Tote Kinder Von Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen heute auf Overton veröffentlichten Artikel auf der Hochblauen Seite zu übernehmen. Evelyn Hecht-Galinski

https://overton-magazin.de/top-story/tote-kinder/

 

Tote Kinder

Von

 

Die durch den Raketeneinschlag getöteten Drusenkinder. Bild: IDF

Die Hisbollah hat ein drusisches Dorf auf den Golanhöhen beschossen. 12 tote Kinder. Und die Heuchelei rechter Politiker in Israel.

 

Am Sonntag, den 28. Juli, ein Tag nach der Katastrophe im drusischen Dorf Madschdal Schams auf den Golanhöhen, bei der 12 Kinder und Jugendliche durch eine von der Hisbollah abgefeuerte Rakete auf einem Fußballfeld getötet wurden, gab, laut Pressebericht, Israels Premier Benjamin Netanjahu die Anweisung, die Überführung von “kranken und verletzten Kindern aus dem Gazastreifen zur medizinischen Behandlung in die Emirate aufzuschieben”.

Man ist hierzulande in den letzten Monaten einiges an Schrecknissen und Schrecklichkeiten gewohnt, und so ging auch diese Nachricht relativ unkommentiert im Meer der Horrornachrichten unter. Zu Wort gemeldet hat sich die Ärztevereinigung für Menschenrechte. Der Beschluss sei “ein grausames Spiel der israelischen Regierung mit dem Leben von Kindern”. Auf eine diesbezügliche Anfrage im Büro des Premiers kam die lakonische Antwort, mit den Terminen der Überführung befasse sich das Verteidigungsministerium. Netanjahu ist seit geraumer Zeit bemüht, die Schuld an jeder Verfehlung im Krieg auf das Militär abzuwälzen.

Einiges vom moralischen Verfall des öffentlichen israelischen Diskurses in den Monaten des Gaza-Krieges kodiert sich in dieser Nachricht. Erstens – die Indifferenz, mit der man der massiven Auslöschung von Kinderleben begegnet. Viele Tausende palästinensische Kinder sind während der militärischen Operationen der IDF in den letzten neuen Monaten “kollateralschädlich” ums Leben gekommen.

„Kein Raum für Empathie den Gaza-Bewohnern gegenüber“

Die jüdische Bevölkerung Israels hat dies zumeist gelassen hingenommen. Im besten Fall rührte es daher, dass man in den israelischen Medien (nahezu gleichgeschaltet) den Beschluss gefasst hatte, die Zuschauer zu “verschonen” und ihnen die entsetzlichen Bilder aus dem Gazastreifen zu “ersparen”. Und da man primär sowieso mit dem eigenen Katastrophentag des 7. Oktober beschäftigt war, vor allem mit dem Problem der Geiselbefreiung, hatte man – so der gängige Spruch bei vielen – “keinen Raum für Empathie den Gaza-Bewohnern gegenüber”. Im eher gängigen Fall gibt es für die propagandistisch zugedröhnten Israelis ohnehin keine “Unbeteiligten”, geschweige denn “Unschuldige” unter den Hamas-Palästinensern. Das Postulat der Hamas, demzufolge man in jedem Israeli, gleich welchen Alters, einen israelischen Soldaten in spe zu sehen habe, findet sein Pendant in diesem Reaktionsmuster vieler Israelis. Nicht wenige unter ihnen sind gar der Meinung, dass man die Palästinenser im Gazastreifen liquidieren müsse, wenn sie noch klein sind.

Zweitens – indiziert die Nachricht über die Anweisung Netanjahus auch das nicht versiegende Bedürfnis, Rache und Vergeltung an der Hamas zu üben. Es gab Kommentatoren, die diese Maßnahme des Premierministers auf seine Angst vor der Reaktion der Anhänger an der Basis zurückführten. Zu erwarten war die Frage: Wieso erweist er den Gaza-Kindern die Gefälligkeit der Ausreise zur medizinischen Behandlung in den Emiraten, nachdem den Drusen-Kindern dieses Unglück durch die Hisbollah widerfahren ist.

Bemerkenswert ist dabei zum einen die Art und Weise wie die Kinder auf beiden Seiten (der palästinensischen und der drusischen) zum politisch einsetzbaren Tauschwert verkommen sind. Der Tod der einen soll mit dem potentiellen Tod der anderen aufgewogen werden. Zum anderen aber ist die Verlogenheit, die dieser zutiefst perfiden Aufrechnung zugrunde liegt, nicht zu übersehen; es handelt sich dabei um mehr als nur das “grausame Spiel der israelischen Regierung mit dem Leben von Kindern”.

Scheinheiligkeit des Mitleids mit den toten drusischen Kindern

Denn – drittens – zeichnet sich Israels Beziehung zu der drusischen Ethnie mitnichten durch das Solidaritätsgefühl aus, das am Abend der Katastrophe in Madschdal Schams und in den Tagen danach allenthalben in der israelischen Öffentlichkeit, vor allem aber von interessengeleiteten israelischen Politikern pathoserfüllt-berechnend herumtrompetet wurde. Die Drusen sind eine arabischsprachige Religionsgemeinschaft, die sich historisch vom schiitisch-ismaelitischen Islam abgesondert hat. Sie leben Großteils in Syrien und Libanon, zum Teil aber auch im nördlichen Israel. Sie sind keine Palästinenser, daher im Nahostkonflikt anders als diese involviert, was sich nicht zuletzt in ihrer je eigenen politischen Affinität manifestiert.

