Russischer Politologe zum Ukraine-Konflikt nach Referenden: „Kein Platz mehr für Verhandlungen“ Von Geworg Mirsajan

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Russischer Politologe zum Ukraine-Konflikt nach Referenden: „Kein Platz mehr für Verhandlungen“

Von Geworg Mirsajan

Wie wird sich die Situation auf dem Schlachtfeld in der Ukraine und in den neuen russischen Gebieten nach den Referenden entwickeln? Und welche Optionen gibt es für feindliche Parteien, auf diplomatischem Weg eine Einigung zu erreichen? Ein nüchterner Blick eines russischen Politikwissenschaftlers.
Russischer Politologe zum Ukraine-Konflikt nach Referenden: "Kein Platz mehr für Verhandlungen"Quelle: www.globallookpress.com

 

Moskau wird bei den Verhandlungen über das Ende des Ukraine-Konflikts nicht mehr die ersten Schritte in Richtung Westen unternehmen. Das sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow. „Wir weigern uns nicht zu verhandeln. Und wenn es relevante Vorschläge gibt, lehnen wir sie nicht ab. Wir haben auch nichts dagegen, wenn sich unsere Partner ‚im Stillen‘ treffen wollen, ohne dass jemand davon erfährt. Reden ist immer besser als nicht reden. Aber in der jetzigen Situation wird Russland einfach keine ersten Schritte unternehmen“, sagte der russische Außenminister auf einer Pressekonferenz im UN-Hauptquartier.

Diese Aussage ist ziemlich drastisch, wenn man bedenkt, dass Moskau in all diesen Monaten immer wieder seine Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung aller Kontroversen um die Ukraine demonstriert hat (natürlich auf der Grundlage der Ziele, die Präsident Putin vor Beginn der militärischen Sonderoperation festgelegt hat – d. h. Entnazifizierung, Entmilitarisierung usw.). Für diejenigen, die sich an Lawrows frühere Äußerungen darüber erinnern, wohin die weitere Verzögerung des Verhandlungsprozesses durch Kiew führen wird, sollte sie jedoch gar nicht so drastisch erscheinen. „Wenn sie uns um die Wiederaufnahme des diplomatischen Prozesses bitten (wozu die Europäer sie meines Wissens nach drängen, aber die Angelsachsen es nicht zulassen), werden wir uns die Lage vor Ort ansehen“, sagte der Minister im Juni. Und nun hat sich die Situation „vor Ort“ geändert.

Und vor allem hat sie sich dank der Referenden in den befreiten Gebieten verändert. Referenden, nach deren Ergebnissen die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie die Regionen Cherson und Saporoschje in ihren „Heimathafen Russland“ zurückkehren.

Die Angliederung der befreiten Gebiete an Russland wird zu einer Art Punkt ohne Wiederkehr. Für Moskau wird es nicht mehr möglich sein, über die Rückkehr dieser Gebiete unter die Kontrolle des Kiewer Regimes zu verhandeln. Schon die Aufnahme solcher Verhandlungen wäre ein Verstoß gegen die russische Verfassung, denn das Grundgesetz des Landes verbietet es, auch nur über die Frage der Abtrennung russischer Regionen zu sprechen.

Das bedeutet, dass die westlichen Länder und die Ukraine entweder unter der Bedingung mit Russland verhandeln müssen, dass Kiew den Donbass und einen Teil der Schwarzmeerregion aufgibt oder dass sie überhaupt nicht verhandeln. Und es liegt auf der Hand, dass die zweite Option gewählt werden wird, denn weder die Ukraine noch der Westen sind heute bereit, den Verlust der Kontrolle Kiews über die Regionen Cherson und Saporoschje anzuerkennen.

Ja, vor einiger Zeit waren in Kiew bescheidene Stimmen zu hören, die forderten, mit Putin unter der Bedingung zu verhandeln, dass er den derzeitigen territorialen Status quo anerkennt (noch bevor er Nikolajew, Charkow und andere Regionen „übernehmen“ könnte). Doch die erfolgreiche Gegenoffensive der Ukraine in der Region Charkow ermutigte das Kiewer Regime und die westlichen Führer, woraufhin diese Gespräche verstummten. Vielleicht wird jetzt, nachdem Russland eine Teilmobilmachung angekündigt hat, das Pendel in die andere Richtung schwingen: Der Westen erkennt allmählich, dass Moskau, um mit Putins Worten zu sprechen, „erst jetzt ernsthaft beginnt“. Das Pendel beginnt jedoch gerade erst zu schwingen.

Friedensgespräche sind auch deshalb unwahrscheinlich, weil Russland sich wieder mit Regionen vereint, die noch nicht vollständig befreit sind. Der Beitritt der Volksrepublik Donezk und der Region Saporoschje zur Russischen Föderation bedeutet, dass Moskau die Gebiete dieser Regionen befreien wird, die derzeit von der Ukraine besetzt sind. Insbesondere die Städte Slawjansk, Kramatorsk, Sewersk sowie die Hauptstadt der Region Saporoschje – die Stadt Saporoschje.

