Wer ist Antisemit? Von Georg Meggle NRhZ

Aktueller Online-Flyer vom 11. September 2019  

Kultur und Wissen
Vortrag bie der Deutsch-Arabischen Gesellschaft (DAG), Berlin, 10.9.2018
Wer ist Antisemit?
Von Georg Meggle

Veranstaltet von der Deutsch-Arabischen Gesellschaft (DAG) hat der Philosoph Prof. Dr. Georg Meggle am 10. September 2019 in Berlin einen Vortrag zum Thema Antisemitismus gehalten. In der Veranstaltungsankündigung heißt es: „Unter den politischen Kampfbegriffen ist neben dem des Terrorismus der des ANTISEMITISMUS einer der wirksamsten. Mit Recht: Die antisemitische Variante der Diskriminierung ist – vor allem mit Blick auf deren Geschichte, mit dem Holocaust als dem extremsten denkbaren Paradigma – die unvergleichbar schlimmste. Entsprechend verwerflich ist folglich der Missbrauch dieses Begriffs. Genau deshalb ist es doppelt wichtig, sich über den Inhalt und die Grenzen dieses Begriffs klar zu sein. Wann ist dessen Verwendung korrekt? Wann wird aus seiner Verwendung purer Rufmord? Eine rationale Diskussion über die verschiedenen Formen des Antizionismus und dessen gewaltsame wie gewaltfreie Varianten setzt Begriffsklarheit in Sachen Antisemitismus bereits voraus. Der derzeitigen Debatte – insbesondere in der pro- und contra BDS-Debatte – scheint diese Klarheit weitgehend zu fehlen. Unser Vorschlag: Wer nicht allein auf verbale Totschlagargumente aus ist, möge mit ein wenig Analytischer Philosophie einen Neuanfang wagen.“ Die NRhZ will diesen Neuanfang wagen und dokumentiert – auch deshalb – die Rede von Prof. Dr. Georg Meggle.

Wer ist Antisemit? Diese Frage ist doppeldeutig. Man kann sie so verstehen, dass sie nach einer Liste verlangt, auf der im Idealfall alle Antisemiten namentlich aufgeführt sind. Man kann sie aber auch (abstrakter) als Definitionsfrage auffassen, d.h., als Frage danach, welche Bedingungen notwendig und zusammengenommen hinreichend sind, um zu Recht auf dieser Liste zu stehen. Diese zweite (abstraktere) Lesart ist ganz klar die grundlegendere. Sie steht im Folgenden daher im Mittelpunkt. Sie wurde, so meine dann in der Diskussion näher auszuführende Einschätzung, bisher sträflich vernachlässigt. Das muss sich ändern.

1. Antisemitische Einstellungen

Also: Genau wann bin ich Antisemit?

Meine Antwort ganz grob: Ein Antisemit ist jemand mit einer antisemitischen Einstellung. Und ich wäre ein manifester Antisemit, wenn sich diese antisemitische Einstellung auch in meinem (körperlichen oder auch verbalen) Verhalten manifestiert – andernfalls wäre ich ein latenter Antisemit.

Das Antisemitismus-Label lässt sich also auf drei verschiedenen Ebenen anbringen: Nämlich auf:

    • Subjekte / Akteure (Individuum, Kollektiv, Institution)
    • Verhaltensweisen
    Einstellungen

Und auf jeder dieser drei Ebenen gibt es entsprechende Diskriminierungs-Parallelen:

    • Subjekt / Akteur: Rassist, Sexist, Nationalist,
    • Verhalten: Rassistisches, Sexistisches, Nationalistisches,
    Einstellung: Rassistische, Sexistische, Nationalistische

In all diesen Fällen ist der jeweilige Begriff der Einstellung der grundlegende. Mit ihm lassen sich die beiden anderen Begriffe definieren; aber nicht umgekehrt.

Der Kern dieses Ansatzes ist also: Antisemitismus = Juden-Diskriminierung. Punkt.

Dasselbe nochmal:

    (AS.E) Antisemitisch ist eine Einstellung genau dann, wenn ihr zufolge ein Jude schon allein deswegen weniger wert sein soll, weil er Jude ist.

