„Weder Israels, noch Deutschlands Abrutschen in den Faschismus war zufällig“ Von Jochen Mitschka NRhZ

„Weder Israels, noch Deutschlands Abrutschen in den Faschismus war zufällig“
Faschismus, Deutschland und Israel (Teil 1)
Von Jochen Mitschka

Ein Artikel in Haaretz vom 6. Juni 2019 mit dem Titel „Weder Israels, noch Deutschlands Abrutschen in den Faschismus war zufällig“ erklärt, dass weder das Abrutschen Israels in den Faschismus noch das Deutschlands im so genannten Nationalsozialismus aus Versehen passiert wäre. Nun wird immer wieder behauptet, jeder Vergleich zwischen der Entstehung des Faschismus in Deutschland und der Entwicklung in Israel wäre Antisemitismus. In Australien hatte dies im Prinzip den Ausschlag für die Entlassung von Professor Tim Anderson gegeben. In Deutschland wird jede Diskussion darüber sofort mit der Antisemitismuskeule abgewürgt. Nun wird diese Behauptung durch eine offizielle israelische wissenschaftliche Analyse, welche in diesem Artikel dargelegt wird, widerlegt. Als ich eine Übersetzung des Artikels einer deutschen alternativen Internetseite anbot, lehnte sie ab. Das Thema wäre für Deutsche unangemessen zu besprechen, hieß es sinngemäß. Ich bin nicht dieser Meinung, weil ich glaube, dass gerade Deutschland mit seiner Geschichte bereit sein muss, über Faschismus und seine Ausprägungen oder die Gefahr seines Entstehens, zu diskutieren. Dieses Essay will die in der israelischen Gesellschaft stattfindende Diskussion über den Faschismus beleuchten. Die Ablehnung – selbst progressiver deutscher Internetseiten – das Thema zu besprechen, beweist, wie sehr auch Deutschland schon in zwanghaften Konformismus abgerutscht ist und wie sehr die unselige BDS-Entscheidung der Bundestagsabgeordneten vom 17. Mai 2019 die Freiheit einschränkt, öffentlich seine Meinung zu sagen, und wie stark die Lobby Israels auf die deutsche Politik wirkt, mit dem Ziel, jede auch nur mögliche Kritik gegen Israels Politik kritisch zu beleuchten.

Das drohende Abgleiten Israels in den Faschismus

Der zionistische Versuch, eine säkular-nationale Bewegung auf der jüdischen Identität aufzubauen, hätte nicht anders gekonnt, als eine religiöse messianische Komponente zu entwickeln. Von daher wäre es unvermeidlich gewesen, dass sich ein Rassismus entwickelte. Der Autor Yoav Rinon ist außerordentlicher Professor für vergleichende Literatur und der Klassik an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Der Artikel basiert auf einem Forschungsprojekt mit dem Namen „Fragen der Identität“, das vom israelischen Wissenschaftsrat finanziert worden war.

    • „Nur wenige würden leugnen, dass die moderne deutsche Identität eine zentrale Rolle bei der Formulierung der jüdisch-israelischen Identität gespielt hat, insbesondere im Hinblick auf den Holocaust und seine entscheidenden Auswirkungen auf die Vergangenheit der beiden Völker. Doch der Holocaust, so kritisch er auch für die Gestaltung der beiden Identitäten sein mag, ist nur Teil eines komplexeren Prozesses, der Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts begann, als die Übereinstimmung zwischen dem Aufbau der beiden modernen nationalen Identitäten sehr auffällig wurde; er setzt sich in der Gegenwart fort, wenn der Holocaust ein wichtiger Bestandteil der gegenwärtigen jüdisch-israelischen Identität bleibt; er projiziert auch in die Zukunft.

 

    • Die Gestaltung der deutschen nationalen Identität begann in einer Zeit, in der es weder einen Nationalstaat noch eine geeignete politische Ordnung gab, um nationalistische Gefühle unter den Menschen in den verschiedenen Ländern des heutigen Deutschland zu kanalisieren und einzudämmen. Die Vorstellungskraft füllte das Vakuum, das in der Realität existierte, und die Literatur (insbesondere die Poesie) und die Philosophie und nicht die Politik rückten in den Vordergrund.