Da ihrem religiösen Glauben zufolge die diesseitige Welt lediglich den Korridor zu jenseitigen bildet, haben die Drusen keine Aspirationen auf politische Unabhängigkeit; sie bezeugen Loyalität dem Land gegenüber, in dem sie leben. Syrische Drusen dienen im syrischen Militär, israelische Drusen in der IDF. Für die in Israel lebenden Drusen lassen sich drei Subidentitäten ausmachen: Alle sehen sich als Drusen, aber diese Identität vermischt sich auch jeweils mit der arabischen und der israelischen Identität. Ungeachtet der Frage, wie es zum Beschuss des drusischen Dorfes durch die Hisbollah kam, hat nicht von ungefähr Gideon Levy in Haaretz angemerkt: “Die Auslandsreporter hatten es schwer, ihren Zuschauern zu erklären, wer die toten Kinder sind – sie waren keine Palästinenser, lebten unter Besatzung, waren weder Juden noch israelische Araber und dennoch Bürger des Staates.”

Man darf dabei nicht vergessen, dass Israel die Golanhöhen 1981 annektiert hat. Die ältere Generation der dort lebenden Drusen wahrt zumeist ihre Loyalität dem syrischen Staat gegenüber, aber viele unter den jungen Menschen bekennen sich heute zu Israel und wollen als israelische Staatsbürger behandelt werden.

Indes, völlig zurecht empörte sich die Haaretz-Kolumnistin Noa Limone über die Heuchelei der sich angesichts der Katastrophe echauffierenden rechten Politiker, die nun massive, ja exzessive Militäraktionen gegen die Hisbollah fordern: “Plötzlich liegen die Minderheiten am Herzen der Architekten des die bürgerliche Gleichheit zersetzenden Staatsstreichs; das Herz der Urheber und Anhänger des rassistischen Nationalitätengesetzes bricht angesichts der toten Kinderkörper; das Mitleid erfasst jene, die die Not der drusischen Ethnie ignoriert und per Gesetz deren langjährige Diskriminierung in den Bereichen des Budgets, der Infrastruktur, der Planung und des Baus vertieft und etabliert haben; es sind jene, die die Drusen mit der Errichtung der Turbinen auf den Golanhöhen provoziert und gegen sie gehetzt haben, als sie es wagten, dagegen zu protestieren. Was für eine Show schamloser Bigotterie.”

Überraschend ist diese Perfidie freilich nicht. Die in Israel lebenden Drusen sind zwar keine Palästinenser, aber Juden sind sie auch nicht (schon mal ein Nachteil im zionistischen Staat); sie erheben sich nicht gegen Israel (viele dienen gar in der IDF), bleiben aber trotz des fortwährend heraufbeschworenen “Blutbündnisses” letztlich “Andere”, die nur bedingt dazugehören können; sie sind staatsloyal, dürfen aber doch vernachlässigt werden (eben weil sie als Staatsloyale für Israel nicht gefährlich sind).

Es gibt keine Engel

Wer wird aber beim Anblick von toten Kindern nicht von maßlosem Erbarmen erfasst? Gibt es etwas Entsetzlicheres, mag man sich fragen? Die Antwort darauf ist weniger selbstverständlich, als es scheinen mag. “Was kann ich ihm bescheiden, womit soll das Kind gesegnet sein? – fragte der Engel”, heißt es in einem berühmten israelischen Lied aus der Zeit nach dem 1967er Krieg, das die Gefallenen betrauert. Leben – so geht es aus den weiteren Zeilen des Liedes hervor – war eine der dem Engel zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Segnung.

Aber es gibt ja keine Engel. Und auch der Glaube, der sich immer noch mit dem letzten Rest seiner neurotischen Kraft um ein Anzeichen für Gottes Existenz und Segen bemüht, wird angesichts einer nicht abbrechen wollenden Katastrophengeschichte der Menschheit zunehmend schwieriger und komplexer – besonders dann, wenn sich jene Form mörderischen Grauens ereignet, das die Entfremdung des Menschen von Seinesgleichen auf die Spitze der Barbarei zu treiben scheint: das Aufeinanderprallen von militärischer Gewalt und Kindern.

Nach dem Gaza-Krieg in diesem Jahr, in dem dieses Aufeinanderprallen schon am 7. Oktober und um ein Vielfaches in den nachfolgenden Monaten an Horrendem gezeitigt hat, muss gefragt werden, ob ein Mitglied der faschistisch-rassistischen Regierungskoalition in Israel im Anblick der toten Drusenkinder und dem Gedanken an die tausenden Palästinenserkinder und im Andenken an tote Kinder überhaupt noch seinen Mund aufmachen darf. Das gilt nicht nur für israelische Politiker. Aber sie sind nun die allerletzten, die sich selbst nur die Scheinheiligkeit des Mitleids mit den toten drusischen Kindern anmaßen dürfen.

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