hat. Melzer hatte gefordert, die Vorwürfe der Misshandlung Assanges und seine Haftbedingungen zu untersuchen, was in London, Berlin und von anderen beteiligten Regierungen aber überhört wurde. Sie sind mitschuldig an den massiven Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Antifolterkonvention.

Zu Recht verurteilte Melzer die involvierten Regierungen dafür, Assange den Schutz seiner grundlegendsten Menschenrechte und seiner Würde versagt zu haben.

Zitat: „In 20 Jahren Arbeit mit Opfern von Krieg, Gewalt und politischer Verfolgung habe ich es nie erlebt, dass sich eine Gruppe demokratischer Staaten zusammentut, um eine einzelne Person derart willkürlich zu isolieren, zu dämonisieren und zu missbrauchen.“

Ein Interview, das Melzer im Februar der Schweizer „Republik“ gab, einem digitalen Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, trug den Titel „Assange wurde von Schweden, England, Ecuador und den USA gezielt psychologisch gefoltert“. Dieses lesenswerte ausführliche Interview hat der Stern am 7.2. veröffentlicht, eine Lehrstunde für einen der Wahrheit verpflichtenden Journalismus.

Ich möchte einige Sätze von Nils Melzer zitieren: „Denn wenn investigativer Journalismus einmal als Spionage eingestuft wird und überall auf der Welt verfolgt werden kann, folgen Zensur und Tyrannei. Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System. Kriegsverbrechen und Folter werden nicht verfolgt. Youtube-Videos zirkulieren, auf denen amerikanische Soldaten damit prahlen, gefangene irakische Frauen mit routinemäßiger Vergewaltigung in den Selbstmord getrieben zu haben. Niemand untersucht das. Gleichzeitig wird einer mit 175 Jahren Gefängnis bedroht, der solche Dinge aufdeckt. Er wird ein Jahrzehnt lang überzogen mit Anschuldigungen, die nicht nachgewiesen werden, die ihn kaputtmachen. Und niemand haftet dafür. Niemand übernimmt die Verantwortung. Es ist eine Erosion des Sozialvertrags. Wir übergeben den Staaten die Macht, delegieren diese an die Regierungen – aber dafür müssen sie uns Rede und Antwort stehen, wie sie diese Macht ausüben. Wenn wir das nicht verlangen, werden wir unsere Rechte über kurz oder lang verlieren. Menschen sind nicht von Natur aus demokratisch. Macht korrumpiert, wenn sie nicht überwacht wird. Korruption ist das Resultat, wenn wir nicht insistieren, dass die Macht überwacht wird.“

Wir wollen die Mächtigen kontrollieren, und wie wichtig dies ist, zeigt uns Julian Assange. Darum werden wir überall und laut seine Freilassung fordern.

Will sich die Bundesregierung durch Schweigen nicht an Folter beteiligen und mitschuldig sein, muss sie alles tun, um Julian Assange freizukriegen und ihm Asyl anbieten.

Der Fall Julian Assange zeigt die absolute Doppelzüngigkeit der großen Medien, die laut aufschreien, wenn es um Rußlands mutmaßliche Vergehen geht, aber dröhnend zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen in westlichen Staaten schweigen.

Wir dürfen Verletzungen und die Außerkraftsetzung der europäischen Menschenrechtskonvention und der Antifolterkonvention nicht zulassen, Menschenrechte sind unteilbar, sie gelten auch und insbesondere für Whistleblower wie Assange. Freiheit für Julian Assange!

Siehe auch:

Kölner Karlspreis für Engagierte Literatur und Publizistik verliehen an Eventmanagerin und Künstlerin Sabiene Jahn und WikiLeaks-Gründer Julian Assange
Für aufrechten, wahrheitsgemäßen Journalismus
Von NRhZ-Redaktion
NRhZ 755 vom 23.10.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27065

Kundgebung im Rahmen der Verleihung des Kölner Karlspreises an Sabiene Jahn und Julian Assange, Köln, 16.10.2020
Ein Titan, ein Held unserer Kultur, der den Göttern trotzt
Von Davide Dormino (Bildhauer von ANYTHINGTOSAY?)
NRhZ 755 vom 23.10.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27066

Kundgebung im Rahmen der Verleihung des Kölner Karlspreises an Sabiene Jahn und Julian Assange, Köln, 16.10.2020
Foltern und die Guten sein?
Von Patrick Bradatsch und Claudia Daseking
NRhZ 755 vom 23.10.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27067

Kundgebung im Rahmen der Verleihung des Kölner Karlspreis an Sabiene Jahn und Julian Assange, Köln, 16.10.2020
Befreit Julian Assange! Befreit die Presse!
Von John Shipton (Vater von Julian Assange)
NRhZ 755 vom 23.10.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27068

Kundgebung im Rahmen der Verleihung des Kölner Karlspreises an Sabiene Jahn und Julian Assange, Köln, 16.10.2020
Einfach super!
Von Hermann Ploppa
NRhZ 755 vom 23.10.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27070

Kundgebung im Rahmen der Verleihung des Kölner Karlspreises an Sabiene Jahn und Julian Assange, Köln, 16.10.2020
Ganze Pandemien aus gefährlichen Gedanken
Von Ansgar Schneider
NRhZ 755 vom 23.10.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27070

Ankündigung
Kölner Karlspreis an Sabiene Jahn und Julian Assange, Köln, 16. Oktober 2020
Wider das Schweigen: Anything to say?
Von NRhZ-Redaktion
NRhZ 754 vom 30.09.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27063

Online-Flyer Nr. 755  vom 23.10.2020

1 Kommentar zu Macht korrumpiert, wenn sie nicht überwacht wird Von Annette Groth

  1. Ich möchte einen Satz von Nils Melzer zitieren: „Denn wenn investigativer Journalismus einmal als Spionage eingestuft wird und überall auf der Welt verfolgt werden kann, folgen Zensur und Tyrannei“. Das erinnert mich stark an Wilhelm Schlötterers Buch „WAHN und WILLKÜR – Strauß und seine Erben (vielleicht schlägt der derzeitige Minister Bayerns ja aus der Art, meine Anmerkung) oder wie man ein Land in die Tasche steckt.“ Da geht es noch nicht mal um Spionage, sondern schlicht um die Bereicherung in Politik und Wirtschaft und hinterlässt ein äußerst merkwürdiges, schlechtes Gefühl, worum es in einer Demokratie überall im Staat eigentlich geht. Nach zig Jahren schon fast aus der Erinnerung immer noch LESENSWERT, weil sich so gar nichts geändert hat. Wenn man sich das demokratische perfekte Abbild, ähnlich wie im bösen Sozialismus oder gar Kommunismus (wo man Wahlen wahrscheinlich gar nicht bräuchte) vorstellt, kommt man sich bei unseren Verhältnissen (wenn man das Buch wirklich begreifen will) als WÄHLER einfach nur VERARSCHT vor!

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