Von Sackgassen und Wunschvorstellungen von Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen auf Overton publizierten Artikel, auch auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen Evelyn Hecht-Galinski

https://overton-magazin.de/top-story/von-sackgassen-und-wunschvorstellungen/

Von Sackgassen und Wunschvorstellungen

von

Mauer in Bethlehem. Bild: Fallaner/CC BY-SA-4.0

Bei der Erörterung möglicher Wege einer politischen Lösung des Konflikts zwischen den Israelis und den Palästinensern muss man stets von den realen Koordinaten des Konflikts ausgehen. Zumeist stimmen sie nicht sonderlich hoffnungsfroh.

 

Bei den vielen Veranstaltungen zu Israel, Palästina und dem Krieg, an denen ich im letzten Jahr teilgenommen habe, bin ich immer wieder gefragt worden, wie ich “die Zukunft” des Konflikts sehe. Die Frage ist nicht neu, ich begegne ihr (vor allem in Deutschland) seit Jahrzehnten, zumeist gekoppelt mit der Zusatzfrage: “Was können wir hier in Deutschland tun?” In der gegenwärtigen Kriegssituation wird die Zukunftsfrage mit besonderem Nachdruck gestellt, und ich sehe mich immer wieder in die Position des Frustrationsbotschafters gedrängt, der eher die Sackgasse, in die der Konflikt gemündet ist, beschreiben und analysieren muss, als eine reale Lösung anzuzeigen vermag. Neulich hat mir dies gar das Prädikat des Defätisten eingetragen.

Nun, ob ich einer bin oder nicht, sei dahingestellt. Aber über das Bedürfnis, eine klar formulierte Antwort vorgelegt zu bekommen (die es zur Zeit noch gar nicht geben kann) hinaus, darf man in der Tat davon ausgehen, dass es früher oder später zu irgendeiner “Lösung” kommen wird – man lebt ja historisch nie im luftleeren Raum. Irgendwas wird sich schon ergeben. Gleichwohl ist das eine triviale Antwort, die man einem seriösen Publikum nicht schnöde hinwerfen kann. Und so kommt es, dass man sich im Diskurs auf verschiedenen Ebenen bewegt, die aber als Konglomerat zwangsläufig eine kognitive Dissonanz hinterlassen müssen.

Man ist ja in die Veranstaltung gegangen, um sich über diverse Aspekte des “Problems” unterrichten zu lassen, zugleich aber auch seine Lösungsmöglichkeiten vorgelegt zu bekommen. Es bleibt daher nicht aus, dass man sich der Zusammenfügung von sackgassenartiger Realität und der Wunschvorstellung ihrer Überwindung ausgesetzt sieht. Das generiert oft Frustration, die auf die Vortragenden bzw. die jeweiligen Panelteilnehmer projiziert wird. Nicht dafür ist man in die Veranstaltung gegangen.

Aber jegliches Reden über (vermeintlich um die Ecke wartende) Lösungsmöglichkeiten des Konflikts muss bei der Realität beginnen. Man vergeht sich an der intellektuellen Redlichkeit, wenn man die Wunschvorstellung als historisch machbar darstellt, ohne die realen Bedingungen zu ihrer Verwirklichung überprüft und analysiert zu haben. Ich habe mein Verständnis dieser Realität in Deutschland schon zigmal referiert. Hier sei es noch einmal gerafft skizziert.

Zwei prinzipielle Möglichkeiten der politischen Lösung des Nahostkonflikts wurden seit Beginn des Diskurses über ihn anvisiert. Die eine ging von der Zweistaatenlösung aus, die sich letztlich vom Teilungsplan von 1947 ableitete. Mit diesem Plan war gleichsam paradigmatisch festgelegt worden, dass es sich beim Konflikt zwischen den Palästinensern und den zionistischen Juden um einen Territorialkonflikt handelt. Das Territorium Palästinas sollte so geteilt werden, dass die Errichtung eines souveränen palästinensischen Staates neben einem bereits bestehenden Staat der Juden ermöglicht wird.

