Stellungnahme zur Entscheidung der deutschen Bundesanwaltschaft, keine Ermittlungen im Fall Kilani (Luftangriff auf Gaza 2014) einzuleiten

Ekelhafte Doppelstandards.

https://pchrgaza.org/en/statement-on-the-german-federal-prosecutors-decision-not-to-open-investigations-in-the-kilani-case-gaza-airstrike-2014/

Bild: Am 21. Juli 2014, während der israelischen Militäroperation, wurden bei einem Luftangriff der israelischen Verteidigungskräfte auf den Al-Salam-Turm in Gaza-Stadt elf Mitglieder der Familien Kilani und Derbas getötet. Unter den Toten waren Ibrahim und Taghreed Kilani und ihre fünf Kinder.pp

 

Stellungnahme zur Entscheidung der deutschen Bundesanwaltschaft, keine Ermittlungen im Fall Kilani (Luftangriff auf Gaza 2014) einzuleiten

Berlin, den 30. Mai 2022

Im August 2021 kündigte der deutsche Bundesanwalt an, dass er im Fall Kilani keine Ermittlungen zu dem Luftangriff der israelischen Streitkräfte am 21. Juli 2014 einleiten wird. Nach Ansicht des Bundesanwalts waren die für die endgültige Feststellung eines Kriegsverbrechens erforderlichen Beweise nicht zu beschaffen. Die Entscheidung kam nach sieben Jahren juristischer und beweiskräftiger Eingaben von PCHR und ECCHR im Namen der Familie Kilani, um auf unabhängige und unparteiische Ermittlungen zu drängen. Nachdem PCHR und ECCHR im April 2022 Zugang zu Teilen der Fallakte erhalten haben, geben sie diese Erklärung ab.

Im Dezember 2014 reichten PCHR und ECCHR gemeinsam mit dem Sohn der Familie Kilani, Ramsis, der seinen Vater und fünf Stiefbrüder und -schwestern bei dem Luftangriff verloren hat, Strafanzeige ein. Beide Organisationen reichten in den folgenden Jahren bei neun verschiedenen Gelegenheiten zusätzliche Informationen, Beweise und Analysen bei der Bundesanwaltschaft ein. Der Fall wurde 2018 auf einer öffentlichen Veranstaltung in Berlin diskutiert und ist auch durch den Dokumentarfilm Not just your picture der Filmemacher Anne Paq und Dror Dayan einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Am 21. Juli 2014, während der israelischen Militäroperation, wurden bei einem Luftangriff der israelischen Verteidigungskräfte auf den Al-Salam-Turm in Gaza-Stadt elf Mitglieder der Familien Kilani und Derbas getötet. Unter den Toten waren Ibrahim und Taghreed Kilani und ihre fünf Kinder. Ibrahim Kilani und die fünf Kinder waren deutsche Staatsangehörige. Ziel des Luftangriffs war nach Angaben der israelischen Armee ein Mitglied des palästinensischen Islamischen Dschihad, das ebenfalls tot in dem Gebäude aufgefunden wurde. Weitere Informationen finden Sie auf der Fall-Seite des ECCHR.

Mit zweierlei Maß messen

Die Entscheidung der deutschen Bundesanwaltschaft steht beispielhaft für die Doppelmoral, die in Fällen gegen mächtige Akteure angewandt wird. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft entsprach nicht den üblichen Verfahren und Argumentationslinien, insbesondere im Hinblick auf die deutsche Staatsangehörigkeit einiger der Opfer.