 

    Einige Jahrzehnte später, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, begann sich – in einem ähnlichen Kontext, in dem weder ein Nationalstaat noch eine geeignete politische Ordnung zur Kanalisierung und Eindämmung nationalistischer Gefühle existierte – eine weitere neue nationale Identität zu entwickeln 1, die schließlich zur Schaffung eines jüdischen Staates im obligatorischen Palästina führte.“ (2)

Der Autor des Artikels, Yoav Rinon, stellt dann die auffallenden Ähnlichkeiten der beiden Identitäten fest. Jedoch drehe sich im Gegensatz zur deutschen Identität, (die einen starken nationalen Fokus gehabt hätte,) die sich entwickelnde jüdische Identität nicht weniger um das Religiöse als um das Nationale. Tatsächlich wären die beiden Komponenten von Anfang an verbunden gewesen, aber die religiöse Geschichte, die fast 2.000 Jahre lang als Grundstein der jüdischen Identität gedient hätte, wäre problematisch geworden. Und die Suche nach einem Ersatz hätte dann den Nationalismus geboren.

Zunächst schien es, so der Autor, als könnten die nationalen und religiösen Identitäten des „neuen Juden“ voneinander getrennt werden. Mose Mendelssohn behauptete demnach, dass Nationalismus und Judentum zu zwei völlig getrennten Bereichen gehörten. Judah Leib Gordon formulierte dieses Ideal in seinem hebräischen Gedicht „Awake, My People“ („Hakitzah Ami“) prägnant: „Sei ein Mann auf der Straße und ein Jude zu Hause.“ Leider wäre diese sehr schöne Lösung zum Scheitern verurteilt gewesen, nicht weil die Juden nicht hartnäckig gewesen wären – sie waren äußerst begeistert von der spannenden Option, gleichberechtigte Bürger in den westeuropäischen Ländern zu werden, auch um den Preis des Verlustes ihrer jüdischen Identität –, sondern wegen des unerbittlichen äußeren Widerstands, auf den sie bei dem Versuch, ihre Identität umzugestalten, gestoßen wären.

Rinon wollte es dann noch prägnanter erklären. Er sagt, dass ein starker und tief verwurzelter Antisemitismus in ganz Europa vehement jede Initiative zur jüdischen Neudefinition verhindert hätte. In diesem Zusammenhang wäre die Dreyfus-Affäre ein Wendepunkt gewesen, die bewiesen hätte, dass die überwiegende Mehrheit des französischen Volkes die Juden in erster Linie als Juden und erst in zweiter Linie – wenn überhaupt – als Franzosen wahrnahm; sie hätten die Juden zunächst und eindeutig zu ihrem eigenen Stamm und erst dann – wenn überhaupt – zu dem Land, in dem sie lebten, gehörend angesehen. Eine solche Ansicht deutete seiner Meinung nach eindeutig darauf hin, dass der Patriotismus der Juden fragwürdig und schlimmer wäre, dass zumindest potenziell alle Juden Verräter in den Augen der Franzosen waren. Die Dreyfus-Affäre wäre nur in Bezug auf ihren positiven Ausgang eine Ausnahme gewesen: die Wiederaufnahme des Prozesses und die Aufdeckung aller Anklagen gegen den wegen Verrats verurteilten jüdischen Militäroffizier als falsch. Aber die antisemitischen Wurzeln wären damit nicht berührt gewesen.

Diese bittere Erfahrung hätte jedoch diejenigen nicht abgeschreckt, die eine nationale Lösung für das Problem der jüdischen Identität angestrebt hatten, sondern sie hätten sogar noch größere Anstrengungen in ihre neue Selbstgestaltung investiert.

Anstatt die Verbindung zwischen Identität und Nationalismus aufzugeben, strebten diejenigen, die den „neuen Juden“ prägten, nach einer nationalen Identität auf weltlicher und nicht auf religiöser Basis, erklärt der Artikel. Darüber hinaus hätten sie sich die nationale Verwirklichung dieser Identität in einem völlig neuen Ort vorgestellt: Zion. Die neuen Juden schlugen nun ein zukünftiges Land in Asien als nationalen Ersatz für ihre derzeitigen Heimatländer in Europa vor, von denen sie abgelehnt worden waren. Doch in diese Lösung war eine zukünftige Katastrophe eingebettet.

