Wehrmachtwurzel der Bundeswehr – Teil 2: Atempause nach dem verlorenen Krieg Von Stefan Bollinger

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Wehrmachtwurzel der Bundeswehr – Teil 2: Atempause nach dem verlorenen Krieg

Von Stefan Bollinger

 

Die NVA hat im Unterschied zur Bundeswehr mit der nazistischen Vergangenheit des Soldatentums gebrochen und auf Wehrmacht-Kader weitgehend verzichtet. Warum der Bruch mit Wehrmacht und Nazismus in der Bundesrepublik nicht gelang und welche schwerwiegenden Konsequenzen das noch haben könnte, erklärt der Historiker Stefan Bollinger in seinem zweiteiligen Artikel speziell für RT.
Quelle: Sputnik © Kirill Braga

Den ersten Teil der Abhandlung finden Sie hier.

Es brauchte dennoch 36 Jahre, bis eine Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Jahr 2018 einen neuen Traditionserlass herausbrachte. Auch dies nicht ganz freiwillig, denn im Vorjahr waren einige zu „großzügige“ „private“ Traditionspflegeaktivitäten von Militärs ruchbar geworden. Viele mochten sich nicht daran erinnern, dass die Nazizeit keineswegs Traditionen begründen konnte. Bei dieser Gelegenheit war aber auch zu konstatieren, dass es inzwischen eine andere deutsche Armee, die Nationale Volksarmee der DDR gab, die zwar aufgelöst, aber zumindest in den Köpfen der ostdeutschen Neubürger noch präsent war.

RM der erste Teil 

Die Ministerien machten es sich in bester totalitaristischer Manier einfach. Der Erlass würdigte zwar das Verhalten der NVA in der Wendezeit, aber insgesamt lautete der Kern des Traditionsverständnisses: Weder die Wehrmacht noch die NVA, weder Drittes Reich noch kommunistische Diktatur sind traditionswürdig. Der Blick auf den einzelnen Soldaten dieser Armeen ist, wie bereits zuvor, offen für individuelle Abwägungen. Hier kann es natürlich nicht wundern, dass sich meines Wissens nach bislang kein NVA-Angehöriger in einer Traditionsliste wiederfindet.

Tradition verpflichtet – Armee für den Krieg und für den Frieden

Die Traditionspflege ist letztlich immer mit der Frage verbunden, um was für eine Armee mit welchen Auftrag es geht. Die suggerierte, rein militärische Kompetenz und Exzellenz reicht da nicht aus; auch das Proklamieren demokratischer Werte hilft wenig. Das reale Verhalten der Armee, des zuständigen Staates und des Bündnisses ist entscheidend. Und hier waren für die Bundeswehr von Anbeginn die Weichen gestellt. Insofern ist der „Ausrutscher“ der nun zurückgezogenen „Weisung“ weder der schlechten Phantasie eines weltfremden Generalleutnants geschuldet noch der Schlampigkeit seiner Militärhistoriker.

Es war der durchaus intelligente Versuch, mit scheinbar wenig belasteten Namen eine historische Kontinuität der Soldaten beider Weltkriege und des Kalten Krieges herzustellen. Die 25 aufgelisteten Namen von bewährten alten Kriegern liest sich wie das „Who’s who“ der 1956 keineswegs aus dem Nichts gegründeten Bundeswehr, Bundesluftwaffe und Bundesmarine. Für diese Kader gab es keine Stunde Null im Jahr 1945, sondern schlimmstenfalls eine Atempause nach dem verlorenen Krieg.

Manche privatisierten, andere dienten sich mit ihren Erfahrungen bei den Amerikanern und Briten an. Auch gab es jene, die fast nahtlos und mit ihren alten Mannschaften und Ausrüstungen wieder in den – noch verdeckten – Kampf zogen. Dafür ist der spätere Flottenchef der Bundesmarine, Vizeadmiral Hans-Helmut Klose, ein Paradebeispiel. Als Chef der 2. Schnellboot-Schulflottille kämpfte er noch über den Tag der Kapitulation erfolgreich und hielt „Manneszucht“, was schließlich mehreren seiner Matrosen wegen eigenständiger Kapitulation das Standgericht und noch nach (!) Kriegsende den Tod durch Erschießen einbrachte. Zwar war nicht er der „Gerichtsherr“, aber letztlich mitverantwortlich. Dafür diente er sich umgehend dem britischen MI6 und später der Organisation Gehlen an und operierte mit seinen umgerüsteten Schnellbooten in sowjetischen Gewässern vor der Küste der baltischen Sowjetrepubliken, um Spione und Saboteure (heute würden wir sagen: Terroristen) für den Untergrundkampf gegen den Kommunismus zu transportieren. Für ihn fand sich natürlich ein Plätzchen in der Bundesmarine.

