Russische Ölimporte: Warum Orbáns Heuchelei-Vorwurf gegen Polen die ganze EU trifft Von David Goeßmann

Dank an David Goeßmann für die Genehmigung seinen neuen, heute auf Telepolis veröffentlichten Artikel, auf der  Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

https://www.telepolis.de/features/Russische-Oelimporte-Warum-Orbans-Heuchelei-Vorwurf-gegen-Polen-die-ganze-EU-trifft-9818801.html

Russische Ölimporte: Warum Orbáns Heuchelei-Vorwurf gegen Polen die ganze EU trifft

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Ein Rohöltanker vor der Türkei in Richtung Schwarzes Meer und den Hafen Novorossijsk, Russland, November 2023. Bild: John Wreford / Shutterstock.com

Ungarn und Polen im Streit wegen importiertem Öl aus Russland. Die Frage ist: Ist Polen wirklich „sauber“? Und was ist mit der EU? Ein Überblick.

Am Wochenende kam es zu einem diplomatischen Streit zwischen Polen und Ungarn. Warschau kritisierte Budapest wegen dessen Haltung zu Russland. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán attackierte [1] daraufhin Polen.

Die Polen verfolgen die scheinheiligste und heuchlerischste Politik in ganz Europa. Sie belehren uns moralisch, kritisieren uns für unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland, und gleichzeitig machen sie Geschäfte mit den Russen und kaufen indirekt Öl und betreiben damit die polnische Wirtschaft.

Polen importierte weiter Öl

Der polnische Außenminister Władysław Teofil Bartoszewski wies den Vorwurf zurück:

Wir machen keine Geschäfte mit Russland, im Gegensatz zu Premierminister Orbán, der sich am Rande der internationalen Gesellschaft befindet – sowohl in der Europäischen Union als auch in der Nato.

Es stimmt sicherlich, dass Polen sich Schritt für Schritt unabhängig von russischen Ölimporten gemacht hat. Im Jahr 2022 importierte Polen [2] 11,5 Millionen Tonnen russisches Rohöl (Export Blend Crude Oil).

Das waren etwa 3,5 Millionen Tonnen weniger als im Vorjahr. Der Anteil des russischen Rohöls an der Versorgung betrug im Jahr 2022 42 Prozent gegenüber 61 Prozent 2021. Die Raffinerien im Land bezogen trotzdem wie zuvor hauptsächlich Öl aus Russland.

Die Geschäfte mit dem russischen Öl

Doch davon will man wegkommen. Die Regierung in Warschau erklärte [3] im selben Jahr, dass man sich bemühen werde, die Ölimporte aus Russland im nächsten Jahr gänzlich einzustellen. Letzte Lieferverträge mit Russland sind zum Jahreswechsel 2023/2024 ausgelaufen. Und die polnische Regierung hat nicht vor, neue Verträge zu unterzeichnen.

Trotzdem: Anfang 2023 deckte Polen weiter rund zehn Prozent des eigenen Ölbedarfs [4] durch Importe aus Russland, anders als versprochen. Im ganzen Jahr waren es laut Statistica insgesamt noch über eine Million Tonnen Öl [5], die aus Russland stammten.

Auch wenn direkte Ölimporte aus Russland nach Polen nun vollständig auslaufen bzw. ausgelaufen sind, gibt es bis heute eine Verbindung Polens zu russischem Öl und möglicherweise indirekte Einfuhren.

So meldete Reuters [6] Ende letzten Jahres, dass Tschechien seine Importe von russischem Öl erhöht hat. Der Anteil an den Gesamteinfuhren stieg auf 65 Prozent im ersten Halbjahr 2023 (2022: 56 Prozent; 2021 49 Prozent). Der einzige Raffineriebetreiber in Tschechien ist Orlen Unipetrol, ein Unternehmen, das zum polnischen Ölkonzern Orlen gehört [7], woran der polnische Staat als Hauptaktionär 49,9 Prozent der Anteile hält.

Polen macht also weiter Geschäfte mit russischem Öl.

Die Saudi-Connection

Es gibt noch eine weitere Verbindung Polens zu russischem Öl. Im Rahmen der Diversifikationsstrategie von Orlen, um russische Importe zu ersetzen, griff man auf Saudi-Arabien zurück.

Der wichtigste Partner des Unternehmens ist nun Saudi Aramco [8], der größte Ölproduzent der Welt. Mit dem saudischen Staatskonzern unterzeichnete man ein Abkommen, das unter anderem die polnische Ölversorgung für rund 45 Prozent der Gesamtnachfrage aller Raffinerien gewährleistet.