Der Hauptfehler in der Strategie, auf Zion zu schauen, um die Verschmelzung von Säkularem und Nationalem zu verwirklichen, läge in der Art der Handlung selbst, die viel mehr als eine geografische Verschiebung wäre. Das aufklärerische Ideal, das den zionistischen Vorfahren als Leuchtturm diente, nachdem eine neue jüdische Identität auf weltlicher Basis geschaffen werden konnte, basierte auf einer absoluten Trennung zwischen dem privaten und dem nationalen Bereich. Dieses Ideal könnte verwirklicht werden, wenn und nur wenn der Nationale nichts mit dem Religiösen zu tun hätte, erklärt der Autor. Der Appell des Zionismus an einen neuen Staat für die Juden, der eine Lösung des jüdischen Problems durch einen jüdischen Staat vorsieht, impliziere jedoch genau das Gegenteil des aufklärerischen Ideals: Es ist nicht die Verschmelzung von nationalem und weltlichem, sondern die Verschmelzung von nationalem und religiösem.

Zweifellos wären sich die zionistischen Vorfahren der Probleme bewusst gewesen, die die jüdische Komponente bei der Bildung einer neuen weltlichen Identität aufgewiesen hätte, an der sie so unermüdlich arbeiteten, aber sie ignorierten definitiv nicht die jüdisch-religiöse Komponente. Ganz im Gegenteil: Als sie wahrnahmen, wie konstruktiv diese Komponente für die Gestaltung der neuen jüdischen Identität war, nutzten sie sie fruchtbar für ihre eigenen Zwecke.

Rinon schreibt in dem Artikel, dass sie zwei Strategien wählten, um der Herausforderung der religiösen Komponente zu begegnen. Einerseits den streng religiösen Aspekt unterdrückten und andererseits die messianische Komponente für sich nutzten. Ein hervorragendes Beispiel für diese Strategie wäre der Name „Bilu“, der von der protozionistischen Bewegung gewählt worden wäre, deren Vision in der ersten jüdischen Siedlungswelle (der ersten Alija) in den 1880er Jahren verkörpert wurde. „Bilu“ ist ein hebräisches Akronym, das auf Jesaja 2:5 basiert: „Beit Yaakov lekhu venelkha“ (O Haus Jakob! Komm, lass uns gehen). Aber das wäre nicht der ganze Vers, der mit den Worten „im Lichte des Herrn“ endet und dazu dient, den ganzen Satz zu kontextualisieren und ihm eine religiöse Bedeutung zu geben.

Die Verse vor demjenigen, der als Quelle für das Akronym Bilu dient, erklärt der Autor, bilden die so genannte „Vision vom Ende der Tage“ (Jesaja 2,1-4), in der Zion-Jerusalem als Weltzentrum der Gerechtigkeit vorgesehen ist, dessen geographischer und geistiger Omphalos (3) der Tempel ist.

Als die nationale Ideologie im 19. Jahrhundert formuliert wurde, wäre diese biblische Vision als rein messianisch verstanden worden: Der Tempel war fast zwei Jahrtausende früher zerstört worden, und die religiöse Tradition stellte sich vor, dass ihr Wiederaufbau auf das Ende der Tage – also auf die messianische Ära – verschoben wurde. Die zionistische Idee der Reinkarnation der jüdischen Nation in naher Zukunft basiere daher sowohl auf ihrer starken Bindung an die jüdische Nation der Vergangenheit als auch auf ihrer ebenso starken Bindung an die utopische, messianisch-religiöse Vision der jüdischen Nation am Ende der Tage.

