Zwischen Normalität und Unsicherheit: Das russische Gedenken an den „Tag des Sieges“ Von Karin Kneissl 

Zwischen Normalität und Unsicherheit: Das russische Gedenken an den „Tag des Sieges“

Von Karin Kneissl 

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Das gemeinsame Gedenken an die zahlreichen Opfer des Krieges ist den Russen sehr wichtig. Im Westen dagegen wird die Erinnerung zunehmend verwischt und verzerrt. Karin Kneissl beschreibt, wie sich Russland auf den 9. Mai 2023 vorbereitet, und warum über allem ein Schatten liegt.
Zwischen Normalität und Unsicherheit: Das russische Gedenken an den "Tag des Sieges"Quelle: www.globallookpress.com © Alexander Zemlianichenko Jr/XinHua

 

Zweimal fand ich mich – mehr zufällig denn beabsichtigt – inmitten der Menschenmengen, die sich im Gedenken an das Ende des Großen Vaterländischen Krieges am 9. Mai beinahe in ganz Russland auf den Straßen tummeln. Im Mai 2014 besuchte ich erstmals Moskau, und zwei Jahre später folgte dann ein ebenso touristischer Besuch in St. Petersburg. Wenn man diese Stimmung ein wenig erlebt hat, dann weiß man auch, dass sich so etwas nicht verordnen lässt.

Dieses gemeinsame Gedenken an die Toten des „Großen Vaterländischen Kriegs“, mit Fotos ermordeter Verwandter, mit alten Orden, Blumen und Ikonen, ist ein fester Teil im gemeinsamen Jahresablauf. Und kaum ein Land kennt so viele Erinnerungs- und Gedenktage wie Russland. Es gibt dann kein Durchkommen mehr zwischen Familien mit Kinderwägen, älteren Herrschaften, die sich an den Händen halten, um sicherer zu gehen, und Menschen aus gleichsam allen Generationen. Veteranen des Krieges finden sich fast 80 Jahre nach Kriegsende nicht mehr, aber viele teilen Erzählungen aus den Familien, so als wären sie selbst dabei gewesen.

Das gemeinsame Trauma

Der hohe Blutzoll, den Zivilisten und Soldaten der Sowjetunion entrichteten, beträgt um die 24 Millionen Menschenleben. Lange trauten die Behörden sich nicht, diese Opferzahlen zu nennen. Zu tief saß der Schrecken dieses Krieges mit dem Hunger, den Vergewaltigungen und all der Zerstörung den Menschen in den Knochen. Im Empfangsraum des Moskauer Museums, das ebendiesem Krieg gewidmet ist, sind die Zahlen und die Gründe für die politischen Korrekturen nachzulesen.

Schulklassen werden durch das Museum geleitet, anhand von Schaukästen mit filmisch nachgestellten Szenen werden ihnen die wesentlichen Kapitel dieses Krieges erklärt. Weder in Österreich noch in Deutschland wurde meiner Generation (Jahrgang 1965) der Krieg erklärt, denn der Geschichtsunterricht endete oft kurz davor. Den nachfolgenden Generationen wurde dann nurmehr ein Segment des Gesamtgeschehens vermittelt. Ob Befreiung oder Besatzung durch die Rote Armee im Jahr 1945, darüber stritten nicht nur Historiker, sondern Familien – und sie tun es bis heute.

Die bundesdeutsche Geschichtsschreibung und die Politik gingen bald dazu über, den USA das Gros der Dankbarkeit an der Befreiung Europas von den Nazis zu widmen. Über allem schwebte stets der Marshall-Plan, der sich nicht nur für den Wiederaufbau, für die Schaffung eines Absatzmarktes von US-Waren in Westeuropa, sondern auch langfristig als geschicktes Marketing erwies. Denn es war meist der US-Blick auf das Weltgeschehen, das sich durchzusetzen verstand – da konnten noch so viele Europäer gegen den Vietnamkrieg oder die Irak-Invasion demonstrieren.

In den letzten Jahren eignete ich mir autodidaktisch Wissen an, das weder in der Schule noch später je vermittelt wurde, nämlich die Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung der Konzentrationslager und die Ermordung der vielen sowjetischen KZ-Häftlinge. Erst mit Verspätung begriff ich die Bedeutung der Kranzniederlegungen an den Denkmälern zur Erinnerung an all jene, die hierfür ihr Leben gegeben hatten.

Vandalismus an Erinnerungsstätten war leider in Österreich immer wieder der Fall, das Innenministerium für eine bessere Sicherung zu gewinnen, war nicht einfach. Doch besonders unverständlich ist, wenn nun die Berliner Behörden am 9. Mai nur die ukrainischen Flaggen wehen lassen, aber die Fahnen der Sowjetunion und Russlands verbieten. Das hat nichts mehr mit Ignoranz zu tun, sondern ist völlige Geschichtsvergessenheit. Hier wird Geschichte aus dem aktuellen politischen Trend heraus völlig verkehrt.