Das bedeutet, dass die Ukraine für eine friedliche Beilegung des Konflikts diese Gebiete an die Russische Föderation abtreten muss, da die russischen Behörden – wie bereits erwähnt – nicht über die Abtretung eines Teils des Territoriums der Russischen Föderation verhandeln können.

Natürlich werden einige sagen, dass ein „Einfrieren des Konflikts“ auf der Grundlage des derzeitigen Status quo der Ausweg sein könnte. Und manche würden sagen: Es gibt Gerüchte, dass ein solches Einfrieren im Herbst/Winter stattfinden wird. Aber man muss verstehen, dass die Russische Föderation eine Großmacht ist, und der Status einer Großmacht bedeutet nicht, dass ein Teil ihres Staates langfristig von einem anderen Land besetzt wird. Ja, es gibt das Beispiel Indien, dessen Territorien zum Teil von China besetzt sind, aber China ist erstens eine andere Großmacht und zweitens eine Atommacht. Es ist nicht die Ukraine. Deshalb wird die spezielle Militäroperation mindestens bis zur vollständigen Befreiung der russischen Gebiete fortgesetzt – andernfalls wird Moskau in der Welt nicht ernst genommen werden.

Schließlich sind Friedensgespräche auch deshalb unwahrscheinlich, weil Russland nach Ansicht vieler Experten eine spezielle Militäroperation nicht durchführen kann, ohne eine Reihe anderer Regionen unter ukrainischer Kontrolle zu befreien. Zumindest die Regionen Sumy, Charkow und Tschernigow (um die „Flugdistanz“ von 400 Kilometern zwischen ukrainischem Territorium und Moskau zu erhöhen) sowie die Regionen Nikolajew und Odessa. Auch die beiden letztgenannten Gebiete sind für Russland von entscheidender Bedeutung.

Nicht nur, weil die Menschen dort auf Russland warten. Nicht nur, weil die Befreiung von Odessa nach den Ereignissen vom Mai 2014 (Brand des Gewerkschaftshauses) der wichtigste symbolische Schritt ist. Und das nicht nur, weil diese Regionen derzeit der einzige Zugang der verbliebenen Ukraine zum Schwarzen Meer sind, sondern weil die Kontrolle über diese Regionen einen Landzugang zu Transnistrien ermöglichen würde. In dieser selbsternannten Republik leben bis zu eine halbe Million russische Bürger, deren Sicherheit von mehreren Tausend dort stationierten russischen Soldaten gewährleistet wird.

Transnistrien liegt heute zwischen der ukrainischen Region Odessa und der Republik Moldau, zu der es formell gehört. Und wenn alles so bleibt, wie es ist, dann wird der Westen nur wenige Jahre nach dem Ende der militärischen Sonderoperation eine militärische Krise in Transnistrien für Moskau arrangieren, wenn Moldawien mithilfe der Ukraine und Rumäniens beschließt, „seine territoriale Integrität wiederherzustellen“.

Und in dieser Situation wäre die einzige Möglichkeit für die Russische Föderation, ihren Bürgern und ihrem Militär zu Hilfe zu kommen, dass die russischen Streitkräfte über ukrainisches Territorium, d. h. über die Regionen Nikolajew und Odessa, nach Transnistrien eilen. In diesen wenigen Jahren wird die Ukraine jedoch wieder aufgerüstet, die Armee wird umgeschult und man wird ihr helfen, eine solide Verteidigungslinie in diesen Regionen aufzubauen.

Daher wird entweder ein Teil der Friedensgespräche darin bestehen, einen territorialen Korridor für Transnistrien zu sichern, der nicht unter ukrainischer Kontrolle steht (z. B. nach Süden – zum Schwarzen Meer, nach dem gleichen Prinzip, nach dem Aserbaidschan jetzt versucht, einen Korridor nach Nachitschewan zu erhalten). Oder Russland wird diesen Korridor selbst einrichten müssen. Es gibt keine dritte Option, zum Beispiel in Form von Garantien des Westens für die Unverletzlichkeit Transnistriens. Die Vereinigten Staaten können uns jetzt viel versprechen (wie sie es in Bezug auf die Nichterweiterung der NATO, die Einhaltung der Minsker Vereinbarungen, das Getreideabkommen usw. versprochen haben) und uns dann einfach täuschen. Aber wir lassen uns nicht mehr gerne täuschen.

Übersetzt aus dem Russischen.

Geworg Mirsajan ist ein Dozent des Lehrstuhls für Politologie der Finanzuniversität bei der Regierung der Russischen Föderation. Als Kolumnist und Experte für internationale Beziehungen tritt er regelmäßig in Polittalkshows im russischen Fernsehen statt. 

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