Im Nachhinein müsse man die Genialität der Übernahme des Messianischen in die weltliche zionistische Vision zustimmen: Ohne die unglaubliche Energie, die durch die messianische Komponente erzeugt wird, gäbe es keinen Staat Israel und nach Meinung des Autors auch keine wirkliche Antwort auf den Antisemitismus und seine tödlichen Erscheinungsformen. Dies bedeute natürlich nicht, dass eine solche Nutzung den Preis nicht genau bestimmt hätte. Dieser Preis wäre erwartungsgemäß zu einer der größten Gefahren für das heutige Israel geworden und drohe, das zionistische Projekt in seiner Gesamtheit zu vernichten.

Seit Beginn der zionistischen Bewegung wäre die Beschäftigung der religiös-messianischen Komponente mit einer doppelten Problematik verbunden gewesen. Einerseits, weil der der religiös-messianische Teil während des Aufbaus der neuen jüdischen Identität unterdrückt werden musste, wurde die messianische Komponente der zionistischen Bewegung als weltlich dargestellt. Andererseits bedeutete die Betrachtung der Staatsgründung Israels als eine Erkenntnis des Messianischen eine Überschreitung der Grenze, die das Metaphysische vom Physischen trennte und, noch schädlicher, diesem Akt einen positiven Wert beimaß. Beide wären von Anfang an explosiv in ihrer möglichen Auswirkung gewesen, da sich jeder von ihnen gegenseitig kultivierte und ernährte: Der positive Wert, der der Überschreitung zugeschrieben wird, beruht auf religiöser Rechtfertigung, und die religiös-messianische Komponente gewinne an Kraft und Einfluss, je mehr sie durch Überschreitungen der Grenze zwischen Metaphysischem und Physischem realisiert würde.

Als die zionistische Bewegung noch jung gewesen wäre, so der Autor, schien der immense Tribut, der für die messianische Überschreitung zu zahlen war, in ferner Zukunft zu liegen. Diese einst ferne Zukunft ist jedoch unsere Gegenwart. Dieser messianische Nationalismus hätte bereits etwas verursacht – und wie erfolgreich! – einige seiner giftigsten Wirkungen durch widerspenstige und kompromisslose Nutzung religiöser Rechtfertigungen für das Böse.

    • „Beachten Sie, dass die spezifische Kombination von bösem und religiösem Messianismus alles andere als zufällig ist. Schlimmer noch, es wird konzeptualisiert und, wie in Kant, als ethisch-kategorischer Imperativ präsentiert. Niemand bewies diesen Punkt deutlicher als Gershom Scholem, der in seinem Artikel ‚Erlösung durch die Sünde‘ von 1936 die direkte Verbindung zwischen der Bewegung von Sabbatai Zevi und der modernen jüdischen Identität von der Aufklärung an herstellte und zeigte, wie das Böse in ein moralisch gerechtfertigtes Phänomen umgewandelt wurde.

 

    Scholem deutete in einem anderen Zusammenhang auch an, dass die Konvergenz von Nationalismus und messianisch-religiösem Judentum nur jüdischen Fundamentalismus hervorbringen kann, der nichts anderes ist als eine Form der Barbarei, die scheinbar im Namen, aber tatsächlich unter dem Deckmantel der jüdischen Religion betrieben wird. Diese Barbarei ist längst zum Bestandteil des Hier und Jetzt des heutigen Israel geworden, und ihre Verwirklichung wird von allen verbindlichen religiösen Rechtfertigungen begleitet: Der jüdische Fundamentalismus diente als ethische Grundlage für die Entführung und Verbrennung des 16-jährigen palästinensischen Mohammed Abu Khdeir im Jahr 2014; der jüdische Fundamentalismus diente auch als ethische Grundlage für das Werfen einer Brandbombe in das Haus der Familie Dawabsheh im Westjordanland, ein Jahr später, das Reham und Saad Dawabsheh und ihr 18 Monate altes Baby Ali Saad verbrannte. Zweifellos ist es beängstigend zu sehen, wie die Schrecken, die das Opfer des Holocaust erlitten hat, jetzt in Richtung neuer Übel gelenkt werden, die auf der Verwandlung des ehemaligen Opfers in den heutigen Täter basieren.“ (4)

Doch man müsse zugeben, meint der Autor, dass es kaum verwunderlich wäre: Ein misshandeltes Kind würde oft zu einem misshandelnden Elternteil; was auf der persönlichen Ebene gilt, gälte eben auch auf der nationalen Ebene. Zwar ist die unmenschliche Nutzung der Religion als moralische Rechtfertigung des reinen Bösen weder neu noch selten; ihr grässliches Auftreten in einem Zustand, der als moralische Antwort auf das unvorstellbare Übel des Nationalsozialismus gegründet wurde. Dieser ist jedoch zutiefst beunruhigend. Damit kam der Autor dann auf die Parallelen zwischen jüdisch-israelischer Identität und deutscher Identität zurück.