Diese Definition stellt den Diskriminierungsaspekt auch beim Antisemitismus – genau wie auch in den entsprechenden Definitionen für Rassismus, Sexismus und Nationalismus – in den Mittelpunkt. Das hat den ganz großen Vorteil, dass genau damit die gemeinsame Quelle ihrer prinzipiellen moralischen Verwerflichkeit herausgestellt wird.

Antisemitisch, rassistisch, nationalistisch, sexistisch etc. – das sind durch die Bank stark wertende Ausdrücke, mit denen wir die betreffenden Akteure, Verhaltensweisen und Einstellungen als moralisch verwerflich verurteilen. Und zwar ohne jede Einschränkung, ohne jedes Wenn- und Aber.

Und dies auch zu Recht. Denn: Für keine dieser Verhaltensweisen oder Einstellungen gibt es (anders als z.B. für Lügen oder gar Tötungen in Notfällen) irgendeine moralische Rechtfertigung. Solche Verhaltensweisen und Einstellungen sind einfach schon per se moralisch verwerflich. Anders als bei Notlügen oder auch bei Notwehr gibt es keine auch nur denkbaren Ausnahmezustände (Not-Situationen), in denen Antisemitismus, Rassismus, Sexismus etc. rechtfertigbar wären.

Das hat einen ganz einfachen Grund. Diese Verhaltensweisen und Einstellungen verstoßen allesamt gegen eines unserer elementarsten Moralprinzipien. Nämlich gegen das universelle Diskriminierungsverbot, wonach jegliche Art von Rassen-, Geschlechts- etc. Diskriminierung verboten ist – und zwar bedingungslos. Ob das, was jemand tut, in moralischer Hinsicht gut oder schlecht (richtig oder falsch) ist, das darf unter keinen Umständen davon abhängen, ob die betreffende Person weiß oder gelb oder schwarz ist; auch nicht davon, ob Mann oder Frau; und ebenso auch nicht davon, ob sie Jüdin ist oder nicht.

Dieses Diskriminierungsverbot wird oft auch als Gleichheitsgebot formuliert: In moralischer Hinsicht sind alle Rassen, Geschlechter und Ethnien etc. ohne jede Einschränkung gleich. Zu welcher Rasse wir gehören, zu welchem Geschlecht, zu welcher Ethnie etc. – all dies ist in moralischer Hinsicht absolut irrelevant.

Das universelle Gleichheitsgebot setzt keine empirischen Gleichheitsannahmen voraus; es fordert auch keine undifferenzierte Gleichbehandlung. Es verlangt nur, dass, auch wenn wir verschiedenen Rassen oder Geschlechtern, Ethnien etc. angehören, unsere gleichen Interessen unter den gleichen Umständen auch in gleicher Weise berücksichtigt werden müssen. Dass zum Beispiel das Leid einer jüdischen Mutter über den Tod ihres Kindes genauso viel zählt wie das gleiche Leid einer deutschen Mutter – oder auch einer palästinensischen.

Dass sich Diskriminierungen in der Regel gegen Andere wenden, schließt die Möglichkeit einer Selbstdiskriminierung keineswegs aus. Wer sich selbst hasst, tut das mitunter auch deshalb, weil er anders ist – oder auch nur anders zu sein glaubt –als „die Anderen“. Auch Frauen können Frauenfeindinnen sein; auch Schwarze können ihre schwarzen Brüder und sich selbst (als Schwarze) verachten; auch Deutsche können Anti-Deutsche werden; und so ist auch jüdischer Selbsthass keine begriffliche Unmöglichkeit. Antisemit kann im Prinzip jeder sein. Also auch ein Jude. Dass jemands Auffassung schon deshalb gar nicht antisemitisch sein könne, weil er selber Jude sei, ist schlicht und einfach falsch.

Übrigens: Auch eine philosemitische Einstellung kann moralisch verwerflich sein. Falls auch sie diskriminiert. Also immer dann, wenn „Philosemit sein“ soviel bedeutet wie: Juden sind per se als (in moralisch relevanter Hinsicht) wertvoller anzusehen als andere. Denn daraus folgt bereits, dass, wer immer auch die Anderen sein mögen, diese ihrerseits per se weniger wert sind als andere (als die Juden nämlich). Genau dies aber verbietet das universelle Diskriminierungsverbot.