Ich frage mich seit einigen Jahren, warum und wie wir einander so fremd wurden – trotz all der gemeinsamen Historikerkommissionen, der vielen Konferenzen und Dokumentationen über Krieg und Frieden, trotz all der Freundschaftsgesellschaften und Parlamentarier-Besuche, et cetera.

In Deutschland ist allem Anschein nach niemandem bewusst, was der Einsatz deutscher Panzer im Jahre 2023 aus der russischen Wahrnehmung heraus bedeutet. Bedauerlicherweise ist auch dem aktuellen diplomatischen Corps und der politischen Ebene – die Medien muss man in diesem Zusammenhang ohnehin vergessen – nicht mehr bekannt, was die Leningrader Hungerblockade in den 1.000 Tagen der Vernichtung russischer Zivilbevölkerung durch die deutsche Wehrmacht anrichtete.

Wenn seit bald einem Jahr die Losung der Europäischen Kommission und der 27 EU-Regierung lautet, dass Russland auf dem Schlachtfeld militärisch vernichtet werden muss, dann wird offenbar, wie tief der Karren verfahren ist. Und wie ahistorisch und bar allen politischen Gespürs die Diagnosen in Brüssel sind.

Künstlerische Fiktion eines deutschen Sieges

Der britische Schriftsteller Robert Harris verfasst interessante Romane, die eine Mischung aus historischer Dokumentation und Fiktion sind. Mit seinem Werk „Vaterland“ erregte er im Jahr 1992 großes Aufsehen. Dem Plot zufolge gewinnt Deutschland den Krieg, nur an der Ostfront toben noch Kämpfe mit Partisanen. Der US-Präsident Joseph Kennedy, also der Vater von JFK, reist zu Hitlers 70. Geburtstag im April 1959 nach Berlin, um die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA zu normalisieren. Zu Erinnerung: Kennedy senior war ein großer Bewunderer Hitlers.

Ein solches Buch darf wahrlich nur ein Brite schreiben, in Deutschland fände sich aus Gründen der Wiederbetätigung kein Verlag. Der Roman ist interessant, da der Autor viele Stränge der deutschen Geschichte verwebt, teils etwas sehr fantastisch, aber 30 Jahre später darf man fast sagen, dass sich wenig geändert hat. Manches wiederholt sich vielleicht deswegen in der Geschichte einer Gesellschaft, weil es nicht um Ideologie, sondern um Mentalität geht.

Die kommenden Tage sind geprägt von Anspannung auf allen Ebenen, auf den vielen Schlachtfeldern in der Ukraine und angesichts der Drohnenangriffe auf den Kreml, von der Sorge um Sabotage und terroristische Anschläge. Über allem schwebt die Gerüchteküche rund um die angekündigten ukrainischen Gegenoffensiven, die wiederum von den geleakten Dokumenten aus dem US-Verteidigungsministerium belastet sind. Werden riesige Drohnenschwärme über Osteuropa fliegen? Verliert jemand die Nerven? Oder melden die USA in den nächsten Tagen den Zahlungsausfall an? Immerhin steht die Hälfte der US-Banken vor der Insolvenz und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der US-Notenbank sinkt zunehmend.

Viel kann passieren, und es muss nicht apokalyptisch werden. Doch für jeden Menschen, der das Weltgeschehen mitverfolgt, zeichnet sich ab, dass die Luft sehr dick ist.

Unter diesen Umständen die Gedenkparade zum 9. Mai auf dem Roten Platz in Moskau und vielen anderen russischen Städten abzuhalten, ist eine Herausforderung für die Organisatoren. Noch für das Jahr 2020 hatte Präsident Putin als Gastgeber geplant, die Staatschefs der Kriegsverbündeten, aber auch der Besiegten zum runden Jahrestag einzuladen. Die Pandemie machte dies zunichte. Nun wird am Dienstag die Parade unter ganz anderen Vorzeichen stattfinden.

In Brüssel wird man wie immer mit einer Hommage an den französischen Gründervater der europäischen Einigung, Robert Schuman, gedenken und Reden halten. In Moskau werden auch Reden gehalten, und zeitgleich geht der Krieg weiter, der immer weitere Kreise zieht.

Am 8. Mai 1945 hatte Nazi-Deutschland kapituliert. Im Mai 2023 werden aktuell Panzerschlachten wie damals geführt, Drohnen ferngesteuert, künstliche Intelligenz in der modernen Kriegsführung wird getestet. Und über allem tobt ein weiterer Krieg, nämlich jener zwischen der Finanzwelt und der Energiewirtschaft.

Über diesem 9. Mai 2023 schweben unzählige Unsicherheiten. Aber dass die Gedenkveranstaltung stattfindet, ist wiederum ein Zeichen von Normalität in dieser surrealen Zeit.

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