Die USA wollten mit aller Gewalt das gerade erst zu Boden gedrückte Deutschland – nun auch nur zur Hälfte – als Partner für den neuen noch kalten und vielleicht bald heißen Krieg. Deutsches militärisches Know-how, die Erfahrungen der deutschen Rüstungswirtschaft, das deutsche Menschenmaterial mochten sie sich nicht entgehen lassen. Bei den Westdeutschen, mit Kanzler Konrad Adenauer an der Spitze, stießen sie nicht auf taube Ohren. Auch wenn der Kanzler wusste, dass sein halbes deutsches Volk gründlich die Nase vom Krieg voll hatte und nicht wenige, wie der spätere Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß, versprachen, dass ihnen lieber die Hand verdorrten solle, als dass sie je wieder eine Waffe anfassen würden. Aber solche Einsichten hielten damals ebenso wenig wie heute.

Klare Feindbilder ließen Adenauer und die neuen demokratischen Bündnispartner schnell einig werden: Schwamm drüber, die noch einsitzenden Kriegsverbrecher freilassen, die Wirtschaft auch mit den alten Führungskräften wieder ankurbeln und den deutschen Militärs vergeben und ihnen Vertrauen geschenkt. Die Bundeswehr sollte, wie der westdeutsche Staat insgesamt, mit den alten Eliten aufgebaut werden. Wer sonst hätte die Erfahrung und seitens des Militärs oder der Geheimdienste auch hinreichend Erfahrungen mit dem Feind, der im Osten stand (und steht)? Und der Feind ist, egal, ob er sich als Kommunist, als Sozialist oder als Friedenskämpfer verkleidet, der Russe; und ebenso sind es seine Unterstützer. Der von Adenauer eingeforderte Preis für die Westintegration, der bereitwillig gezahlt wurde, war die Anerkennung der deutschen Soldaten, idealerweise nicht nur der Wehrmacht, sondern auch der Waffen-SS.

Auch der andere deutsche Staat stand im Jahr 1945 vor dem Problem, wie er aufgebaut werden sollte, wer die Spezialisten sein konnten und wie er geschützt werden kann. Die Kommunisten und Sozialdemokraten der SED pfiffen auf die Unentbehrlichkeit der alten naziverseuchten Eliten und suchten sich junge, unbelastete Arbeiter, Bauern und Studenten, die in „Schnellbesohlung“ zu Volksrichtern, Volkspolizisten und Volksarmisten gemacht wurden. Und es funktionierte!

Trotzdem griff die DDR auf sowjetischen Rat hin auch auf alte Militärs zurück, wohl um die 500. Diese hatten allerdings aus westdeutscher Sicht einen Makel: Sie waren Deserteure, in sowjetischer Gefangenschaft geläutert; sie hatten sich im Nationalkomitee Freies Deutschland gegen Hitler zusammengeschlossen, betrieben für die Rote Armee Propaganda und kämpften gelegentlich auch im Untergrund. Aus Sicht des westdeutschen Staates waren sie alle, noch mehr als die im ersten Jahrzehnt der BRD geschmähten Männer des 20. Juli, tatsächliche Verräter. Wenn bis heute die angebliche NS-Verstrickung von DDR-Generälen und -Offizieren gerne als Entlastungsargument herangezogen wird – es handelt sich um Lügen und Fälschungen. Einer der bekanntesten Generale war Arno von Lenski: nach Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft geraten, NKFD-Mitglied, mit Todesstrafe in Abwesenheit und Sippenhaft belegt, nun Chef der NVA-Panzertruppe.

Übrigens hat die DDR ab 1957 schrittweise und konsequent diese alten, vorbelasteten, wenn auch nun dem ostdeutschen Staat ergebenen Militärs in den Ruhestand geschickt.

