Normal sein Von Gilad Atzmon

Kultur und Wissen
Gedanken anlässlich einer juristischen Auseinandersetzung
Normal sein
Von Gilad Atzmon

Die jüdische Presse in Großbritannien und auf der ganzen Welt schien in den letzten Tagen begeistert. „Einer der lautstärksten Antisemiten Großbritanniens“ (scheinbar ich) „erlitt am Montag [2.7.2018] in London eine demütigende Gerichtsniederlage“, schrieb „The Jewish Algemeiner“. Auf Twitter schrieben erstere Israelis über mein „unterwürfiges“ Verhalten vor Gericht. Ich schätze, dass das Verbreiten von Lügen in solchen Kreisen eine ziemlich offizielle Politik ist. Um allen Fragen bezüglich meiner Position vor Gericht zuvorzukommen, folgt hier die Erklärung meines Anwalts, wie sie in meinem Namen abgegeben wurde: „Der Anwalt des Angeklagten, Jeffrey Smele. Im Namen des Angeklagten, Mr. Gilad Atzmon, stimme ich den Worten meines gelehrten Freundes zu. Herr Atzmon beabsichtigte in der Tat nie, mit seinem Artikel dem Leser zu suggerieren, dass Herr Falter ein ‚Betrüger‘ sei oder er persönlich von seiner Position bei der CAA [Campaign Against Anti-Semitism – Kampagne gegen Antisemitismus] profitierte. Mr. Atzmon entschuldigt sich aufrichtig bei [dem CAA-Vorsitzenden] Mr. Falter für das, was er getan hat.“


Montage: Gilad Atzmon

Entgegen der Aufschreie in den zionistischen Falschmeldungen hat mich das Gericht weder wegen „Antisemitismus“ noch wegen „Lügen“ angeklagt. Solche Worte wurden in der Entscheidung des Gerichts nicht erwähnt. Tatsächlich fand ein Prozess nicht statt. Als sich das Verfahren entwickelte, war ich nicht bereit, mich auf die „Definition“ von Justice Matthew Nicklin über die Bedeutung meiner Worte einzulassen. Ich war nicht mit der Aussage einverstanden, ich hätte in meinem Originaltext den CAA-Vorsitzenden Gideon Falter des „Betrugs“ oder der „persönlichen Bereicherung“ beschuldigen wollen. Ich sah keinen Sinn darin, eine Interpretation zu verteidigen, die meinen Worten lediglich zugeschrieben wurde.

Aber die hier aufgeworfenen Fragen sind weitaus komplexer. Ich frage mich, warum die Stellen, die die zionistische Sache verkaufen wollen, die Notwendigkeit sehen, sich an einem intensiven Verleumdungsprojekt zu beteiligen, welches das jüdisch-politische Projekt als Ganzes tatsächlich in einem sehr schlechten Licht erscheinen lässt.

Jüdischkeit ist eine ausgeklügelte Überlebensstrategie. Sie ist ein strenges Ordnungssystem der Aufrechthaltung. Sie fördert die interne Diskussion, schränkt aber jedwede Überlegung dieser Art durch klare Grenzen ein. Wenn Israel beispielsweise Hunderte von Scharfschützen gegen unbewaffnete palästinensische Demonstranten einsetzt und praktisch ein Massaker verübt, dann wird es einigen seiner Bürger erlauben, sich gegen seine eigene Brutalität auszusprechen. Das Ergebnis ist vorhersehbar: Israels Kriegsverbrechen werden auf eine interne Debatte unter Juden reduziert. Im Kontext des jüdischen Universums wird jedes so genannte „jüdische Problem“ von innen heraus durch jüdischen Dissens beantwortet.

