Von Apfelbäumen und Bruckner Von Moshe Zuckermann

Ich danke Moshe Zuckermann nicht nur für die freundschaftliche Genehmigung seinen neuen auf Overton publizierten Artikel, auf der Hochblauen Seite zu übernehmen , sondern auch für diesen Artikel, der Politik und Musik so wunderbar verbindet. Er zeugt wieder einmal von seinem profunden  kulturellen und politischen Wissen, wie er es schon mit seinem wunderbaren Wagner Buch bewies.  Evelyn Hecht-Galinski

 

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Von Apfelbäumen und Bruckner

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Landschaft in North Yorkshire. Bild: alf beard/CC0

Es gibt keine richtiges Leben im falschen, sagte Adorno. Gibt es im Angesicht der Katastrophe eine Auszeit?

“In mir streiten sich / Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum / Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers / Aber nur das zweite / Drängt mich zum Schreibtisch”, heißt es in Brechts Gedicht “Schlechte Zeit für Lyrik” aus dem Jahr 1939.

Das Bekenntnis scheint so selbstverständlich zu sein, dass es kaum der Erwähnung bedarf. Und dennoch gesteht Brecht, dass die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum in ihm trotz der Reden Hitlers in ihm wirkt, ja mit dem Entsetzen über diese Reden sogar “streitet”.

Dass ihn das Katastrophische dieser Reden eine Priorität im Handeln setzen lässt, darf, so besehen, als eine moralische Regung verstanden werden, als Pflicht des politischen Intellektuellen. Ein Gedicht über den blühenden Apfelbaum muss hinter die Vordringlichkeit des Schreibens über das menschengemachte Desaster des Faschismus gestellt werden. Es ist wohl auch eine Frage des politisch pulsierenden Gewissens, wobei es keine Rolle spielt, dass auch das Schreiben über den Anstreicher mit poetischen Mitteln vorgenommen wird: Es geht um die von der Realität gesetzten Prioritäten.

Das hier angezeigte Problem mit etwas abgewandelten Koordinaten: In seinem Buch “Zweihundert Jahre phantastische Malerei” hat der Kunsthistoriker Wieland Schmied hinsichtlich der Beziehung Salvador Dalis zur historischen Surrealismus-Bewegung folgende bemerkenswerte Feststellung getroffen: “Die historische Rolle, die Dali in der Gruppe der Surrealisten gespielt hat, besteht darin, daß er sie als einziger wirklich beim Wort genommen – und ad absurdum geführt hat.” Er, Dali, sei es gewesen, der ihr Glaubensbekenntnis, die Definition des Surrealismus im Ersten Surrealistischen Manifest, auf die Probe gestellt habe.

In jenem Manifest hatte André Breton im Jahre 1924 geschrieben, der Surrealismus sei “Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen”, und dies nun sei die Formulierung gewesen, auf die sich Dali berufen habe, “als er den Surrealisten schon anfangs (aber zu unrecht) als Koprophage suspekt war – er hatte in sein Bild ‘Le jeu lugubre’ (1929) sehr deutlich und genußvoll Kot hingemalt –, vor allem aber, wenn er Figuren seiner Bilder als ‘Hitlerische Amme’ zu deuten begann, und man, wenn auch in noch so grotesken Verschlüsselungen, seine absurde Hommage an Hitler nicht mehr übersehen konnte”.

Als es dann zur internen “Prozessverhandlung” kam, berief sich Dali auf die bewusst ausgeschlossene Kontrolle durch Prinzipien der Moral, auf die écriture automatique, auf das Diktat der Träume – er habe diese Figuren gesehen, sie seien ihm im Traum, in Halluzinationen erschienen, und so sei es nicht zu verwundern, wenn sie nunmehr ihren Platz auf der Leinwand fänden. Dali soll behauptet haben: “Ich übertrage meine Träume, und ich habe deshalb nicht das geringste Recht, eine bewußte Kontrolle über ihren Gehalt auszuüben. Ist es mein Fehler, wenn ich von Hitler […] träume?”

Zurecht meint Schmied: “Seine Erklärung war korrektester Surrealismus.” Gleichwohl hätten die Surrealisten diese Erklärung nicht gelten lassen; sie verwarfen Dalis Verteidigung: “Mit Hitler, mit dem Faschismus wollten sie unter gar keinen Umständen auch nur das geringste zu tun haben.” Dali wurde also ausgeschlossen. Auf die Verurteilung hat er freilich gelassen reagiert: Der Unterschied zwischen den Surrealisten und ihm sei der, dass er Surrealist sei. Schmied meint: “Nimmt man den Surrealismus der Manifeste, lag der Witz Dalis darin, daß er recht hatte”, wenn auch der Surrealismus damals, zehn Jahre nach dem “Ersten Manifest”, schon nicht mehr der der Definitionen Bretons war. In der Tat löste sich die surrealistische Bewegung danach auf. Viele ihrer Mitglieder schlossen sich dem antifaschistischen Kampf an; sie sahen es als Vordringlichste in jenen Jahren an – die Kunst (bzw. die künstlerische Doktrin) hatte gleichsam vor der Politik zu weichen.

