Notizen vom Ende der unipolaren Welt – 84 von Mathias Bröckers

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Notizen vom Ende der unipolaren Welt – 84

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2. Juni 2023

Dass Frieden und Krieg  so etwas wie die Gezeiten der Geschichte sind, für die nicht die jeweiligen  Kaiser, Feldherrn oder Führer verantwortlich sind, sondern Bewegungen der Massen, deren  Ursache nicht einzelnen Menschen, sondern wie Ebbe und Flut unsichtbaren Kraftlinien geschuldet sind – das wäre, kurz gefasst, der Kern der Geschichtsphilosophie Lew Tolstois, die er in seinem 1868 erschienenen  Epos “Krieg und Frieden” darlegt. Mit der französischen Revolution 1789 löst sich im Westen eine Welle, die nach Osten drängt, einen Napoleon an ihre Spitze setzt, die sich auftürmt und bis nach Moskau flutet – und dann 1812 zurück bis nach Paris, wo sie zum Erliegen kommt. Von der halben Million Soldaten die nach Russland strömten sind nur noch ein paar Zehntausend übrig.

Anders als Tolstoi, dessen “Krieg und Frieden” er als einziges Buch dabei hatte, als er als Frontberichterstatter der Armeezeitung  “Roten Stern” aus Stalingrad berichtete, glaubte Wassili Grossman nicht mehr wirklich an schicksalhafte höhere Mächte des Kriegsgeschehens – aber auch nicht mehr an die Unfehlbarkeit des Genossen Stalin und des ZK der KP, weshalb “Legende und Schicksal”, sein monumentales “Follow-Up” des Tolstoischen Epos, in Russland lange nicht erscheinen konnte. Wie sein Vorbild erzählt Grossman von einzelnen Menschen und ihren “kleinen” Ängsten im “Großen Vaterländischen Krieg”, von konkreten Nöten und Gefühlen im unfassbaren Schrecken des  Geschützhagels, dem gnadenlosen Vorrücken der Panzerkolonnen und Bomberattacken – und dann, wie in einem seiner Protaganisten, Krymow, mitten in Chaos und Verwirrung “ein Gefühl immer stärker, hell und klar wie das Tageslicht wird.” Es ist “das Gefühl der Verbundenheit der Männer”, die neben ihm die Böschung lang kriechen, das Gefühl der eigenen Kraft, die sich mit ihnen vereint. Auch wenn sie nur ihren Unterstand erfolgreich gegen einen deutschen Sturmtrupp verteidigt haben wird Kyrmow augenblicklich klar, dass sie den Kampf um Stalingrad gewinnen werden. Das zaghafte, zerbrechliche “Ich” wandelt sich zum kühnen “Wir” und neben diesem neuen Gefühl entsteht ein unerklärliches “Gespür für den allgemeinen Gefechtsverlauf und den Ausgang des Kampfes vorauszuahnen.” Damit ist Grossman ganz bei Tolstois schicksalhaften Mächten und Eingebungen, dem Geist, der die zusammengewürfelte Vielvölker-Sowjetarmee zu einer Einheit macht: “Im Begreifen dieses Übergangs besteht oft das, was dem Kriegshandwerk das Recht gibt, eine Kunst genannt zu werden.” Weiterlesen bei mathias. broeckers.com

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