Ich hörte auf, Jude zu sein

Die jüdische Geschichte zeigt wichtige Ausnahmen – Menschen, die ausbrachen; die sich entschieden haben, die Stammesmatrix mittels universellen Denkens offen zu legen. Jesus war so ein Charakter und endete ans Kreuz genagelt. Spinoza war ein weiterer, er wurde durch Exkommunikation bestraft. Marx durchbrach in seinen frühen Schriften die Reihen und wies auf die spezifische Verbindung zwischen Juden und Kapitalismus hin. Das 20. Jahrhundert brachte einige jüdische Ketzer hervor. Und bis zu einem gewissen Grad folgte ich ihrem Weg – anstatt „als Jude“ zu sprechen und dazu beizutragen, „die Opposition zu kontrollieren“. Ich kündigte offen meine Wurzeln; spirituell, kulturell und politisch. Ich hörte auf, Jude zu sein, und widmete meine Zeit der Produktion einer kritischen Studie der Stammesmechanismen, die die jüdische Politik und Identität antreiben.

Es war nie eine leichte Reise. Seit ich meinen Werdegang als Autor begonnen habe, habe ich intensive Versuche unternommen, mich zu lösen, indem ich mich in das jüdische, so genannte ‚antizionistische‘ Lager rekrutiert habe. Antizionisten, wie sie sich selbst nennen, können viel Unterstützung bieten. Sie sind gut vernetzt und organisiert. Sie können deine Tourneen, Konzerte, Besprechungen, Universitätsvorträge und die Berichterstattung durch die Medien arrangieren.

Es dauerte ein paar Jahre, bis ich begriff, dass meine abweichende Meinung dem frühen zionistischen Denken ziemlich ähnlich war und dessen trügerische Vorstellung, „Menschen wie alle anderen Menschen“ zu werden, teilte. Tatsächlich war es mein persönliches Ziel, das frühe zionistische Projekt an mir selbst zu vollziehen: ein normaler Mensch zu werden wie alle anderen Nichtjuden (Goyim). Ich erkannte, dass der erste Schritt, um mein Ziel zu erreichen, darin bestand, kein Jude mehr zu sein.

Gilad Atzmon: der neue jüdische Prophet?

Im Jahr 2014 veröffentlichte Professor Marc H. Ellis, der von Vielen als der führende zeitgenössische jüdische Theologe angesehen wird, „Zukunft des Prophetischen“ (Future of the Prophetic), eine umfassende Studie über den hebräischen Propheten. In seinem Buch widmete Ellis mir und meiner Arbeit ein Kapitel. Er kam zu dem Schluss, dass meine Wenigkeit der neue jüdische Prophet sei.

„Wie die alten Propheten entlarvt Atzmon die Juden. Gleichzeitig glaubt Atzmon, dass die Bibel, aus der die Propheten entspringen, erfunden ist… Atzmon bietet den Juden nirgendwo ein Versteck.“ „Atzmon ist extrem, aber in seiner Extremität ist er den biblischen Propheten sehr ähnlich.“ (Zukunft des Prophetischen, Marc H. Ellis, S. 332)

Weder Prophet noch Jude

Das führt in der Welt, in der wir leben, dazu, dass mich einige Juden als die Inkarnation des Teufels sehen, während andere mich den letzten hebräischen Propheten genannt haben. Natürlich war ich geschmeichelt von Ellis‘ Einsicht. Und es half mir, die Rolle des Propheten im jüdischen Überlebensparadigma zu begreifen. Einen Dissidenten zu einem ‚hebräischen Propheten‘ zu machen, bedeutet aber, die Opposition zu zerschlagen. Es reduziert den universellen kritischen Einblick auf einen internen jüdischen Gedankenaustausch. Ich schrieb Ellis, dass ich mich weder als Prophet noch als Jude betrachtete, so sehr mich seine Sicht meiner Arbeit begeisterte. Stattdessen sah ich die Notwendigkeit, zu betonen, dass ich lieber über „Jüdischkeit, jüdische Kultur und Identitätspolitik“ spreche, als mit Juden zu sprechen.

Meine Herangehensweise muss sowohl für die Zionisten als auch für die so genannten ‚Anti‘ frustrierend gewesen sein. Seit der Veröffentlichung meines ersten Buches (2001) wurde ich hartnäckig von jüdischen ethnischen Aktivisten aller Überzeugungen (außer wahrscheinlich Torah-Juden) belästigt. Sie haben mich als Rassisten, Antisemiten, Fanatiker usw. bezeichnet, und doch wurde ich zu ihrem Entsetzen trotz der strengen Gesetzgebung in Europa und Amerika nie von einer Strafverfolgungsbehörde zu irgendetwas, was ich jemals geschrieben oder gesagt habe, befragt.