Von Relevanz für den hier erörterten Zusammenhang sind nicht die Probleme, die sich bereits in den 1950er und frühen 1960er Jahren abzeichneten (an denen noch die großen Nachbarländer Israels Ägypten, Syrien und Jordanien maßgeblich beteiligt waren), sondern die neue territoriale Situation, die sich infolge des Krieges von 1967 und der Eroberung von weiten Gebieten in Ägypten, Jordanien und Syrien ergab. Es sollte zwar noch dauern, aber diese neue Konstellation zeitigte letztlich einen Friedensvertrag Israels mit Ägypten (1979) und einen Friedensschluss mit Jordanien (1994). Ein Frieden mit Syrien kam nicht zustande, vor allem weil Israel sich weigerte, die 1967 eroberten Golanhöhen wieder abzutreten.

Die neue territoriale Situation nach 1967 tangierte in erster Linie die Palästinenser, denn sowohl das von Jordanien an sie abgetretene Westjordanland als auch der Gazastreifen, der ihnen von Ägypten zugedacht wurde, standen unter der militärischen Okkupationsherrschaft Israels. Was sich aber anfangs noch als zeitweilige Zwischenphase ausnahm (bzw. für eine solche ausgegeben wurde), sollte sehr schnell zum Dauerzustand mutieren. Dies manifestierte sich vor allem in der anfangs noch zögerlichen, aber bald genug sich massiv verbreitenden jüdischen Besiedlung des Westjordanlandes und des Gazastreifens.

Ohne auf die weiteren Entwicklungen im Detail einzugehen, sei  hier hervorgehoben, dass mittlerweile rund 650.000 jüdische Siedler die Westbank bevölkern, beschützt durch die israelische Besatzungsarmee; und obwohl sich Israel im Jahre 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat, war dieses palästinensische Gebiet seither israelischer Kontrolle und einer sich zunehmend etablierenden Blockadepraxis ausgesetzt.

Das sind die Grundvoraussetzungen zur Erörterung der Zweistaatenlösung. Denn es stellt sich heraus, dass die Siedlungspraxis mitnichten als beiläufiges Mittel der intermediären Verwaltung der eroberten Gebiete (bis zur künftigen Lösung des Konflikts) gedacht war, sondern als bewusst eingesetztes Herrschafts- und Expansionsinstrument. Diese Tendenz verfestigte sich zusehends und verbreitete sich als gravierender Faktor der israelischen Politik, als klar wurde, dass die nationalreligiösen Parteien und ihre Klientel, die das Gros der Siedlerbewegung bildet, gar nicht daran dachten, das Gebiet des Westjordanlandes im Rahmen eines (imaginierten) Ausgleichs mit den Palästinensern zu räumen: Für sie handelt es sich um das von Gott verheißene Land, das – rein theologisch gesehen – gar nicht verhandelbar sein kann, wenn man sich nicht gegen Gottes Willen vergehen möchte; im Sinne Gottes müsse dieses Land (qua Heiliges Land) ganz im Gegenteil so intensiv wie nur möglich in jüdischen Beschlag genommen und besiedelt werden. Mit solcher Emphase ist man dabei vorgegangen, dass der israelische Politologe (und ehemalige Vizebürgermeister Jerusalems) Meron Benvenisti bereits in den 1990er Jahren behauptete, die entstandene Siedlungslage sei irreversibel.

Was bedeutet das? Wenn man davon ausgeht, dass die Zweistaatenlösung die Räumung der von Israel besetzten Gebiete, den Abbau der israelischen Siedlungen sowie die erforderliche Lösung der Jerusalemfrage im Sinne einer Hauptstadt zweier Länder zur Voraussetzung hat, dann hat es Israel geschafft, die Verwirklichung dieser Lösung zu verunmöglichen – und davon kann keine der israelischen Regierungen seit 1967 ausgenommen werden. Die Besiedlung der okkupierten Gebiete nahm ständig zu, selbst im Jahrzehnt des Oslo-Prozesses in den 1990er Jahren.

Kein israelischer Politiker denkt heute daran, diese Lösung anzuvisieren, geschweige denn, sie als politisches Agenda zu postulieren. Denn die Räumung der Gebiete und erst recht der Abbau der Siedlungen lässt sich nicht mehr ohne den Ausbruch einer bürgerkriegsartiger Empörung seitens der Siedler und ihrer Anhänger denken. Man bedenke, dass alle israelischen Bürgerinnen und Bürger unter 60 Jahren das Israel von vor 1967, also ohne die besetzten Gebiete, nie gekannt haben. Sie sind in einem Land geboren worden, das die Besatzung – auch lebensweltlich – in sein ideologisches Selbstverständnis völlig integriert hat.