Als Ideologie wäre der Nationalsozialismus ein atheistisches Phänomen gewesen, und dies nicht ohne Grund. Das religiöse Vakuum, das die Nazis selbst so heftig schufen, diente als Tabula rasa, auf der sie ihre eigene Version heidnischer Mythen und ihrer Symbolik eintragen konnten. Damit war der Weg frei für die Stärkung und Gestaltung der deutschen Identität auf der Grundlage der Rasse, die wiederum als Legitimation für die Liquidation von Personen außerhalb der rassischen und rassistischen Definition dieser besonderen deutschen Identität diente.

Der Fall der jüdisch-israelischen Identität wäre natürlich unterschiedlich, was die religiöse Komponente betrifft, aber ähnlich in Bezug auf die hier hergestellte Verbindung zwischen Rasse und Rassismus. Darüber hinaus wäre in diesem Fall die Ähnlichkeit zwischen den beiden Identitäten kein Zufallsergebnis, sondern ein transparentes Beispiel für Ursache und Wirkung.

Untergang in Rassismus

Unter der Überschrift: „Untergang in Rassismus“ fährt der Autor fort. Die Essenz der jüdisch-israelischen Identität wäre anfällig für die Degeneration zum Rassismus, vor allem wegen ihrer tief verwurzelten Basis in rassischen Überzeugungen. Die jüdisch-israelische Identität wäre im Wesentlichen und zwangsläufig eine rassische. Dies als Antwort, zuerst auf den Antisemitismus und dann auf den Holocaust. Sie wurde sie bewusst auf rassischer Basis formuliert, um jeden Juden, allein aufgrund seiner Rassenzugehörigkeit zum Judentum, in die nationale israelische Identität einzubeziehen. Darüber hinaus wäre diese rassisch jüdisch-israelische Identität bewusst als Spiegelbild der antisemitischen und später nationalsozialistischen Judenauffassung konzipiert worden, die jeden Juden von jeglicher nationalen Identität ausschließen sollte. Die Durchsetzung dieses Ausschlusses durch die Nationalsozialisten als erster Schritt – geplant zur vollständigen Vernichtung der Juden – machte es notwendig, dass man eine entgegengesetzte und widersprüchliche jüdische Identität erschuf, von der Leben und Tod abhängt. Diese jüdische Identität wäre notwendigerweise auf einmal sowohl das völlige Gegenteil als auch das Gleiche wie die von den Nazis geschaffene Identität des Juden: Das genaue Gegenteil – denn es öffnete die genau die Tür, die die Nazis geschlossen hatten, und das gleiche – denn es basierte auf genau dem gleichen Fundament, der gleichen Rasse.

Konzeptionell wäre der rassistische Ansatz das Ergebnis einer stumpfen Konvergenz zwischen Identität als wesentlicher Charakterisierung einer Person oder Gruppe und der so genannten Identitätsformel: A = A gewesen. Der Satz „Ein Jude ist ein Jude“ wäre absolut identisch mit der Identitätsformel A = A geworden, wobei man anstelle von „A“ das Wort „Jude“ setzte. Aus rassistischer Sicht symbolisiere das eine Wort „Jude“ die jüdische Identität in ihrer Gesamtheit. Außerdem brauche man nicht mehr als ein Wort, denn das Wort „Jude“ wäre völlig transparent und absolut zugleich: Es gelänge ihm, die gesamte Essenz der Person, die sie charakterisiert, zu erfassen. Indem die rassistische Formel die Unterschiede zwischen Millionen von Juden ignoriere, gelänge es ihr, sie alle auf etwas zu reduzieren, das nicht nur unmenschlich, sondern weniger als ein Objekt ist: Alle Juden würden zu einem „Juden“, zu einer abstrakten Komponente in einer mathematischen Formel, bei der jede Komponente völlig identisch mit einer anderen wäre.