a. Starke Verbindung zu Deutschland

In Fällen, die deutsche Staatsbürger als Opfer einer Straftat im Ausland betreffen, ist es nach deutschem Recht und deutscher Praxis üblich und gesetzlich vorgeschrieben, förmliche Ermittlungen einzuleiten und die zwischenstaatliche Zusammenarbeit nicht nur auf diplomatischem, sondern auch auf juristischem Wege zu suchen. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Staatsangehörigkeit eine starke Verbindung zu Deutschland voraussetzt, im Gegensatz zu Fällen, die auf der Grundlage des Prinzips der universellen Zuständigkeit untersucht werden, in denen eine Straftat im Ausland begangen wurde und weder der mutmaßliche Täter noch das Opfer Deutsche sind. Im vorliegenden Fall hat es die Staatsanwaltschaft versäumt, rasch ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, obwohl es sich um ein schweres Verbrechen handelte, bei dem elf Zivilpersonen (darunter sechs deutsche Staatsangehörige) ums Leben kamen, durch die Staatsangehörigkeit der Opfer eine starke Verbindung zu Deutschland bestand und enge Beziehungen zu in Nordrhein-Westfalen lebenden deutschen Familienangehörigen bestanden. Darüber hinaus beschloss der Staatsanwalt, den Fall abzuschließen, ohne irgendwelche Ermittlungen einzuleiten, und erklärte, dass dies tatsächlich eine Ausnahme sei, da er normalerweise ein förmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet hätte. 153f § 2 der deutschen Strafprozessordnung (StPO) sieht in der Tat die Möglichkeit vor, dass die Staatsanwaltschaft Verfahren im Rahmen der universellen Zuständigkeit einstellt, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass kein deutscher Staatsbürger Opfer des mutmaßlichen internationalen Verbrechens ist. Hier ist genau das Gegenteil der Fall: Deutsche Staatsangehörige wurden Opfer eines internationalen Verbrechens im Ausland, was zur Folge hat, dass die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten.

b. Inanspruchnahme innerstaatlicher Verfahren und Rechtsbehelfe

Entgegen der gesetzlichen Verpflichtung zur Strafverfolgung, die sich aus dem Legalitätsprinzip ergibt, wenn deutsche Staatsangehörige in eine Straftat verwickelt sind, hat sich die Staatsanwaltschaft auf eine Ausnahme berufen und somit gegenüber deutschen Opfern in Gaza und ihren Angehörigen in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen, im Gegensatz zu anderen Situationen. Die Gründe, die der Staatsanwalt für diese Ausnahme anführt, rechtfertigen nicht die Entscheidung, nicht einmal formelle Ermittlungen einzuleiten. Er argumentierte, dass es eine israelische Untersuchung des Vorfalls durch den Militärgeneralanwalt gegeben habe, die zu dem Schluss gekommen sei, dass keine weiteren Ermittlungsschritte unternommen werden müssten, da es keinen „begründeten Verdacht auf kriminelles Fehlverhalten“ gebe. Die PCHR focht diese Entscheidung vor dem israelischen Generalstaatsanwalt an, jedoch ohne Erfolg. In dem Verfahren vor dem deutschen Generalbundesanwalt vertraten PCHR und ECCHR die Auffassung, dass der Militärgeneralanwalt nicht unabhängig ist, u.a. gemäß dem Bericht des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte mit dem Titel „Ensuring accountability and justice for all violations of international law in the Occupied Palestinian Territory including East Jerusalem“, UN Doc. A/HRC/37/41, 19. März 2018, §§ 11-14. Der Generalbundesanwalt ignorierte die von PCHR und ECCHR in dieser Angelegenheit vorgebrachten Argumente und Materialien und erklärte stattdessen, dass er sich nicht in innerstaatliche Angelegenheiten einmischen könne, insbesondere nachdem eine innerstaatliche Entscheidung getroffen worden war und in einem Fall, in dem noch nicht alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft worden waren. Tatsächlich hat die PCHR nach der Entscheidung im Überprüfungsverfahren des Generalstaatsanwalts den innerstaatlichen Rechtsweg nicht vollständig ausgeschöpft, indem sie den Obersten Gerichtshof mit der Angelegenheit befasst hat. Der israelische Oberste Gerichtshof wendet einen sehr hohen und strengen Prüfungsmaßstab an, und selbst wenn er Fälle an den (nicht unabhängigen) Generalstaatsanwalt zurückverweist, hätte dieser bei der Erteilung einer neuen Entscheidung einen großen Ermessensspielraum. Die Versäumnisse, die mangelnde Unabhängigkeit und die vorhersehbaren Ergebnisse wurden in einem ECCHR-Gutachten dargelegt, das der Bundesanwaltschaft 2018 vorgelegt wurde.