Gesteigert noch kommt Adornos Diktum von 1949 in den Sinn: “Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.” Es korrespondiert mit der Behauptung Walter Benjamins in “Über den Begriff der Geschichte” von 1940, derzufolge ein Dokument der Kultur stets zugleich ein solches der Barbarei sei. Adorno hat bekanntlich die Apodiktik seines Postulat später etwas moderiert; vermutlich geschah dies nach seiner Lektüre des Gedichts von Paul Celan “Todesfuge”. Das Problem des Stellenwerts von Kunst in einem Ausnahmezustand blieb gleichwohl bestehen (ich erlaube mir hier, die Begeisterung Brechts über den blühenden Apfel dem Bereich des Ästhetischen zuzuzählen).

Diese Zeilen schreibe ich aus einem entfernten Dorf im Norden Englands, wo ich mich seit einigen Tagen befinde. Im englischen Klassiksender erklingt gerade Anton Bruckners fünfte Sinfonie. Anton Bruckner, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, ist “Composer of the week”, seine Musik wird viel gespielt – zu meiner großen Freude; ich bin ein Bewunderer der Sinfonik des österreichischen Spätromantikers. Aber ich höre sie hier aus Israel kommend.

Am Tag vor meiner Abreise wurde die “Befreiung” von sechs israelischen Geiseln aus der Hamas-Gefangenschaft bekanntgegeben – sie kamen als Leichen an. Ihr Tod hätte verhindert werden können, wenn Netanjahu zu einem Deal mit der Hamas bereit gewesen wäre. Er war (bzw. ist) nicht dazu bereit, weil er den “totalen Sieg”, mithin die möglichst ausgedehnte Verlängerung des Krieges anstrebt und dafür bereit ist, das Leben der Geiseln aufs Spiel zu setzen. Angehörige der Geiseln haben ihn bereits beschuldigt, mit dem Leben ihrer Lieben zu spielen, ja jetzt schon Blut an den Händen zu haben.

Blut an den Händen hat Netanjahu freilich schon seit dem 7. Oktober. Denn nicht nur trägt er als amtierender Premierminister die oberste Verantwortung für das Oktober-Desaster, sondern im dann folgenden, von ihm angeführten (und noch immer gewollten) Krieg hat er die Tötung von über 40.000 Palästinensern verursacht, weit über die Hälfte von ihnen Frauen und Kinder, und die Verwüstung des Gazastreifens angetrieben. Dabei darf man nicht vergessen, dass er es war, der die Hamas über Jahre förderte, weil er sie aus einem verqueren Verständnis von Divide-et-impera gegen die PLO auszuspielen trachtete.

Vergessen darf man auch nicht, dass er sein persönliches Interesse durchgehend dem des Staates voranstellte. Zu diesem Zweck, mithin zu dem des Macht- und Herrschaftserhalts, hat er die rechtsradikalste Koalition der israelischen Parlamentsgeschichte, bestehend aus kahanistischen Faschisten, messianisch-religiösen Chauvinisten und sektorial interessierten Opportunisten zusammengestellt. Mit diesen Verbündeten betreibt er eine Politik, die das zivilgesellschaftliche Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft von Grund auf erschüttert und die Grundvoraussetzungen für jegliche kollektive Solidarität aufsprengt. Israel geht unter seiner Herrschaft und seinen Ambitionen zunehmend zugrunde. Es gäbe noch so manches in diesem Zusammenhang aufzuzählen. Ich habe darüber an dieser Stelle seit vielen Monaten berichtet.

Aber darf man sich da an der Herrlichkeit der Landschaften North Yorkshires ergötzen? Sich in Bruckners Musik versenken? Sich eine kommode Auszeit gestatten? Ich bin mir des narzisstischen Moments in dieser Frage bewusst; denn was ist schon das gequälte Moralisieren gemessen am realen Unglück der Opfer des Ausnahmezustands. Um diesen Vergleich darf es indes gar nicht gehen.

Zu fragen gilt es vielmehr: Konnte Brecht, ungeachtet dessen, was ihn zum Schreibtisch drängte, sich seiner Begeisterung über den blühenden Apfelbaum selbst noch beim Entsetzen über die Reden Hitlers entziehen? Hatte Dali die Surrealisten nicht vor einer Stunde der Wahrheit gestellt, nach der sie zugeben mussten, dass wenn sie ihm gegenüber recht hatten, ihre Doktrin nicht stimmte, und er, Dali, in der Tat der konsequenteste Surrealist unter ihnen war? Und Adorno selbst gab ja zu, dass seine Kulturkritik ihre Grenzen haben musste, und sei’s in der Erkenntnis, dass die Kultur sich durchaus der Barbarei zu verschwistern vermag, man sich aber ohne Kultur der Barbarei von vornherein ausliefert.

Dies lehrt auch Benjamins Einsicht (der Adorno selbst anhing), derzufolge alle Kultur im Stande der Unfreiheit des Menschen stets auch ein Stück Barbarei in sich birgt. Dessen muss man sich immerfort bewusst sein, die Barbarei mithin nicht aus den Augen zu verlieren und sie (nicht zuletzt) im Namen der Kultur zu bekämpfen. Selbst im Ausnahmezustand sind der blühende Apfelbaum und Bruckners Fünfte anwesend.

Und die Auszeit? Adorno sprach vom Glück an den Kunstwerken als “jähes Entronnensein”. Das menschliche Bedürfnis nach jähem Entrinnen ist angesichts der Barbarei zumindest verständlich. Gleichwohl vergesse ich nicht, was mir eine befreundete Palästinenserin vor vielen Jahren sagte, als ich ihr meine Begeisterung über eine gerade gehörte Mahler-Sinfonie in der Tel Aviver Philharmonie mitteilte: “Ich gönne Dir das nicht.” Ich habe sie verstanden.

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