Das, so der Autor, wäre genau das Prinzip, nach dem die rassistische Identifikation funktioniere: Die Unterschiede sind irrelevant, und zwar so sehr, dass sie einfach nicht existieren. Alles, was existiert, ist die absolute Überlappung zwischen der Identität, die die Essenz repräsentiere: Ein Jude ist ein Jude auf der einen Seite und die Identitätsformel „Ein Jude = Ein Jude“ auf der anderen Seite. Kurz gesagt, alle Juden sind in ihrer Essenz identisch. Die ultimative praktische Implikation dieser Konzeption wäre die Vernichtung gewesen.

So weist der Autor darauf hin, dass der Zionismus nicht umhin konnte, genau die gleiche Überschneidung zwischen den beiden Identitätsdefinitionen anzunehmen – in dem Versuch, das Leben der Menschen in der Gruppe zu retten, die somit für Mord bestimmt war. Doch die moralische Rechtfertigung für diese Überschneidung hebe die damit verbundenen Probleme nicht auf: nämlich die Gefahr, dass die Rassenvorstellung zu Rassismus verkommt. Diese Gefahr bestand immer und wird auch weiterhin bestehen – meint der Autor – und zwar nicht nur deshalb, weil die auf der Rasse beruhende Identität in ihr enthalten sein muss, inhärent dieses Gift.

Die Gefahr, Identität auf der Grundlage der Überschneidung von Identität als Repräsentation von Wesen und Identitätsformel zu definieren, ergäbe sich aus einer zweischneidigen Annahme: Einerseits gehöre derjenige, der „in“ ist, ganz dazu, während derjenige, der nicht „in“ ist, ganz und gar nicht dazu gehöre. Die Definition der jüdisch-israelischen Identität mache nicht nur alle Juden zu einer Masse, deren Komponenteneinheiten absolut identisch sind; sie verwandelten auch diejenigen, die nicht jüdisch-israelisch sind, nämlich diejenigen, die als palästinensisch-israelisch definiert sind, in eine Masse, deren Partikel absolut identisch wären.

Auch hier wäre eine deutliche Parallele zwischen der jüdisch-israelischen und der deutschen Identität [gemeint ist die von Nazi-Deutschland] zu erkennen – nicht nur in Bezug auf die Degeneration von ihnen beiden zum Faschismus. Sondern auch in Bezug auf Herkunft und Motiv dieser Degeneration. Einer der wichtigsten Formulierer der deutschen nationalen Identität war Johann Gottlieb Fichte, der in seinem Buch „The Science of Knowledge“ (1794) die eigene Identität auf doppelter Basis definierte: das „Ich“ und das „Nicht-ich“. Fichte behauptete – leider mit großer Genauigkeit –, dass wir uns sowohl auf der Grundlage dessen, was jeder von uns als sein „Ich“ wahrnimmt, nämlich auf der Grundlage dessen, was mich auf der Ebene der Essenz charakterisiert, als auch auf der Grundlage dessen, was wir als das wahrnehmen, was im Wesentlichen „Nicht Ich“ ist: nämlich das, was meinem Wesen im Wesentlichen fremd ist. Diese Vorstellung hätten weitreichende Auswirkungen auf diejenigen, die zur Gruppe der „Not-I“ gehören, erklärt Professor Yoav Rinon, denn wer nicht zu der Kategorie gehört, zu der ich gehöre, würde schnell zu einem existentiellen Risiko für meine eigene Identität.

    • „Fichte, der seine Rolle in der Geschichte als identisch mit der Jesu empfand, hatte einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Philosophie und des deutschen Nationalismus, und der Vergleich zwischen seiner eigenen Philosophie und den vier Evangelien fand ein äußerst empfängliches Publikum. Und das nicht nur im 19. Jahrhundert: Martin Heidegger, nahm in seiner Antrittsvorlesung als Rektor an der Universität Freiburg – eine Position, in die er unter dem Regime seines geliebten Führers als Mitglied der Nazi-Partei berufen wurde – immer wieder auf Fichte in seinem Vortrag Bezug. Immer wieder konzentrierte er sich auch auf Konzepte wie Krise, Nation und Führung, die Fichte in seinem nationalistischen Text ‚Adressen an die deutsche Nation‘ betonte.