Der hier eingeführte Antisemitismus-Begriff ist höchst allgemein. Und das muss er auch sein, damit, wie es so oft heißt, jede Art von Antisemitismus zu bekämpfen ist. Denn dann muss eben wirklich auch jede Art von Antisemitismus unter diesen Begriff fallen. Genau deshalb darf ein allgemeiner Antisemitismus-Begriff insbesondere auch noch nichts darüber sagen, warum ein Subjekt (Individuum, Kollektiv oder die betreffende Institution) die fragliche Juden-diskriminierende Einstellung überhaupt hat. Der Begriff sagt nichts über die verschiedenen Ursachen, nichts über die diversen Motive und nichts über etwaige Gründe.

Je nach dem Typ dieser Motive oder Gründe wäre zu unterschieden zum Beispiel zwischen

  1. Rassischem
  2. Religiösem (christlichen, katholischen, protestantischen, muslimischen)
  3. Sozialem
  4. Politischem Antisemitismus,

wobei sich diese Typen keineswegs ausschließen. Die Erforschung der Ursachen, Wandlungen und Ausdrucksformen dieser verschiedenen Arten des Antisemitismus ist Aufgabe der so genannten Antisemitismus-Forschung.

Und last but not least: Unser Grundbegriff der negativen Juden-Diskriminierung lässt auch völlig offen, wie der Begriff „Jude“ selber zu definieren ist. Mit gutem Grund. Zum einen geht es bei diesem Antisemitismus-Konzept ohnehin gar nicht darum, wer objektiv Jude ist, sondern (wie wir gleich noch sehen werden) nur darum, dass das diskriminierende Subjekt sein Diskriminierungs-Objekt für eine Jüdin oder einen Juden hält. Und zum anderen kann und sollte man die entsprechende Selbstbestimmung ohnehin lieber „den Juden“ selbst überlassen. Und ob diese sich jemals selber darüber einigen können oder nicht, das ist zum Glück für eine klare Bestimmung dessen, was unter Antisemitismus zu verstehen ist, völlig irrelevant.

2. Antisemitisches Verhalten

So viel zum zentralen Begriff einer antisemitischen Einstellung. Unsere nächste Frage: Wann ist ein Verhalten antisemitisch?

Die Antwort kennen Sie schon: Genau dann, wenn sich in ihm eine antisemitische Einstellung manifestiert. Dies nun etwas genauer.

Allgemeine Definition
(AS.V*) Ein Verhalten  von X gegenüber Y ist antisemitisch gdw.

  1. das Verhalten von X gegen Y gerichtet ist
  2. und dies deshalb, weil X glaubt, dass Y jüdisch ist – und
  3. weil X glaubt, dass Juden als solche weniger wert sind.

Ein einfaches Beispiel

Wir befinden uns in einem Kindergarten. Die Gruppe, die der Kindergärtner Xaver betreut, ist ethnisch bunt gemischt. Die kleine Yvonne hat soeben ein anderes Mädchen vom Stuhl geschubst. Xaver hat das gesehen – und verdonnert Yvonne daraufhin dazu, beim nachfolgenden Ringelspiel zuschauen zu müssen.

Was müsste in dieser Situation jetzt noch zusätzlich der Fall sein, damit dieses Verhalten von Xaver zu Recht als antisemitisch gelten (er also auf die Antisemiten-Liste gesetzt – und somit unter Umständen sogar aus dem Kindergartendienst entlassen – werden) darf? Prüfen Sie jetzt erstmal in Ruhe, ob Sie mit der Antwort der obigen Definition (AS.V*) einverstanden wären. Wir gehen die einzelnen Bedingungen noch durch. Es schadet auch nichts, wenn Sie im Folgenden die entsprechenden Parallelen für „rassistisch, sexistisch, etc“ im Kopf behalten.

Zur Bedingung 1: Xavers Reaktion auf Yvonnes Schubs ist zweifelsohne an Yvonne selber gerichtet. Sie ist Adressatin des Verbots, am folgenden Ringelspiel nicht mitmachen zu dürfen. Und insofern sie an diesem Spiel wohl gerne mitgemacht hätte, trifft auch sicher zu, dass Xavers Verbot für Yvonne eine echte „Schädigung“, eine echte Strafe, ist. Xavers Reaktion war, so verstanden, nicht nur an, sondern auch gegen Yvonne gerichtet. Das macht aber Xavers Reaktion noch lange nicht zu einer antisemitischen Tat. Es kann sein, dass er, so auf einen Schubs zu reagieren, generell für eine angemessene Reaktion hält, er diese Strafe auch gegen jedes andere Kind aus der Gruppe verhängt hätte. Dafür, dass Xavers Reaktion antisemitisch ist, ist (1) also zwar notwendig, aber nicht hinreichend.

