Intellektualität und sinnliches Erleben                                                   Von  Bernd Weikl

                             Intellektualität und sinnliches Erleben

Von  Bernd Weikl

 

Sinnliche Erlebnisse sind innere Episoden von teils großer Flüchtigkeit, teil anhaltender Bildhaftigkeit und Intensität, die durch sinnliche Reize aus der Außenwelt angeregt werden, indem sie das Tiefengedächtnis mobilisieren. Es wird niemand verwundern, wenn wir sagen, dass Kunst in einem sehr engen Verhältnis zu solchen inneren Episoden steht, denn sie ist auf besondere Weise dazu geschaffen, die Phantasie anzuregen und mit Emotionen aufzuladen. Kunst kann das innere Erleben in Welten entführen, die nicht oder so nicht existieren. Ebenso wenig erstaunlich ist die Feststellung, dass die inneren Vorstellungen von real nicht oder so, nicht existierenden Welten die Vorstufe aller Kreativität bilden.

 

Sind diese inneren Vorstellungen auf das Kunstschaffen gerichtet, dann kann, wenn auch die handwerklichen Voraussetzungen gegeben sind, neue Kunst entstehen oder bekannte Kunstwerke können ein neues episodisches Erleben darbieten, wie das bei den darstellenden Künsten geschieht. Sind diese inneren Phantasiewelten auf ein wissenschaftliches Arbeitsgebiet gerichtet, dann kann, wenn auch hier die handwerklichen Bedingungen gegeben sind, eine neue Erkenntnis oder die Vorstufe davon, etwa eine kühne Hypothese, gebildet werden. Schließlich können angeregte innere Vorstellungen die Erfindungs- und Konstruktionslust eines Menschen anstacheln. Dann sind wir bei jener Form von Kreativität, die auch zu wirtschaftlich nutzbaren Innovationen führen kann.

 

Kreativität hängt also eng von der Verfügbarkeit reichhaltiger episodischer Erlebnisse ab, die aus dem Archiv des Gedächtnisses abgerufen werden können und zu Bausteinen der bewussten Gestaltung und Konstruktion von – zunächst gedanklichen, schließlich aber mit der physischen Ausführung – dinglichen Werken. Das Schaffenspotential eines Menschen ist in seiner Personenwerdung verankert. Deshalb fruchten äußerliche Kreativitätstechniken und ein stimulierendes Ambiente nicht, wenn der innere Reichtum, die Fülle langjähriger Erfahrungen und Erlebnisse, fehlt.

 

Die Betonung des sinnlichen Erlebens als innere Bildwelt zeigt die kognitive Ebene auf, die sowohl beim Kunstschaffen als auch bei der Kunstrezeption aktiviert wird und ohne die hinsichtlich Kunst nichts Rechtes zustande käme. Insbesondere bei den darstellenden Künsten, deren Gestalten uno actu erzeugt und wahrgenommen werden, muss diese Ebene der inneren Hinwendung sich bilden können, etwa während eines Konzertes, eines Liederabends, einer Opernaufführung weil es sonst kaum zur Übertragung der künstlerischen Botschaft kommen kann.

 

Hinwendung gilt für beide Seiten: für den darstellenden Künstler oder das von ihm vorgeführte Kunstobjekt – abweisende, verstörende Kunstwerke oder Vorführungen tun sich allerdings darin schwer – Unverständnis für Kunst verschließt die Empfänglichkeit für das, was Kunst zu bieten hat. Die Empfänglichkeit des Menschen für diese weite, grenzenlose innere Bild- oder Phantasiewelt ist zwar als Potential angeboren, bedarf aber der sorgfältigen Entwicklung, um in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld wirksam zu werden. Das ist eine genuine Bildungsfrage.

 

Die natürliche Empfänglichkeit des Menschen für sinnliche Ansprachen ist die große Falle, in die man gerät, wenn nicht zugleich eine korrespondierende Intellektualität mobilisiert wird. Das gewaltige kommerzielle Getöse der Werbung im öffentlichen Raum und insbesondere in den Medien erreicht sein profanes Ziel dann, wenn die Angesprochenen, die Passanten in der Einkaufspassage oder die Zuschauer vor dem Fernsehgerät, entweder ihr bewusstes Denkens ausschalten (was zum Teil in Werbespots in den vielfältigen Formen von Ablenkung mit eingebaut ist) oder dieses mangels Bildung gar nicht erst zum Zuge kommen kann. Menschen ohne geschulte Intellektualität werden nicht oder nur oberflächlich in der Lage sein, Kunsterlebnisse von werblichen Sinnesreizen zu unterscheiden und zu bewerten.

 

Da Werbung nicht Kunst ist und sein will, benötigt sie für ihre Wirksamkeit keine ausgefeilte und durch Bildung hochgetriebene Intellektualität. Sie ist deshalb auch weder als eine Art öffentlicher Schule der Sinne geeignet, weil Sinnesempfinden intellektuelles Mitgehen und Mitdenken erfordern, um nicht im Irrationalen hängen zu bleiben, noch ist sie mit ihrer meist aufdringlichen Ästhetik so etwas wie die Vorstufe von Kunst. Die permanente Berieselung mit Werbung, verstärkt durch die dingliche Ästhetik des Produktdesigns, wirkt auf die Dauer eher als eine Lähmung der Intellektualität und damit ein Verharren an der Oberflächlichkeit äußerlicher Wahrnehmungen.