 

    • Das Obige zeigt ganz deutlich, dass die Degeneration der deutschen Identität des Nationalsozialismus weder ein Unfall noch ein Fehler war. Die Samen waren von Anfang an da, und man kann sie bereits in den ersten Phasen der Gestaltung der deutschen Identität erkennen. Angesichts der wesentlichen Ähnlichkeiten zwischen der deutschen Identität und der jüdisch-israelischen Identität entlang ihrer verschiedenen Bauphasen können wir zu dem Schluss kommen, dass wir dem gleichen Abstieg entgegenrutschen, was aus genau den gleichen Gründen zum gleichen Abgrund von Rassismus und Faschismus führt.

 

    Es wäre ein Fehler, diese Degeneration als ein notwendiges, geschweige denn unvermeidliches Übel zu betrachten. Es ist die Verwirklichung nur eines Potentials, wie zentral auch immer es sein mag, der Identität im nationalen Kontext. Es ist weder vom Himmel noch von einem göttlichen Gesetz bestimmt. Es ist eine Wahl, und eine, die geändert werden sollte. (…)“ (5)

Deutschlands Verantwortung

Deutsche Politiker reden immer von der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel. Aber sie unterstützen dieses Abgleiten in den Faschismus mit einer stoischen Ruhe. Ja, sie bekämpfen jede Bewegung, die sich dagegen wendet. Deutsche Politiker verleumden Menschenrechtler und Organisationen wie die BDS-Bewegung. Sie unterbinden jede Diskussion und Kritik über Taten und Entwicklungen in Israel, die nicht von der rechtsextremen politischen Richtung der israelischen Politik genehmigt ist. Sie wiederholen einfach Propaganda des Zionismus, weil das zur Staatsräson erklärt worden war. Als Vertreter des deutschen Volkes laden sie deshalb erneut Schuld auf sich und auf das ganze Land. Es ist höchste Zeit, das zu ändern.

Anmerkung: Dieser Text ist der erste Teil eines fünfteiligen Essays, der in den folgenden Ausgaben der NRhZ fortgesetzt wird. Nachfolgend das Inhaltsverzeichnis des kompletten Essays.

Inhalt

Teil 1: Das drohende Abgleiten Israels in den Faschismus

Untergang in Rassismus
Deutschlands Verantwortung

Teil 2: EINWÄNDE (1)
Wie kannst du nur
Es gibt keine deutsche Identität!
Jüdische Identität
Überlegenheit der Rasse
Palästinenser sind Sklaven?

Teil 3: EINWÄNDE (2)
Rassismus bei Eheschließung
Rassismus wegen Hautfarbe
EU nennt es Institutionalisierte Rassentrennung
DNA-Screening
Keine Einzelfälle
Diskriminierung aus Rassenhass

Teil 4: Israel zeigt nicht alle Merkmale von Faschismus
Opferzahlen nicht vergleichbar
Kriege nicht vergleichbar
Juden haben keine Deutschen getötet
Zu wenig Differenzierung
Faschismus und Zionismus?
Gewalt gegen Palästinenser gesellschaftlich akzeptiert

Teil 5: Netanjahu tötet Rest der Demokratie?

Fußnoten:

1 https://www.haaretz.com/israel-news/.premium.MAGAZINE-did-zionist-leaders-actually-aspire-toward-a-jewish-state-1.7308427
2 https://www.haaretz.com/israel-news/.premium.MAGAZINE-neither-israel-s-nor-germany-s-slide-into-fascism-was-accidental-1.7338787
3 https://de.wikipedia.org/wiki/Omphalos
4 https://www.haaretz.com/israel-news/.premium.MAGAZINE-neither-israel-s-nor-germany-s-slide-into-fascism-was-accidental-1.7338787
5 Ebd.

Online-Flyer Nr. 734  vom 05.02.2020

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