Zu den Bedingungen 2 & 3: Dieses Bild ändert sich sofort, sobald wir wissen, dass Xaver auf den Schubs von Yvonne nur deshalb so reagiert hat, weil er Yvonne für eine Jüdin gehalten hat. M.a.W.: Sobald wir wissen, dass er nicht so reagiert hätte, wenn er Yvonne nicht für eine Jüdin gehalten hätte. Wenn also z.B. Anna, Yvonnes nicht-jüdische Freundin, wenn sie geschubst hätte, trotzdem weiter hätte mitspielen dürfen.

Die Bedingung (3) macht die in (2) eventuell bereits implizit enthaltende Diskriminierung von Yvonne als Jüdin explizit. Insofern mag (3), falls bereits aus (2) folgend, vielleicht redundant sein; aber das macht nichts. Redundanz schadet bei einer Definition nicht; und Deutlichkeit ist in diesem Kontext gewiss wichtiger.

Was lehrt uns dieses simple Beispiel? Was lehrt uns die (anhand dieses Beispiels ja nur exemplifizierte) simple Definition? Einiges. Zum Beispiel:

Antisemitismus – das geht auch ohne Juden. Angenommen, Xaver hat sich getäuscht: Yvonne ist gar keine Jüdin. Xavers Reaktion war trotzdem antisemitisch. Sie sollte eine vermeintliche Jüdin als Jüdin treffen; d.h.: sie war durch eine anti-jüdische Diskriminierung motiviert. Das reicht. Genau deshalb fordert die Bedingung (2) nicht, dass X weiss, dass Y jüdisch ist, sondern nur, dass X das glaubt. Dass es für einen Antisemitismus gar keine Judenpräsenz zu geben braucht, das ist also keine großartige empirische Entdeckung, folgt vielmehr schon aus dem Begriff eines antisemitischen Verhaltens selbst.

Nicht jede Schädigung eines Juden ist schon Antisemitismus. Am Abend zuvor war Xaver in seiner Disko in eine Schlägerei verwickelt, bei der er, „echt in Notwehr“, wie er meint, einen Japaner K.O. schlug. Ist der aus Bayern stammende Xaver damit schon ein (Anti-Japaner bzw. Anti-Asiaten-) Rassist? Natürlich nicht. Genauso wenig ist jeder Schaden, den man einem jüdischen Mitbürger zufügt, schon kraft dieser Schädigung ein Beleg für Antisemitismus. Auch wenn Yvonne also tatsächlich Jüdin sein sollte; falls bei ihrer Bestrafung die Diskriminierungskomponente fehlt, ist diese Bestrafung (wie ja schon in 2.3 oben gesagt) sicherlich nicht antisemitisch.

Antisemitisch – auch ohne Schädigung. Unser Beispiel – wie gehabt. Nur mit dem Unterschied: Yvonne ist regelrecht froh darüber, dass sie an diesem doofen Ringelspiel nicht mitmachen muss. Trotzdem: Auch wenn Xavers Reaktion für Yvonne in diesem Fall keine echte Strafe war, Yvonne von Xavers Reaktion vielmehr sogar profitierte: Xavers Reaktion bleibt nichtsdestotrotz – ihrer diskriminierenden Motivation wegen – weiterhin antisemitisch.

Antisemitismus – einfach so. Unser Beispiel noch mal wie gehabt. Nur mit dem Unterschied: Dem Xaver ist das antisemitische Diskriminierungs-Motiv, das hinter seiner Reaktion steht, selber gar nicht präsent. Er ist sich seines Antisemitismus selbst gar nicht bewusst. Er reagiert nun mal so, wie er reagiert – einfach so. Ist solches möglich? Wenn dem so wäre, dann kann es sein, dass ich Antisemit (bzw. entsprechend: Rassist, Sexist etc.) bin, auch ohne es zu wissen. Das ändert aber nichts daran (ja bekräftigt es sogar), dass, ob, was ich tue, antisemitisch (rassistisch etc.) ist oder nicht, immer noch allein von meinen Einstellungen abhängt – auch wenn mir diese, wie gesagt, nicht immer selbst präsent sein müssen. Nennen wir den, der nicht mal selber weiß, dass er ein Antisemit ist, zur Abgrenzung von den nur latenten Antisemiten einen Krypto-Antisemiten. Und den, der sich seiner betreffenden AS-Einstellung bewusst ist, könnten wir jetzt als einen selbst-transparenten AS bezeichnen.