Gleichzeitig steigerte Saudi-Arabien seine Importe an verbilligtem russischem Schweröl – im Juni 2023 sogar auf eine Rekordmenge um das fast Zehnfache im Vergleich zum Vorjahr. Dieses russische Öl kann nun benutzt werden [9], damit Saudi-Arabien seine eigenen Fördermengen an Rohöl für die Stromerzeugung in Kraftwerken einsparen und derart die eigenen Rohölbestände trotz der Produktionskürzungen der OPEC+, um die Preise hochzuhalten, gewinnbringend exportieren kann.

Analysten haben darauf hingewiesen [10], dass die Golf-Monarchie durch die russischen Ölimporte den Anreiz erhalten hat, den Export der eigenen Rohöl-Bestände zu steigern, wovon Polen letztlich profitiert.

Ohne russisches Flüssiggas läuft der Verkehr nicht

Ferner ist Polen weiterhin ein großer, wenn nicht der größte Abnehmer von Flüssiggas [11] (LPG) aus Russland in die EU. Im Jahr 2022 gab man 710 Millionen Euro für russisches Flüssiggas aus, das sind fast zwei Drittel der 1,1 Milliarden Euro, die die EU-Länder insgesamt aufwendeten.

Der Anteil des russischen Flüssiggases an den Gesamtlieferungen nach Polen lag früher bei etwa 75 Prozent und befindet sich, trotz aller Versuche, sich unabhängig zu machen, immer noch (Stand 2023) bei 49 Prozent [12]. Flüssiggas, das nicht unter die EU-Sanktionen fällt, wird in Polen vor allem für den Antrieb von Autos verwendet.

Die EU weiter als viertgrößter Abnehmer

Auch in der ganzen EU zeigt sich wie in Polen, dass es bisher, zweieinhalb Jahre nach dem Ukraine-Krieg und den zahlreichen EU-Sanktionen auf fossile Brennstoffe aus Russland, nicht gelungen ist, sich von ihnen abzukoppeln.

Man konnte zwar die Einfuhren von Kohle, Gas und Öl aus Russland deutlich im Wert von 16 Milliarden Dollar [13] pro Monat Anfang 2022 auf knapp zwei Milliarden [14] im Juni dieses Jahres herunterfahren.

Die EU ist damit hinter China, Indien und der Türkei aber immer noch der viertgrößte Abnehmer [15] russischer fossiler Brennstoffe, deren Einfuhren zwölf Prozent (1,6 Milliarden Euro) der fünf größten Abnehmer ausmachen. Den größten Anteil an den EU-Käufen fossiler Brennstoffe aus Russland hatte Pipelinegas (40 Prozent), gefolgt von Flüssiggas (38 Prozent).

Beim Gas ist Russland vorne

Tatsächlich zeigt sich beim Gas sogar eine zunehmende Abhängigkeit der EU von Russland [16]. Trotz der konzertierten Bemühungen der Europäischen Union, sich beim Erdgas nach der Ukraine-Invasion von Russland abzukoppeln, stiegen die EU-Importe von dort in der ersten Hälfte des Jahres 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 27 Prozent an und brachten Russland Einnahmen in Höhe von 8,7 Milliarden Euro.

In den ersten sechs Monaten dieses Jahres machten die Einfuhren aus Russland 20 Prozent der gesamten Erdgasbezüge [17] der EU aus (einschließlich Umschlag-Verladungen), was einem Anstieg von vier Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr entspricht. Obwohl einige EU-Länder Sanktionen gegen russisches LNG (verflüssigtes Erdgas) verhängt haben, sind die LNG-Einfuhren der EU in der ersten Jahreshälfte im Vergleich zum Vorjahr um neun Prozent gestiegen. Russisches LNG macht in diesem Jahr 43 Prozent der gesamten russischen Gaseinfuhren der EU aus.

Verflüssigtes Erdgas wird per Schiff über Belgien, Spanien und Frankreich in die Union importiert. Demgegenüber wird nur noch wenig Rohöl direkt in die EU aus Russland importiert – vor allem in die Slowakei.