In vielen anderen Fällen verlangte die Bundesanwaltschaft zu Recht nicht, dass die Opfer oder ihre Angehörigen in ihren jeweiligen Rechtsordnungen, z.B. in Syrien, Irak, Gambia oder Sri Lanka, irgendwelche rechtlichen Schritte im Inland unternehmen, geschweige denn alle lokalen Rechtsmittel ausschöpfen, bevor sie eine Untersuchung einleitet. Die internationale Strafgerichtsbarkeit verlangt nicht, dass der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft wird, bevor der Fall vor ausländischen Gerichten weiterverfolgt wird, zumal es für die Opfer und ihre Familien oft sehr unrealistisch ist, inländische Gerichte mit Fällen gegen die einheimischen Streitkräfte oder Geheimdienste zu befassen.

c. Berufung auf die funktionelle Immunität für Straftaten nach dem regulären Strafgesetzbuch, obwohl sie mit einem mutmaßlichen internationalen Verbrechen verbunden sind

Die Staatsanwaltschaft steht im Einklang mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 28. Januar 2021 (BGH, 28. Januar 2021 – 3 StR 564/19), die funktionale Immunität für Kriegsverbrechen nicht anzuwenden. Rechtlich unhaltbar ist jedoch die Argumentation der Staatsanwaltschaft, dass die funktionale Immunität per se die Verfolgung des Verbrechens des Mordes (§ 211 StGB) hindere, unabhängig davon, ob dieser potentielle Mord in derselben Tat wie ein potentielles Kriegsverbrechen begangen wurde oder nicht. Dies steht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. In mehreren Fällen hat der Bundesgerichtshof anerkannt, dass deutsche Gerichte die universelle Zuständigkeit auch für in das deutsche Strafgesetzbuch aufgenommene Verbrechen ausüben können, die in ein und derselben Tat wie das internationale Verbrechen begangen wurden. Hinsichtlich der funktionalen Immunität hat der Bundesgerichtshof in seiner jüngsten Entscheidung vom Januar 2021 in § 11 entschieden, dass es keine funktionale Immunität geben kann, wenn eine Straftat nach dem regulären Strafgesetzbuch mit der Begehung eines internationalen Verbrechens nach dem Völkerstrafgesetzbuch zusammenfällt. Daher war es nicht zu rechtfertigen, dass der Ankläger die Verfolgung eines Mordes abstrakt ausschloss, als er noch nicht bestätigt hatte, dass es keine ausreichenden Beweise für ein Kriegsverbrechen gab.

Verpasste Gelegenheit

Die Bundesanwaltschaft hat eine wichtige Gelegenheit verpasst, die internationale Strafgerichtsbarkeit in gleicher Weise auf die Opfer von Verbrechen eines mächtigen Akteurs auszuweiten. Die Anwendung doppelter Standards in Bezug auf die Verbindung zu Deutschland durch die Staatsangehörigkeit von Opfern und Angehörigen sowie in Bezug auf innerstaatliche Verfahren untergräbt die ansonsten sehr positiven Entwicklungen und Maßnahmen der Bundesanwaltschaft bei der Verfolgung internationaler Verbrechen in Deutschland. Unabhängig vom möglichen Ergebnis einer strafrechtlichen Untersuchung muss das Verfahren umfassend und diskriminierungsfrei sein und die Rechte der Opfer und ihrer Angehörigen gewährleisten. Leider war dies in diesem Fall nicht der Fall und stellte somit eine verpasste Gelegenheit dar, die internationale Strafgerichtsbarkeit in allen Fällen und Situationen gleichermaßen auf alle anzuwenden, was die Legitimität der Arbeit der Bundesanwaltschaft bei internationalen Verbrechen im Allgemeinen gestärkt hätte.

Kontakt:
PCHR – Raji Sourani, pchr@pchrgaza.org
ECCHR – Maria Bause, presse@ecchr.eu

 

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