Diese Unterscheidung sollte jetzt nicht mit der schon eingangs gemachten zwischen manifestem und latentem AS verwechselt werden. Es gibt vielmehr die folgenden vier Möglichkeiten.

Antisemitisch – trotz Beteuerung des Gegenteils. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich kein Antisemit bin. Beweist das, dass ich keiner bin? Nach dem soeben Gesagten leider nicht. Es kann ja sein, dass ein Krypto-Antisemit besten Gewissens bestreitet, Antisemit zu sein – aber trotzdem (hinter seinem eigenen Rücken sozusagen) einer ist.

Was folgt daraus? Und was folgt daraus nicht?

Nun, wie immer: unübersehbar viel. Zum Beispiel folgt, dass mich, was meinen Krypto-Antisemitismus angeht, andere vielleicht besser kennen als ich mich selbst. Aber daraus folgt noch lange nicht, dass sich dieses „Besser Wissen“ mir gegenüber jeder Beliebige anmaßen darf. Und erst recht nicht folgt, dass jeder, der sich das anmaßt, damit auch Recht hat.

Die Große Rest-Frage ist also: Wann darf man sich dieses Besser-Wissen anmaßen? Und wann hat man damit Recht?

Wir kommen jetzt, nachdem die Definitionsfrage geklärt ist, wir also wissen, was der Begriff „Antisemitismus“ besagt (nämlich Juden-Diskriminierung, Punkt!), zum Verifikationsproblem, zum großen Minenfeld der Erstellung einer möglichst zuverlässigen Antisemiten-Liste. Doch bevor wir dieses Feld betreten, ist noch ein weiterer Begriff, ein weiteres definitorisches Begriffsproblem zu betrachten. Der Begriff des Antizionismus.

Auch dieses Problem wäre, wenn man nur wollte, ganz einfach zu lösen. Nämlich durch ein paar ohnehin gebotene Unterscheidungen.

3 Exkurs: Anti-Zionismus

Die Kernfrage des derzeitigen AS-Streits ist schlicht und einfach diese: Ist der Anti-Zionismus eine Unterart des Anti-Semitismus? Ist jeder Anti-Zionist (schon mit begrifflicher Notwendigkeit) auch ein Anti-Semit? Oder kann es (rein begrifflich, wohlgemerkt!) auch Anti-Zionisten geben, die keine Anti-Semiten sind? Die folgenden zwei Schemata verdeutlichen diese beiden Positionen.

SCHEMA 1 (Teilmenge)   SCHEMA 2 (Überschneidung)

Verschiedene Arten des (Anti)-Zionismus

Welche Position ist die richtige? Wer auch nur so fragt, liegt schon schief. Denn: Den Zionismus gibt es gar nicht. Es gibt nur verschiedene – sehr verschiedene – Varianten desselben.

Jetzt wäre zunächst zwischen dem kulturellen und dem politischen Zionismus zu unterscheiden. D.h. zwischen der Fixierung auf Zion (=Jerusalem) als Zentrum der jüdischen Kultur einerseits und dem Aufbau einer jüdischen Nation andererseits. Ich beschränke mich – darin dem derzeitigen Diskurs folgend – auf die letztere Variante: auf die vor allem von Theodor Herzl (1860-1904) in Reaktion auf den europäischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts vorangebrachte jüdische Nationalbewegung, deren Zielsetzung, die Gründung eines eigenen Staates als (zumindest potentielle) Heimstätte für alle Juden der Welt, sich mit der Gründung Israels 1948 realisiert hat. Wer dieses Projekt für richtig (legitim) hält, ist, wie ich sagen will, Minimal-Zionist. Entsprechend wäre, wer selbst die Legitimität dieses Mini-Z bestreitet, ein Maximaler Anti-Zionist.

Es gäbe darüber hinaus eine Reihe weiterer Projekte, die sich in der folgenden (naturgemäß groben) Tabelle zusammengefasst finden:

Nun, wie ist es: Impliziert auch nur ein Maximaler Anti-Z, d.h. einer, der sogar die Legitimität des Mini-Z bestreitet, einen Antisemitismus?