Die Öl-Drehscheibe Türkei

Doch russisches Öl hat einen anderen, indirekten Weg in die Union gefunden. Im letzten Jahr wurde die Türkei der weltweit größte Abnehmer [18] russischer fossiler Brennstoffe. So verdoppelten sich die Gesamteinfuhren der Türkei von Erdölerzeugnissen aus Russland im Jahr 2023 und belaufen sich nun auf insgesamt 17,6 Milliarden Euro, was schätzungsweise 5,4 Milliarden Euro an Steuereinnahmen für den Kreml bedeutet.

Die drei türkischen Häfen Ceyhan, Marmara Ereğlisi und Mersin, die über keine eigenen Raffineriekapazitäten verfügen, importieren damit 86 Prozent ihrer Ölprodukte aus Russland (bezogen auf den Wert der Importe).

Ein Bericht [19] des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) und des Center for the Study of Democracy (CSD) zeigt nun, dass die EU-Mitgliedstaaten zeitgleich zu dieser Einfuhrsteigerung der Türkei zwischen Februar 2023, als das EU-Verbot und die G7-Preisobergrenze für russische raffinierte Erdölerzeugnisse in Kraft traten, und Februar 2024 5,16 Millionen Tonnen Erdölerzeugnisse im Wert von 3,1 Milliarden Euro aus den drei türkischen Häfen importierten.

Aufgrund von konkreten Umschlagbewegungen an den Häfen, bei denen russische Ölimporte in die EU verschifft wurden, und der Tatsache, dass der türkische Verbrauch an Öl nicht wesentlich zunahm, geht man von einer russisch-türkischen Öl-Drehscheibe Richtung EU aus, wahrscheinlich sogar in Umgehung von EU-Verboten. Martin Vladimirov, Senior Energy Analyst am CSD und Co-Autor der Studie erklärt [20]:

Die Türkei, der weltweit größte Abnehmer russischer raffinierter Erdölprodukte, hat sich zu einem strategischen „Boxenstopp“ für russische Treibstoffprodukte entwickelt, die in die EU umgeleitet werden, was der Kriegskasse des Kremls wahrscheinlich Hunderte von Millionen an Steuereinnahmen beschert.

Schlupfloch Raffinerien: Ölprodukte mit russischem Rohöl

Zudem sind Ölprodukte wie Benzin, Diesel oder Kerosin aus anderen Ländern, selbst wenn sie russisches Rohöl raffiniert haben, nicht von dem EU-Importverbot betroffen. Kritiker sprechen von einem „Sanktionsschlupfloch“.

So warnte ein weiterer CREA-Bericht [21] vom Frühjahr 2023, dass das Volumen dieser Ölimporte in die Länder der Ölpreisdeckelung (EU, G7, Australia) im Vergleich zum Vorjahr um 44 Prozent [22] gestiegen ist.

Die USA waren mit Einfuhren im Wert von schätzungsweise 1,6 Milliarden Euro der größte Abnehmer von Produkten, die aus russischem Rohöl hergestellt wurden. Die Niederlande, Frankreich und Italien importierten Erdölerzeugnisse russischen Ursprungs im Wert von insgesamt 1,3 Milliarden Euro, während sich die Gesamteinfuhren in der EU auf 2,6 Milliarden Euro [23] beliefen. Im Bericht heißt es:

Diese Analyse zeigt, dass sich das Raffinerieschlupfloch im Jahr 2023 noch ausweiten wird, wodurch die Lücken in den Sanktionen gegen Russland vergrößert werden und größere Mengen an Öl aus russischem Rohöl in Ländern verwendet werden können, die als Verbündete der Ukraine gelten.

Großbritannien fliegt auch mit russischem Kerosin

Eine Untersuchung der Organisation Global Witness kommt in einer Studie zu dem Schluss [24], dass die EU im Jahr 2023 130 Millionen Barrel (ein Barrel = 159 Liter) Raffinerieprodukte – hauptsächlich Diesel – aus Raffinerien weltweit importierte (von Indien bis zur Türkei), die russisches Rohöl verarbeiten (wovon 35 Millionen Barrel direkt von russischem Öl stammen). Diese Käufe hätten dem Kreml schätzungsweise 1,1 Milliarden Euro an direkten Steuereinnahmen eingebracht.

Durch diese Raffinerieschlupflöcher gelange sogar russischer Treibstoff auch nach Großbritannien und in die USA [25]. So berichtet Global Witness, dass einer von 20 Flügen in Großbritannien im letzten Jahr mit Kerosin aus russischem Öl durchgeführt wurde, und stellt fest [26], dass die USA 30 Millionen Barrel Kraftstoff aus Raffinerien importierten, die auf russisches Öl zurückgreifen.

