Warum wird der politische Islam in Deutschland verteufelt? Von Imad Mustafa

Ja, wer wohl und mit welchen Interessen? Eine gefährliche Entwicklung, die immer gefährlicher wird und die wir gemeinsam nicht zulassen dürfen, sowie entgegenwirken müssen. Dank an Imad Mustafa für diesen treffenden Artikel.

Why is Germany demonising political Islam?

As politicians increasingly embrace Islamophobia, discourse draws upon inherited, centuries-old narratives of the Muslim ‚other‘

Bild:The German parliament in Berlin: in Germany, the subjugation of muslims is evident in education programmes and far-reaching security measures (AFP)

 


Warum wird der politische Islam in Deutschland verteufelt?

Von Imad Mustafa

9. August 2021

In den letzten Monaten hat die offizielle Hetze einiger europäischer Regierungen gegen den sogenannten politischen Islam, seine angeblichen Vertreter und Organisationen stark zugenommen. Kurz nach dem Terroranschlag in Wien im vergangenen November erklärte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz auf Twitter, dass seine Regierung den „politischen Islam“ unter Strafe stellen werde, um „gegen diejenigen vorzugehen, die keine Terroristen sind, aber den Nährboden für sie schaffen“.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat nach dem Terroranschlag in Paris im September 2020 seinen Willen bekundet, den „islamistischen Separatismus“ zu bekämpfen und den Islam zu reformieren, der sich seiner Meinung nach in einer weltweiten „Krise“ befindet.

Die Perspektive in diesem Diskurs ist immer die eines gefährdeten Europas, das sich bedrohlichen, gefährlichen Muslimen gegenüber sieht

Deutschland hat sich in den letzten Jahren in eine ähnliche Richtung bewegt. Angetrieben von der immer stärker werdenden rechtspopulistischen und islamfeindlichen Partei Alternative für Deutschland (AfD), deren Diskurs sich auf die angebliche Islamisierung Europas und die daraus resultierende Bedrohung „unserer“ Werte konzentriert, haben viele Parteien der Mitte einen starken Rechtsruck vollzogen. Ein solcher Diskurs stützt sich auf überlieferte, jahrhundertealte Narrative über den muslimischen „Anderen“ im Vergleich zur europäischen Zivilisation und Aufklärung.

Diese Haltung ist zwar nicht neu, erfüllt aber im politischen System Deutschlands eine sehr wichtige Funktion, da sie es anderen politischen Akteuren und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ermöglicht, solche islamfeindlichen Positionen unter dem Vorwand des Wahlkampfes im Zeitalter der extremen Rechten offen zu vertreten.

In Deutschland wird der Begriff „politischer Islam“, der in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, seit vielen Jahren neben anderen irreführenden Begriffen wie „Islamismus“, „radikaler Salafismus“ und „Terrorismus“ verwendet und diskutiert. Er soll Gruppen oder Einzelpersonen bezeichnen, die im Widerspruch zum liberal-demokratischen politischen System stehen, zu Gewalt für politische Zwecke neigen oder einfach sehr konservativ, aber aus eurozentrischer Sicht bedrohlich und „anders“ sind.

Verschwörungstheorien

Es gibt keine klare Definition des politischen Islam. Zeitungen, Politiker und Wissenschaftler haben fast immer unterschiedliche Auffassungen von diesem Phänomen, was Verschwörungstheorien und politischer Instrumentalisierung Tür und Tor öffnet. Die damit einhergehende Konstruktion eines muslimischen „Anderen“ geht einher mit einer vorsätzlichen Ignoranz gegenüber der Geschichte, den Ideologien und Strukturen der vielfältigen islamischen Organisationen und Bewegungen.

In meinem Buch Politischer Islam beziehe ich den Begriff auf soziale und politische Bewegungen und Organisationen wie die Hamas in Palästina, die ägyptische Muslimbruderschaft oder die Hisbollah im Libanon. Indem ich ihre Geschichte und ihre unterschiedlichen Ansätze für Gesellschaft und Politik analysiere, grenze ich sie von terroristischen Organisationen wie al-Qaida oder der Gruppe Islamischer Staat (IS) ab.