Wenn dem so wäre, dann wäre ein nicht unbedeutender Teil der Judenheit, nämlich deren ganze ultra-orthodoxe Fraktion (von der die Gründung eines jüdischen Staates vor der Wiederkunft des Messias nicht nur für nicht legitim, sondern für eine extreme Versündigung gegen Gottes Gebote verstanden wird), selbst antisemitisch. Aber das hat bisher nicht einmal ein einziger der schärfsten Antisemiten-Jäger behauptet. Woraus bereits logisch folgt: Das Schema 1 ist schlicht falsch.

Man beachte: Wenn das Schema 1 – die These, dass Antizionismus notwendigerweise einen Antisemitismus impliziert – , sogar im Fall des Maximalen Antizionismus falsch ist, dann erst recht bei allen schwächeren Varianten (2 bis 5) des so genannten Antizionismus.

Mehr gibt es zu diesem angeblichen Begriffsproblem eigentlich nicht zu sagen. Richtig ist nur das Schema 2.

Und damit, wie schon angekündigt, zu den leider viel komplizierteren Verifikationsfragen.

4 Verifikationsprobleme (Die Antisemiten-Liste)

Wir wissen jetzt (so hoffe ich), was der Fall sein müsste, um jemanden zu Recht auf die Antisemiten-Liste zu setzen. Aber damit wissen wir noch lange nicht, ob das, was, um auf die Liste zu kommen, der Fall sein müsste, bei einer bestimmten Person – etwa bei Xaver oder bei mir – auch tatsächlich der Fall ist. Das ist die Frage nach den Fakten.

Noch einmal: Gehört Xaver wegen seiner Bestrafung von Yvonne wirklich auf die Antisemiten-Liste? War seine Reaktion auf deren Schubs tatsächlich antisemitisch? Wovon das abhängt, wissen wir: Eben davon, ob hinter seiner Reaktion auch wirklich die fragliche antisemitische (= Juden-diskriminierende) Einstellung steckte oder nicht! Die Faktenfrage ist: Hatte er diese Einstellung tatsächlich? Und spielte sie wirklich die für das Vorliegen eines antisemitischen Verhaltens notwendige motivationale Rolle? Und schließlich: Wie kriegen wir das raus? Das ist das Verifikationsproblem.

Bei diesem Problem braucht man ohne Fallunterscheidungen erst gar nicht anzufangen. Also: Jetzt ein paar Fallunterscheidungen.

Ohne jeden Hintergrund

Zurück zu Xaver. Wir kennen sein Verhalten. Wissen aber sonst nichts weiter; haben also insbesondere weder über ihn noch über die fragliche Situation irgendwelche weiteren Hintergrundinformationen. Bleibt es dabei, so gilt: Verifikation – unmöglich. Jeder Versuch dazu wäre schlicht zirkulär. Die Deutung des Verhaltens könnte sich nur auf die Zuschreibung der Einstellung stützen, auf nichts sonst. Diese Zuschreibung aber steht und fällt (in diesem Fall!) mit der Deutung des gezeigten Verhaltens. Zirkulärer geht es nicht.

Die dunkle Kehrseite dieses Resultats:: Unmöglich ist nicht nur die Verifikation; unmöglich ist auch jede Falsifikation. Was leider heißt: Wer Xaver in diesem Fall Antisemitismus anhängt, kann prinzipiell nicht widerlegt werden. Wer das schon als Beweis ansieht, hat, was sein Urteil über Xaver angeht, freie Hand. (Kein Wunder, dass sich dieses Faktum im derzeitigen Antisemitismus-Diskurs einige absolut schamlos zu Nutze machen.)

Würde sich an dieser Unbeweisbarkeit bzw. Unwiderlegbarkeit etwas ändern, wenn wir Xaver fragen könnten? Doch nur dann, wenn man ihm Glauben schenken würde. Wenn nicht, so könnte Xaver sagen, was er will; es änderte sich damit kein Deut.