Für die DDR und ihre NVA galten augenscheinlich andere Maximen für eine Armee, die durchaus das Soldatenhandwerk – auch mit sowjetischer Hilfe – erlernte und dabei nicht schlecht war. Die DDR und ihre Streitkräfte bekannten sich zu einer Friedenspolitik und die NVA – wie übrigens auch die Bundeswehr – hat in der Zeit der deutschen Teilung keinen Krieg geführt, was sowohl der DDR-Führung wie auch den bundesdeutschen Regierungen bis hin zu Helmut Kohl hoch anzurechnen ist.

Allem verbalen Waffenklirren und aller Großmäuligkeit mancher Militärs und einiger Politiker zum Trotz – ein Brandt, Schmidt oder Kohl wusste um die Risiken eines Krieges; sie begriffen, dass ein Krieg auf deutschen Boden das Ende der Deutschen bedeuten würde. Nach dem Anschluss der DDR und dem Wiedererstarken Gesamtdeutschlands als Macht mit Anspruch und Potenzial und im Glauben an die wiedererlangte Normalität hat sich das bekanntlich drastisch geändert. Deutschland ist wieder eine Macht, die Krieg führen können und für den Krieg bereit sein will.

Die NVA fühlte sich den sozialen Emanzipationskämpfen der deutschen Geschichte verpflichtet: dem Bauernkrieg, den Befreiungskriegen, der Revolutionen von 1848/49 einschließlich der Badischen Revolutionsarmee, dem Matrosenaufstand von 1917, der Novemberrevolution, den Interbrigadisten im Spanischen Bürgerkrieg, dem antifaschistischen Widerstand.

Die in der Bundeswehr aufsteigenden Militärs haben in all diesen Kämpfen, so sie diese erlebten, auf der anderen Seite gekämpft. Und selbst die in der „Erlass“-Liste als traditionswürdige Militärs Genannten sind – bei Anerkennung ihres loyalen Verhaltens gegenüber der Weimarer Republik und ihrer Ablehnung der Nazi-Führung – nicht unproblematisch. Da ist der langjährige Reichswehrminister Generalleutnant Wilhelm Groener, der durch das von ihm als letztem Generalquartiermeister vermittelte Bündnis Eberts mit den Militärs zur blutigen Niederschlagung wesentlicher Teile der Revolution in den Jahren 1918/19 beitrug. Oder der Oberst Eberhard Wildermuth, der als Führer von Tübinger Zeitfreiwilligenverbänden, also Freikorps, auch gegen linke Aufständische in der Nachrevolutionszeit aktiv war.

Sicher kann und muss allen die Chance, die Möglichkeit eines Gesinnungswandels zugestanden werden. Männer wie Groener und Wildermuth erkannten, wenn auch spät, die Gefahren des Faschismus. Aber es bleibt die Frage, wem sich eine Armee und ihre Offiziere und Generale verpflichten – in ihrer Gesamtheit, aber sicher auch in konkreten Konflikten. Eine Reminiszenz sei noch gestattet. Die Matrosen, die noch nach dem 8. Mai 1945 erschossen wurden, haben ihren Platz in der Traditionsarbeit der NVA und der Volksmarine gefunden und wurden Namensgeber von Schnellbooten. Ihr Schicksal und das Handeln ihrer Vorgesetzten, letztlich von Mördern und deren Helfern, hat das DDR-Fernsehen in den 1970er-Jahren in einem Fünfteiler gewürdigt: Der Film „Rottenknechte“ dokumentiert das Schicksal dieser letzten Weltkriegsopfer ebenso wie den nahtlosen Übergang eines Klose in den neuen Krieg.

Trotzdem, wer kriegstüchtig werden will, braucht die geeigneten Militärs, eine Ideologie und er muss vergessen machen, wofür die ganze Phalanx dieser neuen Helden eingetreten war – gegen Demokratie, gegen die Linke, gegen die Sowjetunion, gegen die antifaschistische Anti-Hitler-Koalition. Denk ich an Deutschlands neue Helden, so bin ich einmal mehr um den Schlaf gebracht.

Über den Autor: Dr. sc. Stefan Bollinger arbeitet zur Geschichte der DDR und der BRD, zur osteuropäischen Ge­schich­te und zu den Zusammenhängen von Ideologie- und Politikgeschichte. Autor vieler Bücher und Publikationen. Sein letztes Buch „Die Russen kommen! Wie umgehen mit dem Ukrainekrieg? Über deutsche Hysterie und deren Ursachen“ erschien im Jahr 2022.  

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