Doch eine solche Differenzierung ist in der öffentlichen und politischen Sphäre in Deutschland, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum zu finden. Hier gibt es eine heterogene, wenn auch informelle Koalition von der rechtsextremen bis zur linksextremen antifaschistischen Ecke des politischen Spektrums, die sich in ihrer Feindschaft gegen den Islam und die Anhänger organisierter Formen des Islam einig ist.

Diese Koalition wird von einer Publikationsindustrie unterstützt, die von einheimischen Informanten, so genannten Islamkritikern, Akademikern und Nichtakademikern mit Netzwerken im politischen und akademischen System angeführt wird, die ganze Karrieren auf Islamfeindlichkeit und die weitere Marginalisierung der muslimischen Einwanderer in Deutschland aufgebaut haben.

Populäre Bücher wie Islamischer Faschismus, Generation Allah, Politischer Islam: Stresstest für Deutschland, Gottes falsche Anwälte und Alles für Allah: Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert“ machen sich die allgegenwärtige Angst vor dem „politischen Islam“ zunutze, die sie durch Erzählungen über eine versteckte Agenda des politischen Islams (der oft mit der Muslimbruderschaft gleichgesetzt wird) zunehmend und kontinuierlich schüren. Sie übertreiben dessen Rolle in den europäischen Gesellschaften und suggerieren, dass er ein ideologischer Nährboden für den bewaffneten Dschihad ist. Einige Erzählungen über die angebliche Macht und den Einfluss des politischen Islam ähneln stark antisemitischen Tropen über die Weltherrschaft.

Ein ständiger Strom von schlechten Nachrichten

Die Perspektive in diesem Diskurs ist stets die eines bedrohten Europas, das sich bedrohlichen, gefährlichen Muslimen gegenübersieht. Das Ausmaß der Versicherheitlichung des Islams und des islamischen Lebens und das wahllose Bashing des politischen Islams, das wir heute erleben, ist zum Teil das Ergebnis des kontinuierlichen Flusses von schlechten Nachrichten über ihn seit mindestens 20 Jahren.

Der 11. September war in dieser Hinsicht ein Wendepunkt, da er den westlichen Staaten den Vorwand lieferte, in Westasien und Nordafrika in den Krieg zu ziehen, um ihre neoimperialen politischen und wirtschaftlichen Ziele im Ausland zu verfolgen und gleichzeitig Migranten und muslimische Gemeinschaften im Inland zu kontrollieren. Der so genannte Krieg gegen den Terror fand seine Entsprechung in Deutschland mit der Unterwerfung nicht-deutscher, nicht-weißer, muslimischer Einwanderer durch staatlich geförderte Bildungsprogramme und die Einführung weitreichender sicherheitspolitischer Maßnahmen.

Milliardenbeträge wurden für Demokratisierungsprogramme des Bundes, Studien über junge Muslime in Deutschland, Extremismusprävention, Deradikalisierung salafistischer Jugendlicher und verpflichtende Integrationsprogramme für Muslime und andere Zuwanderer ausgegeben. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Verbindungen zwischen akademischen Einrichtungen und dem deutschen Sicherheitsapparat: Mitarbeiter des Verfassungsschutzes oder halboffizieller Denkfabriken veröffentlichen wissenschaftliche Arbeiten und Sammelbände über den politischen Islam und beraten die Regierung.

Ein weiteres Beispiel ist die Gründung eines eigenen Think-Tanks durch den Bundesnachrichtendienst. Es ist höchst problematisch, wenn Sozialwissenschaftler ihre Forschung vorwiegend unter dem Aspekt der Sicherheit betreiben. Dies trägt zur Einseitigkeit der Analysen bei und verstärkt letztlich das vorherrschende Bild vom Islam als Bedrohung der europäischen/westlichen Gesellschaften und Interessen.

Darüber hinaus ist es schwer vorstellbar, dass sich junge Muslime in ihren europäischen Heimatländern nicht diskriminiert fühlen, wenn sie ständig von der Polizei überwacht, erzogen und misstraut werden.

Verschärfende Faktoren

Der Aufstieg des IS in den Jahren 2014/15 hat diesen Trend noch verschärft. Es mag zwar notwendig sein, dass westliche Regierungen die Entwicklungen im Ausland im Auge behalten und Bildungsprogramme für jene europäischen Jugendlichen entwickeln, die dem Ruf des globalen Dschihad – vor allem in Syrien und im Irak – blindlings folgen und dann in ihre Heimat zurückkehren, aber Umfang und Ausrichtung dieser Programme und der entsprechenden Medienberichterstattung entsprechen nicht den tatsächlichen Bedrohungen, denen Deutschland oder Europa insgesamt ausgesetzt sind.