Mit Hintergrund: Wissen über den Täter

Nach Belegen für oder gegen Xavers antisemitische Motivation lässt sich erst dann sinnvoll fragen, wenn wir schon etwas mehr wissen. Zum Beispiel mehr über ihn, den Täter: Wie hat er sich bisher Yvonne und anderen (echten oder vermeintlichen) jüdischen Kindern gegenüber verhalten? Und wie im Vergleich dazu gegenüber den anderen (echt oder vermeintlich) nicht-jüdischen Kindern? Sofort fallen einem hier auch Verfahren für „Experimente“ ein, die man mit Xaver und seiner Kindergartengruppen machen könnte, um auch noch mehr zu wissen. Mag sein, dass auch das so gewonnene weitere Wissen noch nicht logisch zwingend für den Schluss auf Xavers Antisemitismus (oder eben für das Fehlen desselben) wäre; aber das macht nichts. Logisch zwingend sind Indizien-basierte Resultate meist ohnehin nicht. Hinreichend starke Bestätigung reicht.

Mit Hintergrund: Wissen über die Tat

Nächster Fall: Wir wissen zwar nichts Weiteres über den Täter, aber doch etwas Wichtiges über die Tat. Xaver hat Yvonne nicht nur nicht weiter mitspielen lassen; er hat auch noch gesagt: „Du blödes Judengör“. Diese Äußerung enthält schon ihrem Typ nach einen Antisemitismus-Indikator. Dabei kommt es jetzt nicht darauf an, wie stark dieser Indikator für sich genommen ist, nur darauf, dass sich allein durch sein Vorhandensein die Ausgangslage – das anfängliche „Wir können gar nichts sagen“ –ändert. Der Verdacht auf Xavers Antisemitismus ist jetzt nicht mehr völlig unbegründet. Was aber nicht mit einer hinreichenden (hinreichend starken) Begründung verwechselt werden sollte.

Usw. Schritt für Schritt. Sie wissen jetzt, wie man vorgehen könnte, um sich sogar in dem Labyrinth der Antisemitismus-Verifikationsprobleme etwas besser zurechtzufinden.

Das Problem ist bloß: Wer geht im Antisemitismus-Kontext schon tatsächlich so vor? Schauen Sie sich doch einfach mal um.

5 Dicke logische Fehler

Zum Schluss will ich noch kurz auf ein Problem aufmerksam machen, dessen Folgen ungeheuer große sind, das aber trotzdem in der ganzen Antisemitismus-Debatte bisher total unterbelichtet geblieben ist: Es geht um den Unterschied zwischen einer Diskriminierungs-Einstellung einerseits und den diversen möglichen  Gründen für diese Einstellung andererseits. Zu diesen Gründen gehört in der Regel auch der Rekurs auf Fakten, Tatsachenbehauptungen also.

Beispiel: Der Rassist Hansen

Hansens rassistische Einstellung:
(A) Afrikaner sind (moralisch) weniger wert als Asiaten.

Sein Grund dafür:
(B) Der IQ von Afrikanern ist im Durchschnitt geringer als der von Asiaten.

Die meisten reagieren auf dieses Beispiel so: (A) ist absolut verwerflich! Folglich, so der übliche Schluss, muss, wer gegen (A) ist, auch gegen (B) sein. (B) darf einfach nicht wahr sein! Schon die Behauptung von (B) selbst ist eine Diskriminierung. Warum? Die übliche Antwort: Weil die Bewertung (A) doch schon aus der Behauptung (B) folgt.

Reagieren auch Sie so? Wenn ja, dann begehen auch Sie einen heftigen Fehlschluss. Was nicht so tragisch wäre, wenn Sie damit nicht bereits den gleichen Fehler begangen hätten, den auch der Rassist Hansen macht.

Was wäre denn, wenn – ob wir das nun für schön und gut finden oder nicht – (B) tatsächlich wahr wäre? Ob dem tatsächlich so ist, das spielt jetzt gar keine Rolle! Wäre, wie der Rassist glaubt (und bisher vielleicht auch wir), die so genannte Tatsachenbehauptung (B), wenn sie denn wahr wäre, wirklich eine gute Begründung für (A)?

Überhaupt nicht! Und zwar aus zwei Gründen nicht: Erstens: Selbst wenn der IQ von Afrikanern im Durchschnitt schlechter als der von Asiaten wäre: Es könnte und wird trotzdem immer noch Afrikaner geben, deren IQ den von vielen Asiaten übertrifft. Und zweitens und sehr viel wichtiger: Soll denn, welchen IQ jemand hat, wirklich ein Maßstab dafür sein, wie wertvoll er ist? Einspruch! Der moralische Wert eines Menschen ist keine Funktion seines IQ!

