Zwei Nachrichten aus den vergangenen Tagen zeigen, wie ernst die aus der Ukraine-Krise entstandenen Spannungen sind.

Die erste Nachricht: Die Welt am Sonntag, als wollte sie sie zum Waffengang ermutigen, fragt die Bundeskanzlerin: "Würden Sie Krieg führen, Frau Merkel?" So die balkengroße Überschrift eines Interviews (in der Onlineversion sogar "Würden Sie Krieg mit Russland führen, Frau Merkel?). Es ging bloß um das Baltikum, die Kanzlerin wich aus: "Die Frage eines Krieges im Baltikum stellt sich nicht."

Die zweite Nachricht: Mehr als 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien veröffentlichen einen Aufruf zum Dialog mit Russland. Ihr Appell: "Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!"

Initiiert wurde der Aufruf von Horst Teltschik, dem außen- und sicherheitspolitischen Berater des Bundeskanzlers Helmut Kohl; von Walther Stützle, Staatssekretär unter mehreren SPD-Verteidigungsministern, und der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer von den Grünen. Den Text unterzeichneten neben vielen besorgten Promis und Wirtschaftlern weltpolitische Veteranen aus den verschiedensten Parteien, darunter Altbundespräsident Roman Herzog, Klaus von Dohnanyi (SPD), Eberhard Diepgen (CDU), Manfred Stolpe (SPD), Burkhard Hirsch (FDP), Otto Schily (Grüne, dann SPD) und Altbundeskanzler Gerhard Schröder.

Von Helmut Schmidt weiß man, dass er die Sorgen und die Ansichten der Unterzeichner teilt, desgleichen von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Sie befinden sich übrigens in bester Gesellschaft: In Amerika denken Henry Kissinger und Zbigniew Brzeziński keinen Deut anders.

Die Unterzeichner des Aufrufs lassen keinen Zweifel: Die Annexion der Krim war ein Bruch des Völkerrechts. Aber sie erkennen auch, dass der Westen schwere Fehler gemacht hat – so "die für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau". Dabei gehen sie nicht auf Details ein: die beabsichtigte Osterweiterung der Nato um die Ukraine und sogar Georgien (2008 von Berlin verhindert, was die Kanzlerin gegenüber der Welt am Sonntag weiterhin für richtig erklärte). Die Ukraine vor die Alternative zu stellen: entweder prorussisch oder proeuropäisch, und zugleich in das Assoziierungsabkommen (dessen wirtschaftliche Vorkehrungen mittlerweile ausgesetzt worden sind, um vorher vernachlässigte Gespräche mit Moskau zu nachzuholen) so viele sicherheitspolitische Absprachen einzubauen, dass Putin kaum anders konnte, als die Annäherung Kiews an die EU als ökonomisch getarnte Nato-Ausdehnung zu interpretieren. Oder auch die – letztlich nicht verwirklichte – Torheit des Kiewer Parlaments, Russisch als Amtssprache abschaffen zu wollen.

Wohl aber erinnern die Sechzig in ihrem Aufruf daran, dass Ost und West 1990 in der Charta von Paris verabredet haben, ein "Gemeinsames Europäisches Haus" zu errichten, in dem alle Staaten gleiche Sicherheit erfahren. Sie zitieren Richard von Weizsäcker, der als Bundespräsident am 3. Oktober 1990, am Tag der deutschen Einheit, "eine gesamteuropäische Einigung" zum Ziel erklärte. "Ein gewaltiges Ziel", sagte er damals. "Wir können es erreichen, aber wir können es auch verfehlen." Es plagt die Appellanten die Besorgnis, dass wir dieses Ziel verfehlen, wenn wir heute nur Feindbilder aufbauen und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantieren. "Es geht nicht um Putin. Es geht um Europa. Es geht darum, den Menschen wieder die Angst vor dem Krieg zu nehmen." Das aber verlangt, so schreiben sie, der "unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung" endlich Einhalt zu gebieten. Konkret wird der Appell nicht. Aber er fordert zum Nachdenken auf.

Sind Sanktionen – "unvermeidlich" nennt sie die Kanzlerin – wirklich ein geeignetes Mittel? Viel haben sie bisher nicht bewirkt. Erst wenn Russland aus dem internationalen Finanzsystem Swift herausgedrängt würde, hätten sie Wirkung – doch das wäre der totale Wirtschaftskrieg. Wollen wir Russland wirklich in den ökonomischen Ruin treiben?

Die Annexion der Krim wird Putin nicht rückgängig machen, so oder so. Dem Westen bleibt da nur die Verurteilung – und die Nichtanerkennung. Aber deswegen den Draht nach Moskau abreißen lassen? Im Kalten Krieg haben wir die Mauer und den Eisernen Vorhang auch nicht anerkannt, aber trotzdem auf vielen Kanälen über Wichtiges verhandelt. Und mit Moskau wäre auch in unserer turbulenten heutigen Welt vieles zu verhandeln: Iran-Lösung, Einhegung der syrischen und irakischen Wirren, Sicherung des Isaf-Abzugs aus Afghanistan, Rüstungsbegrenzung, Nordkoreas Atomarsenal, Zusammenarbeit im Weltraum (Was, wenn die Russen keine amerikanischen Astronauten mehr in die internationale Raumstation befördern?)

Manch einer mag letztlich auf regime change im Kreml aus sein. Wer kann freilich sagen, ob Putins Nachfolger sich als umgänglicher erweisen würde? Erhöhter Druck würde eher den russischen Nationalismus und Chauvinismus noch weiter entflammen, als dass er Kompromissbereitschaft und Entgegenkommen auslöste. Und würde Moskau noch weiter in Richtung China treiben. Wollen wir das wirklich?

Putin ist mittlerweile vielleicht an einem Punkt angelangt, an dem auch er über Auswege aus dem ukrainischen Schlamassel nachdenkt. Sicher ist das nicht, aber es ist aller Mühe wert, es zu erkunden. Ein für Kiew wie Moskau akzeptables Verfassungsstatut, das die Integrität der Ukraine garantiert und zugleich den Ostukrainern Autonomierechte gewährt, die eine Sezession überflüssig machen, böte solch einen Ausweg.

Zumal dann, wenn es eingebettet würde in einen das ukrainische Problem überwölbenden Ansatz: Verhandlungen über ein positives Verhältnis zwischen der EU und der Eurasischen Union; Wiederaufgreifen der Idee, eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur zu schaffen, in der die Frage einer ukrainischen Nato-Mitgliedschaft hinfällig würde; den weiten Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok zusammenbinden, anstatt ihn aufs Neue auseinanderzudividieren.

Zunächst einmal müsste die gefährliche Sprachlosigkeit überwunden werden, die derzeit zwischen West und Ost herrscht. Telefonate reichen allein nicht aus, den schlafwandlerischen Marsch in die Eskalation aufzuhalten. Die 60 Appellanten haben recht. "Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik für Europa." Und Jakob Augstein hat hoffentlich unrecht, wenn er im Spiegel schreibt: "Für eine Umkehr ist es schon zu spät."