Die meisten Opfer der völkermörderischen Gewalt des IS sind Nicht-Europäer in Syrien und im Irak, und die Terrorgruppe konnte nur durch den sogenannten Krieg gegen den Terror und die Zerstörung des irakischen Staates entstehen. Gleichzeitig hat Deutschland kein Problem damit, sich bei regionalen Golfdiktatoren oder dem ägyptischen Autokraten Abdel Fattah el-Sisi einzuschmeicheln, der für eines der schlimmsten Massaker an unbewaffneten Demonstranten und Anhängern der Muslimbruderschaft der letzten Jahrzehnte verantwortlich ist. Es scheint, dass Menschenrechtsverletzungen nur dann zählen, wenn sie nicht mit politischen Interessen kollidieren.

Ganz offensichtlich ist der Kampf gegen den „politischen Islam“ in vielen Fällen ein Kampf gegen den Islam und die muslimischen Gemeinschaften selbst

Zurück zur Innenpolitik: Deutschlands Regierungsbündnis hat kürzlich ein Papier veröffentlicht, in dem zum „Kampf gegen den politischen Islamismus“ (sic) aufgerufen wird – ein weiteres Beispiel dafür, wie unscharf der Begriff in der deutschen Politik ist. Das Papier beschreibt den „politischen Islamismus“ als eine „umfassende Ideologie und politisierte Religion, die das tägliche Leben von Muslimen entlang der Kategorien halal und haram vorschreibt und regelt“.

In dieser Perspektive sind grundlegende islamische Vorschriften, wie der Verzicht auf Schweinefleisch, also ein Zeichen des politischen Islam. Der Hauptautor des Papiers, der Bundestagsabgeordnete und Hardliner Christoph de Vries, sagte in einer Parlamentsdebatte im vergangenen Januar, dass „Islamophobie in Deutschland nicht existiert… es ist ein konstruierter Begriff von Rassismus“, der nur den Interessen der Befürworter und Führer des politischen Islam dient.

Verheerende Botschaft

Zwei Monate nach der Veröffentlichung des Papiers richtete das deutsche Innenministerium einen Sachverständigenrat für politischen Islamismus ein, der einen Aktionsplan gegen Ideologien entwickeln soll, die keine Gewalt befürworten, „aber als Bedrohung für die Werte unseres Landes identifiziert werden… Der Rat ist somit ein weiterer Teil unseres übergreifenden Ansatzes zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus.“

Das ist fast identisch mit der Sprache, die Kurz in Österreich verwendet hat, und es ist eine Warnung an alle deutschen Muslime, dass ihre Anwesenheit im Lande keineswegs etwas Selbstverständliches ist. Im Gegenteil: Es scheint, dass die deutsche Regierung langsam den Weg einschlägt, den Österreich mit der Einrichtung eines Dokumentationszentrums für den politischen Islam eingeschlagen hat. Dieses Zentrum verbreitet dubiose Theorien über die Muslimbruderschaft in Europa und sorgte für einen Aufschrei, als es im Mai eine so genannte Islamkarte veröffentlichte, auf der alle Moscheen des Landes eingezeichnet waren.

Ganz offensichtlich ist der Kampf gegen den „politischen Islam“ in vielen Fällen ein Kampf gegen den Islam und die muslimischen Gemeinschaften selbst. Angesichts der zunehmenden Angriffe auf deutsche muslimische Gemeinden ist dies eine verheerende Botschaft der politischen Eliten an die Muslime – und ein Verrat an ihren eigenen liberalen Idealen. Übersetzt mit Deepl.com

Imad Mustafa lehrt und forscht am Lehrstuhl für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Erfurt, Deutschland. Seine Forschungsinteressen konzentrieren sich auf Nordafrika und Westasien, den politischen Islam und antimuslimischen Rassismus in Deutschland. Sein neuestes Buch trägt den Titel „Revolution und defekte Transformation in Ägypten“. Er twittert @imadmustafa_

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