Ich habe meine Gegner und diejenigen, die mich einen „Rassisten“ und „Antisemiten“ nennen, aufgefordert aufzuzeigen, wo ich auf Juden oder irgend jemand anderen kritisch als „Rasse“, „Ethnizität“ oder „Biologie“ Bezug genommen hätte. Ich habe geschworen, dass ich mich entschuldigen und nie wieder schreiben würde, wenn Beweise dafür auftauchen. Dennoch wurde mir gegenüber – und auch nirgends sonst – ein solcher Hinweis gegeben. Stattdessen kritisiere ich jüdische Ideologie, Kultur und Identitätspolitik, weil ich glaube, dass Ideologien, Kulturen und Politik Gegenstand von Debatten und Kritik sein müssen!

In eine freiere Stadt ziehen, vielleicht nach Moskau oder Teheran

Ich werde das so lange tun, wie das Gesetz in Großbritannien es erlaubt. Wenn sich das ändert, werde ich mich entweder zum Schweigen verpflichten oder London verlassen und in eine etwas freiere Stadt ziehen, vielleicht nach Moskau oder Teheran.

Fußnoten:

Englische Originalfassung: Being Ordinary
By Gilad Atzmon, July 05, 2018
http://www.gilad.co.uk/writings/2018/7/5/being-ordinary

Das offizielle gerichtliche Vergleichsdokument
http://www.gilad.co.uk/s/Court-Settlement-doc.pdf

Das offizielle Gerichtsdokument, das die Grundlage für Falters Behauptung war, für die ich mich entschuldigt habe, finden Sie hier:
http://www.gilad.co.uk/s/Particulars-of-Claim.pdf

Siehe auch:

Verleihung des Kölner Karlspreises, Berlin, Babylon, 14.12.2017
Palästinenser: die letzten Opfer Hitlers
Stellungnahme von Gilad Atzmon
NRhZ 641 vom 20.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24431

Gespräch über die Ideologie des Auserwähltheit-Seins, Israel, Palästina und den Holocaust
Inzwischen sind wir alle Palästinenser
Gilad Atzmon – interviewt von Muslim-Markt
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24454

Elias Davidsson und Gilad Atzmon debattieren über Palästina, Israel und Holocaust
Wie weit geht die Freiheit der Gedanken?
Aufbereitet von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24453

Einwurf in eine kontroverse Debatte
Alles bekannt über den Holocaust?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24469

Ein Diskussionsbeitrag zur Versachlichung
Gilad Atzmons „The Wandering Who“, die Meinungsfreiheit und ich
Von Clara S.
NRhZ 643 vom 17.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24486

Interview mit dem Ex-israelischen Jazzmusiker und Philosophen Gilad Atzmon
Ich will nicht in einem Land leben, das anderen gehört
Gilad Atzmon – interviewt von Burak Altun
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24508

Gespräch eines „Brunnenvergifters“ mit einer „Antisemitin“
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon (in acht Teilen)
NRhZ 644 bis 647 ab 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24509 (Teil 1 und 2)
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24545 (Teil 3 und 4)
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24565 (Teil 5 und 6)
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24586 (Teil 7 und 8)

Filmclip
Gilad Atzmon & The Orient House Ensemble am 30. März 2018 in Köln
gilad to gaza – the spirit of trane
Von Arbeiterfotografie
NRhZ 653 vom 04.04.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24742

Zum Buch „The Wandering Who“
Gilad Atzmon: Gefährder der Macht
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 658 vom 09.05.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24829

Konferenz der Initiative „Tiefe Wahrheit – Lügen des tiefen Staates bekämpfend“
Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Palästina
Vortrag von Gilad Atzmon
NRhZ 663 vom 13.06.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24958

Online-Flyer Nr. 667  vom 11.07.2018
  

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