 

Die große historische Linie, die – zumindest in der abendländischen Kulturgeschichte – zu einem grundlegenden Wandel von einer vom Emotionalen beherrschten mittelalterlichen Welt hin zur Rationalisierung des menschlichen Verhaltens unter dem Druck der sich verändernden gesellschaftlichen Gegebenheiten hat Norbert Elias in seinem bekannten Werk von 1939 Über den Prozess der Zivilisation ausführlich und materialreich behandelt. Der gezielte (strategisch ausgerichtete) Verstandesgebrauch ist die Grundlage für eine gesteigerte intellektuelle Erfassung der Welt und die Fähigkeit zu geistigen Projektionen, die dem realen, dinglichen Handeln vorausgehen und dieses leiten.

 

Die Erfolge dieses anhaltenden Wandels in Richtung auf wachsenden materiellen Wohlstand und einen hohen Grad an Zivilisation sind sichtbar (womit nicht gesagt sein soll, dass sie in allen Fällen auch vernünftig sind) und haben entsprechend der Rückkoppelungslogik von Erfolgen diesen Prozess weiter verstärkt, allerdings auch erkauft mit einem immer weiter zurückbleibenden Potential an sinnlicher Erlebnisfähigkeit, die im Verbund mit Intellektualität zu (nützlicher) Erfahrung werden kann.

 

Nicht dass die Intellektualisierung von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft die natürlichen Anlagen des Menschen und auch seine diesbezüglichen emotionalen Bedürfnisse einfach zum Verschwinden bringen. Das ist sicher nicht der Fall. Was aber mehr und mehr gelungen ist und sich pragmatisch in der Berufswelt und der allgemeinen Lebenswelt auswirkt, ist die gesteigerte Fähigkeit des Menschen zur Abspaltung von Phasen des kühlen Denkens (im Berufsleben) von den Phasen des Eintauchens in innere und äußere sinnliche Erlebnisse und Episoden, die nur geringe intellektuelle Anforderungen stellen.

 

Die durch entsprechende Bildungsformen erreichte und fast überall auch bevorzugte Beherrschbarkeit von Verstand und Sinnlichkeit – um es auf diese simple Formel zu bringen – hat schon bei Schiller und Kant eine wichtige Rolle gespielt und hat dazu beigetragen, Kunst gänzlich in die Ecke der Emotionalität zu stellen und das Wirtschaftshandeln fern von Emotionalität anzusiedeln. Vereinfacht gesagt: Natur nimmt man mit Hilfe der Kunst wahr (dann ist die sinnliche Empfindsamkeit gefragt) oder mit Hilfe der Wissenschaft (dann ist kognitiver Verstandesgebrauch gefragt und führt zu objektiver Erkenntnis). In dieser hartnäckig bis heute ach wirkenden Zweiteilung ist die Ursache für die wohl nicht mehr aufhebbare Entfremdung von Kunst und Wissenschaft zu suchen. Nun können beide, jede für sich, ihre eigenen Existenzgründe vorbringen.

 

Dennoch hat diese simple Zuordnung einige äußerst problematische Konsequenzen. Ihr Irrtum besteht darin, dass sie sich-selbst wenn sie sich ihrerseits auf rationale Wissenschaft zurückzieht und hermeneutische Herangehensweise nicht akzeptiert – ihren wissenschaftlichen Gegenstandsbereich, nämlich die Wirtschaft, als entemotionalisiert oder entmotionalisierbar (was einer Ideologie gleichkommt) vorstellt.

 

Nicht minder problematisch jedoch ist die Einschätzung der Künste als in die Welt der Emotionen und sinnlichen Erlebnisse eingetaucht und darin ihre wesentliche Rolle suchend und bestimmend. Kunstwerke gleich welcher Art sind eine spezifische Form der ästhetisch verpackten gesellschaftlichen Kommunikation mit narrativen Inhalten und auf der Ebene der Öffnung von sinnlichen Vorstellungswelt im Verhältnis von Kunstpräsentation und Kunstrezeption angesiedelt. Daraus folgt nun keineswegs, dass Kunst sich ausschließlich und ohne jegliche Intellektualität im Reich des Emotionalen bewegt. Das anzunehmen, wäre ein großes Missverständnis.

 

Zunächst unterscheiden wir zwischen der im Denken geschaffenen inneren Vorstellung, etwa die Konstruktion einer Phantasiewelt, und ihrer emotionalen Aufladung. Es kann sein, dass jemand beiläufig oder gezielt eine irreale Bildvorstellung erzeugt, die aber sein Gefühlsleben nicht oder kaum berührt, vielleicht deshalb, weil sie nur wenig Anknüpfungen an Erinnerungen im Tiefengedächtnis findet, die ihrerseits wachgerufen werden, wenn starke Emotionen ins Spiel kommen. Eine starke emotionale Aufladung, beispielsweise die wachgerufenen Erinnerungen an frühere Episoden in Verbindung mit einer musikalischen Sequenz, kann für eine längere Phase nachwirken und einen Zeitraum hoher Kreativität schaffen, in dem ganz andere innere Konstruktionen auftauchen, z. B. ein philosophischer Gedanke oder ein Lösungseinfall für ein technisches Problem.

 

An diesen inneren, im Übrigen ungesteuert auftauchenden und oft sehr rasch wieder verschwindenden Konstruktionen ist der strukturierende, prüfende und schlussfolgernde Verstand notwendigerweise beteiligt, besonders dann, wenn es darum geht, solche Einfälle aus welchen Gründen auch immer festzuhalten, vielleicht um aus ihnen etwas Praktikables zu machen. Das innere Zusammenspiel von Verstand und sinnlich-emotionaler Horizonterweiterung im Denken ist untrennbar und nicht rational planbar und lenkbar. Aber gerade in diesen Leistungen des menschlichen Gehirns finden wir das, was meist etwas oberflächlich als Kreativität bezeichnet wird.

 

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