Um (A) zu bestreiten, müssen wir also keineswegs auch die Prämisse (B) bestreiten. Wir müssen nur bestreiten, dass, wie der Rassist glaubt, (A) aus (B) logisch folgt. Was falsch ist an der Begründung des Rassisten ist nicht (jedenfalls nicht notwendigerweise) die Prämisse (B); falsch ist, dass aus dieser die Bewertung (A) folgt.

Daraus, dass Rassen-Diskriminierung verwerflich ist, folgt also nicht, dass auch die faktischen Gründe, die jemand für diese Diskriminierung hat oder zu haben glaubt, falsch sein müssen. Es folgt nur, dass diese Gründe keine logisch zwingenden Gründe für die fragliche Diskriminierungseinstellung sein können.

Im Kontext der Antisemitismus-Debatte ist dieser simple logische Sachverhalt anscheinend völlig unbekannt. Anders ist zum Beispiel überhaupt nicht zu erklären, warum die Thesen der amerikanischen Politikwissenschaftler Mearsheimer & Walt über den Einfluss der jüdischen Lobbies auf die amerikanische Außenpolitik oder bei uns erst vor wenigen Tagen der Hinweis des evangelischen Bischofs Adomeit auf die doch ganz unbestreitbare Überidentifizierung vieler gutmeinender Deutscher mit Israel plötzlich so viele Leute hinter ihrem Ofen hervorgelockt haben.

Was ist es, was uns so dumm macht? Was ist es speziell im Kontext der Antisemitismus-Debatte? Brecht hat es klar und deutlich benannt: Angst macht dumm. Es ist die Angst, im Kontext dieser Debatte etwas falsch zu machen. Es ist, übrigens genau wie im Kontext der ganzen Terrorismus-Hysterie, der pycho-soziale Terrorismus, der schon allein mit Hilfe des Wortes „Antisemitismus“ (bzw. mit dem Wort „Terrorismus“) betrieben wird.

Was dieser kleine Vortrag zeigen sollte: Man muss vor diesem Wort keine Angst haben. Auch über Antisemitismus kann man klar und einfach – also angstfrei – sprechen. Wenn man nur will. Ich will es.

DANKE FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT!

Anmerkung:

Dieser am 10. September 2019 vor der DAG (Deutsch Arabische Gesellschaft) in Berlin gehaltene Vortrag basiert auf dem in Telepolis (08.12.2008) und dann erneut in dem eBook Georg Meggle, Über Medien, Krieg und Terror (2019) enthaltenen älteren Vortrag gleichen Titels, der hier zum einen stark gekürzt, zugleich aber um einige wichtige Punkte ergänzt wurde. Die für den Autor wichtigste Folgefrage: Wenn die hier vorgeschlagene Antisemitismus-Definition doch so viel klarer und, wie er in der Diskussion weiter ausführte, zugleich brauchbarer ist als die derzeit kursierenden so genannten „Arbeitsdefinitionen“, warum wird dann nicht gleich mit ihr gearbeitet? Seine Vermutung: Klarheit ist gar nicht das Ziel der derzeitigen Antisemitismus-Debatten. Dazu demnächst mehr.

Online-Flyer Nr. 718  vom 11.09.2019

3 Kommentare zu Wer ist Antisemit? Von Georg Meggle NRhZ

  1. Den Antisemitismus-Beauftragten des Bundes und der Länder ist dringend empfohlen, sich mit den Gedanken des Analytischen Philosophen Georg Meggle auseinanderzusetzen. Dank an die Arbeiterfotografie und an Evelyn Hecht-Galinskis Blog „sicht-vom-hochblauen.de“ für diese wichtige Veröffentlichung!

  2. hervorragend ! – Der Begriff scheint mir hiermit nicht nur klar und logisch definiert, sondern auch komplett ausgeleuchtet.- Es wäre natürlich schön, wenn alle Parlamentarier ihn lesen würden.

  3. Der Begriff „Antisemitismus“ wird häufig für national-zionistische Propaganda missbraucht (als Schwindeletikett) und wirkt besonders irreführend. Alles, was diesen National-Zionisten nicht gefällt, ist automatisch „antisemitisch“.

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