Wenn aber die Zweistaatenlösung strukturell (d.h., nicht nur politisch-ideologisch, sondern auch materiell) unterwandert und letztlich verunmöglicht worden ist, dann bleibt nur die sogenannte Einstaatenlösung als Lösungsoption. Diese Möglichkeit will indes keine der beiden Seiten, erst recht nicht angesichts der Schrecknisse des gegenwärtigen Krieges, der horrenden Verwüstung, der massiven Menschenopfer und des beidseitig lodernden Hasses. Gleichwohl ist nun einmal im Gebiet “from the river to the sea” objektiv eine binationale Territorialstruktur entstanden, in der etwa 50% Juden/Jüdinnen und 50% PalästinenserInnen leben. Was soll aus dieser Konstellation werden?

Nun, zur Zeit lässt sich nicht sehr viel dazu sagen. Man weiß ja nicht einmal, wie es “am Tag danach” (d.h., nach dem Krieg) im Gazastreifen zugehen soll (jedenfalls weiß es die israelische Regierung nicht und will es offenbar auch nicht wissen). Aber prinzipiell lassen sich zwei Möglichkeiten für den Fortbestand dieser binationalen Struktur denken: Beide Seiten können sie demokratisch absegnen und einen binationalen Staat (föderativ, konföderativ oder in welcher Form auch immer) errichten – einen Staat all seiner Bürger also. Die Erfüllung dieser Möglichkeit könnte sich für manche, vielleicht auch für viele, als übernationale Verwirklichung einer Wunschvorstellung ausnehmen. Wenn man sich aber dieser demokratischen Absegnung des objektiv bereits Bestehenden verweigert, bedeutet es unter den real gegebenen Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen nur eines: Israel zementiert historisch den Zustand, in dem es als Apartheidstaat existiert, regiert und fungiert.

Ausgenommen wird bei den hier dargelegten Koordinaten des möglichen Umgangs mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt die Option dessen, was in Israel “Bevölkerungstransfer” genannt wird, also die aufgezwungene oder “freiwillige” Entfernung der Palästinenser von ihrem Territorium (eine ethnische Säuberung, wenn man will). Der bekannteste Vertreter dieses ideologisch-politischen Ansinnens war bereits in den 1980er Jahren Meir Kahane, der späterhin in Rehavam Zeevi und heute in Avigdor Lieberman seine prominentesten Nachfolger hatte.

Diese (von vielen in Israel durchaus erwünschte) Möglichkeit war freilich nie verwirklichbar. Nicht nur hätten da die Palästinenser, gelinde gesagt, nicht “mitgespielt”, sondern sie wäre mit Sicherheit auch auf vehementen Widerstand der Weltöffentlichkeit gestoßen. Ich vermute, dass sich im Ernstfall auch viele Israelis dieser Option widersetzt hätten. Was freilich während der langen Jahren der Okkupation durchgehend praktiziert wird, ist die systematisch schikanierende Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland, und zwar derart, dass ein latenter Bevölkerungstransfer de facto stattfindet. Dies hat sich in den letzten Kriegsmonaten zusehends gesteigert – nicht wenige Palästinenser sind von ihren Wohngebieten weggezogen bzw. vertrieben worden.

Nicht unerwähnt sollte im hier erörterten Zusammenhang und angesichts der Schrecknisse des gegenwärtigen Krieges abschließend ein weiterer struktureller Faktor bei der Perpetuierung der besagten Sackgasse bleiben. Zwar handelt es sich bei ihr, wie oben angezeigt, um einen Territorialkonflikt, aber auf beiden verfeindeten Seiten spielt mittlerweile die ideologische Hermetik eines religiösen Fundamentalismus eine gravierende Rolle: Bei der Hamas ist dieser essenzieller Bestandteil ihres Selbstverständnisses, wobei gerade dieser Zug sie von der PLO wesentlich unterscheidet. Auf der israelischen Seite hat sich über Jahrzehnte die Gesinnung eines messianisch beseelten Zionismus herausgebildet, die das heute von den rassistischen Faschisten Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir geführte nationalreligiöse Lager ideologisch bestimmt. Wie da rationale eine Lösung des Konflikts zustande kommen soll, weiß nur Gott. Aber welcher Gott – der des sunnitischen Islamismus oder der der jüdischen Okkupationsmessianisten?

Ähnliche Beiträge:

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Entdecke mehr von Sicht vom Hochblauen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen