Wahrnehmungsvakuum der Realität Von Moshe Zuckermann

Dank an Moshe Zuckermann für die Genehmigung seinen neuen auf Overton publizierten Artikel auf der Hochblauen Seite zu veröffentlichen. Evelyn Hecht-Galinski

Wahrnehmungsvakuum der Realität

Israel steht vor dem Abgrund. Das Land geht zugrunde. Aber es ist, als würden die Bürger den staatlichen Selbstmord begehen

Wahrnehmungsvakuum der Realität

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Bild: Kevin B/Pexels.com/CC0

Israel steht vor dem Abgrund. Das Land geht zugrunde. Aber es ist, als würden die Bürger den staatlichen Selbstmord begehen.

Eine der Nebenwirkungen des fortwährenden Desasters, in dem sich die israelische Gesellschaft seit dem 7. Oktober bewegt, betrifft den eklatanten Verfall der Fähigkeit, einen sachlich wahren Diskurs über die Realität des Landes zu führen. Das hat mit der im laufenden Kriegszustand selbstauferlegten Gleichschaltung der öffentlichen Medien zu tun, vor allem der des Rundfunks und des Fernsehens. Aber nicht nur. Die Medien sind selbstverständlich, wie überall, maßgeblich an der publiken Meinungsbildung und -prägung beteiligt. Zugleich erweisen sie sich aber auch als etablierte Sprachrohre ihrer Klientel – sie selbst sind durch die permanenten Inputs der in der Bevölkerung grassierenden Meinungen und Einstellungen dermaßen beeinflusst, dass sich die Permanentbeschallung der Talk-, Plauder- und sogenannten News-Sendungen wie widerhallende Reproduktion von Straßen- bzw. Gossengerede und platten Stammtischgedröhn (im israelischen Populärjargon “Parlamente” genannt ) ausnehmen.

Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Erscheinungen neu seien. Die Auswirkungen dessen, was man über Jahrzehnte “Kulturindustrie” genannt und analysiert hat, sind reichlich bekannt; sie betreffen nicht nur Krisenzeiten, sondern sind im Gegenteil effektiver Teil der Normalisierungsmechanismen im kapitalistischen Konsumverhalten und der damit einhergehenden Entschärfung allen kritischen Denkens und Agierens.

Zweierlei kann als eine über dies Normale hinausgehende Besonderheit im gegenwärtigen israelischen Zustand angeführt werden. Zum einen erfordert gerade die akute Krise des Landes einen Diskurs, der zumindest eine Reflexion über Genese und Strukturen der anschwellenden Katastrophe anzubieten vermöchte.

Das Israel des Jahres 2023/24 steht vor dem Abgrund

Israel führt einen Krieg, den es offenbar nicht zu gewinnen vermag (die gesteckten Kriegsziele sind längst schon im öffentlichen Bewusstsein verblasst); seine Ökonomie ist bedrohlich erschüttert (nicht nur ist der Staat bedrohlich verschuldet, sondern ganze Wirtschaftszweige sind untergegangen, und viele professionelle Kräfte, die im Ausland gefragt sind, wandern ab); Israel entwickelt sich zunehmend zum Parialand in der Welt (die Vehemenz der militärischen Reaktion auf den 7. Oktober, die massive Tötung von palästinensischen Zivilisten, die übergreifende Verwüstung der Infrastruktur des Gazastreifens und die damit einhergehenden Kriegsverbrechen haben die Weltöffentlichkeit erschüttert und aufgerüttelt); die Stimmung in der Bevölkerung hat sich zutiefst verfinstert (der sonst enthusiastisch gefeierte Unabhängigkeitstag erweckte dieses Jahr eher das Gefühl eines depressiv-melancholischen Trauertages); die politische Klasse hat das Vertrauen eines Großteils der israelischen Bevölkerung verloren (zu eklatant hat sie am 7. Oktober versagt; zu dysfunktional, ja indifferent wirkt sie in der Lösung des zivilgesellschaftlich zentralen Problems des Krieges: der Befreiung bzw. Loslösung der in Hamas-Gefangenschaft gehaltenen entführten Geiseln – bzw. was von ihnen überhaupt noch am Leben geblieben ist).

Dies sind nur einige Faktoren der Katastrophensituation, in der sich der zionistische Staat befindet (die Liste ließe sich noch lange fortsetzen) – statt aber dass dies zum scharfen kritischen Diskurs in der Öffentlichkeit führt, sind die Grenzen, was gesagt wird bzw. gesagt werden darf, sorgfältig abgesteckt. Es gibt Demonstrationen im Land (gegen Netanjahu, für die Geiseln, gegen den desolaten Zustand der wegen des Krieges aus ihren Wohngegenden im Süden wie im Norden Evakuierten), aber sie wirken eher wie das Anbellen des Mondes – nicht nur weil sie kein Gehör finden, sondern weil sie auch nicht wirklich massiv, nicht wirklich grenzüberschreitend, nicht wirklich verzweifelt und wütend sind.

Es herrscht ja Krieg, es fallen täglich Soldaten, gegenüber den von der Armee angerichteten Verbrechen im Gazastreifen (die man erst gar nicht als solche wahrnimmt) ist man ohnehin empathielos und psychisch “immun”, und mit dem Elefanten im Raum, der Besatzungsbarbarei, hat man ohnehin nichts am Hut – und so weiß man wohl, dass man protestieren soll, zugleich aber auch, dass es verboten ist, den Rasen zu betreten.

Im Innern ist die israelische Gesellschaft zutiefst gespalten

Zum anderen beeinflussen aber auch objektive Strukturen den spezifischen Charakter der öffentlichen Reaktion auf die bedrohliche Krise, in der die israelische Bevölkerung lebt. Man kann die Krise zwar in sich schlüssig beschreiben, nicht aber davon ausgehen, dass “die Bevölkerung” auf sie homogen zu reagieren habe. Die israelische Bevölkerung ist nicht nur in dieser Hinsicht alles andere als homogen. Zwar weiß sich ihr jüdischer Teil einig und “vereint” gegen die “Araber”, die “Palästinenser”, die “Hamas” (und zuweilen auch “die Welt”); diese erfüllen die konsolidierende Kittfunktion “nach außen” hin.

Aber im Innern ist die israelische Gesellschaft zutiefst gespalten, und zwar so sehr, dass die Diskrepanzen zwischen ihren einzelnen Teilen und Sektoren als unüberbrückbar gelten dürfen. Das lässt sich an der Einstellung zum Krieg und zur Geiselbefreiung deutlich ablesen; man mag sich dabei der Konstellation der gegenwärtigen Regierungskoalition als Kriterium bedienen. Die beiden orthodoxen Parteien geben sich dem Krieg gegenüber nonchalant bzw. “unbeteiligt”, was insofern naheliegt, als ihre Wählerschaft ja keine Soldaten stellt – junge Männer aus dem orthodoxen Sektor sind vom Wehrdienst befreit. Die Loslösung der Geiseln müsste ihnen als religiöse Juden am Herzen liegen – gilt diese doch nach einer bestimmten orthodoxen Auffassung als das wichtigste Gebot im Judentum. In der Realität geben sie sich dazu indifferent, die Geiseln gehören ja nicht “zu uns”, wie sich einer ihrer Rabbiner geäußert hat. Gefragt, wo Gott am 7. Oktober gewesen sei, gab ein anderer zu Antwort, Gott sei dort gewesen, wo er gewollt wurde. Nicht nur solche Äußerungen versetzen einen Großteil der israelischen Bevölkerung in Rage.

Eines anderen Zugangs zum Krieg befleißigen sich die nationalreligiösen, messianisch beseelten faschistisch-kahanistischen Parteien von Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich: Sie wollen den Krieg “bis zum endgültigen Sieg” weiterführen, und zwar auch dann, wenn die Geiseln dies mit ihrem Leben bezahlen werden. Das Leben der Geiseln sei nicht so wichtig wie der militärische Sieg, sagt Smotrich, der einer Totalbesetzung des Gazastreifens und einer erneuten jüdischen Besiedlung des besetzten Gebietes das Wort redet. Sein Gesinnungsgenosse Itamar Ben-Gvir (Polizeiminister Israels, 13fach vorbestraft!) bzw. seine Anhänger sabotieren derweil die humanitäre Hilfe für die höchst bedürftige Gaza-Bevölkerung.

Koalitionschef Benjamin Netanjahu mischt sich nicht ein: Er hat nichts anderes im Sinn, als die möglichst lange Fortführung des Krieges, allerdings nicht aus ideologischen Gründen, auch nicht, weil er mit dem Krieg sachliche Ziele verfolgt – der Krieg dient in erster Linie seinem Privatinteresse des Machterhalts; solange der Krieg andauert, wird es keine Neuwahlen geben, auch keine Ausrufung einer staatlichen Untersuchungskommission des Fiaskos vom 7. Oktober (bis heute hat er sich zu seiner Verantwortung für das Unglück nicht bekannt). Und weil er die Fortsetzung des Krieges will, hat er schon mehrfach einen möglichen Deal mit der Hamas zu Geiselbefreiung unterminiert. Von selbst versteht sich, dass er dies nie zugeben würde. Er weiß dabei seine Anhänger in der Bevölkerung und das von ihm abhängige ministerielle Umfeld hinter sich.

Dies Wenige mag genügen, um zu veranschaulichen, warum der Diskurs über die in Israel vorwaltende Realität so schändlich begrenzt und ohnmächtig ist; es handelt sich um einen Diskurs unter Taubstummen, der sich seitens der politischen Klasse einzig dem einen Ziel widmet, nichts zuzulassen, was den geheiligten Machterhalt gefährden könnte. Daher werden die Demonstranten oft als “Anarchisten” bzw. als “linke Verräter” apostrophiert (eine Ministerin ließ es sich nicht nehmen, der Angehörigen einer Entführten in Gaza vorzuwerfen, durch ihre Protestaktionen den Staat Israel zu zerstören).

Aber auch die “Opposition”, ob im Parlament oder in den Demonstrationen auf der Straße, weiß genau, wo der Rasen liegt, dessen Betretung es zu verhindern gilt: So wie Netanjahu sich strikt weigert, eine Perspektive für Gaza “nach dem Krieg” zu formulieren, so finden sich unter den Demonstrierenden auf der Straße kaum Akteure, die die Beendigung der Okkupation und die politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts einklagen. Israel steht vor dem Abgrund – und seine Bürger starren ihn reglos an. Die allermeisten wissen nicht einmal, was sie da sehen.

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