All das legt nahe, dass es kaum möglich ist, sich von russischen fossilen Brennstoffen komplett unabhängig zu machen (vor allem angesichts der weiter blockierten Energiewende in der EU), solange russisches Öl und Gas auf den internationalen Märkten vertreten ist und gehandelt wird. Daran können selbst die USA und die EU nichts ändern.

Daher sind Vorwürfe gegen einzelne EU-Staaten wegen ihres mehr oder weniger direkten und unterschiedlich stark ausgeprägten Rückgriffs auf russische Importe nicht überzeugend, solange durch Hintertüren und Schlupflöcher die EU insgesamt still und heimlich Öl und durch die Vordertür weiter Gas bezieht.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9818801

Links in diesem Artikel:
[1] https://apnews.com/article/poland-hungary-orban-diplomatic-spat-russia-sanctions-f6880c11572221b72c90be0fcc4f3360
[2] https://library.fes.de/pdf-files/bueros/budapest/20475.pdf
[3] https://library.fes.de/pdf-files/bueros/budapest/20475.pdf
[4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/polen-russland-oel-103.html
[5] https://www.statista.com/statistics/1295003/poland-oil-import-volume-from-russia/
[6] https://www.reuters.com/business/energy/russian-oil-grabs-bigger-slice-czech-imports-despite-reduction-aim-2023-09-11/
[7] https://notesfrompoland.com/2023/06/12/polish-state-energy-giant-orlen-explains-increased-russian-oil-imports/
[8] https://www.orlen.pl/pl/o-firmie/media/komunikaty-prasowe/2023/luty/PKN-ORLEN-zabezpiecza-dostawy-ropy-naftowej-spoza-Rosji
[9] https://www.reuters.com/business/energy/saudi-arabia-imports-record-russian-fuel-oil-june-trade-grows-2023-07-13/
[10] https://www.reuters.com/business/energy/saudi-arabia-imports-record-russian-fuel-oil-june-trade-grows-2023-07-13/
[11] https://notesfrompoland.com/2023/04/04/poland-remains-eus-biggest-importer-of-russian-lpg-paying-e710-million-to-moscow-last-year/
[12] https://www.opisnet.com/blog/poland-market-push-towards-renewable-lpg/
[13] https://www.bruegel.org/analysis/european-union-russia-energy-divorce-state-play
[14] https://energyandcleanair.org/june-2024-monthly-analysis-of-russian-fossil-fuel-exports-and-sanctions/
[15] https://energyandcleanair.org/june-2024-monthly-analysis-of-russian-fossil-fuel-exports-and-sanctions/
[16] https://energyandcleanair.org/june-2024-monthly-analysis-of-russian-fossil-fuel-exports-and-sanctions/
[17] https://energyandcleanair.org/june-2024-monthly-analysis-of-russian-fossil-fuel-exports-and-sanctions/
[18] https://www.gtreview.com/news/europe/eu-still-buying-russian-oil-products-as-turkey-becomes-re-export-hub/
[19] https://energyandcleanair.org/wp/wp-content/uploads/2024/06/CREA_CSD_A-Kremlin-pit-stop_The-EU-imported-EUR-3-bn-of-oil-products-from-Turkish-ports-handling-Russian-oil_Final.pdf
[20] https://energyandcleanair.org/publication/kremlin-pit-stop-eu-imports-eur-3-bn-of-oil-products-from-turkish-ports-handling-russian-oil/
[21] https://energyandcleanair.org/wp/wp-content/uploads/2024/04/CREA_PCC_Refined-Oil-Analysis_19.02.2024_Rev_15.04.2024.pdf
[22] https://www.gtreview.com/news/global/authorities-urged-to-target-refineries-as-russian-origin-fuel-imports-soar/
[23] https://www.gtreview.com/news/global/authorities-urged-to-target-refineries-as-russian-origin-fuel-imports-soar/
[24] https://www.globalwitness.org/en/campaigns/fossil-gas/eu-purchases-of-laundered-russian-oil-worth-an-estimated-11-billion-to-the-kremlin-in-2023/
[25] https://www.globalwitness.org/en/campaigns/fossil-gas/uk-purchases-of-russian-origin-jet-fuel-worth-at-least-40m-to-the-kremlin/
[26] https://www.globalwitness.org/en/campaigns/fossil-gas/american-purchases-laundered-russian-oil-worth-least-180-million-kremlin/

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