„Lästige Russlandfixierung“ – ZEIT rechnet mit deutschem Geschichtsbild ab Eine Analyse von Wladislaw Sankin 

„Lästige Russlandfixierung“ – ZEIT rechnet mit deutschem Geschichtsbild ab

Eine Analyse von Wladislaw Sankin „Wir müssen die Verantwortung übernehmen“. Es ist gut bekannt, wie beliebt dieser Satz im deutschen Politbetrieb ist. Bekannt ist auch, mit welch ernster Miene er stets verlautbart wird. Nun ist es die Ukraine, die Deutschland auch noch zu verantworten hat, gleichsam mit ihrer Geschichte, Sprache und Kultur.

„Lästige Russlandfixierung“ – ZEIT rechnet mit deutschem Geschichtsbild ab

Eine Analyse von Wladislaw Sankin

Laut der „Zeit“ sei die lästige Russland-Fixierung der Deutschen obsolet geworden. Längst müsse sie einem Bündnis mit der Ukraine weichen. Doch der eigene Versuch, die ukrainische Geschichte schmackhaft zu machen, geht nach hinten los.
"Lästige Russlandfixierung" – ZEIT rechnet mit deutschem Geschichtsbild ab© Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, J 151 Nr 2256

 

„Wir müssen die Verantwortung übernehmen“. Es ist gut bekannt, wie beliebt dieser Satz im deutschen Politbetrieb ist. Bekannt ist auch, mit welch ernster Miene er stets verlautbart wird. Nun ist es die Ukraine, die Deutschland auch noch zu verantworten hat, gleichsam mit ihrer Geschichte, Sprache und Kultur. Demgegenüber steht der verhasste russische Rivale, der die Chuzpe hat, die ukrainische Geschichte aus seiner, der „imperialen“ Perspektive zu erzählen. Aber auch die eigene Trägheit sei Schuld daran, weshalb die Ukraine im deutschen Bewusstsein angeblich immer noch im Schatten Russlands stehe.

Aber da hilft Glück im Unglück: „Putins Krieg, der die Chance für einen Neuanfang in den deutsch-ukrainischen Beziehungen bietet.“ So wertet es der Chefredakteur von Zeit Geschichte, Frank Werner, im Vorwort des neuen Geschichtsheftes „Die UKRAINE, RUSSLAND und WIR: Eine wechselvolle Beziehung – vom Mittelalter bis heute“, das am 23. Mai erschienen ist. Und er führt weiter aus:

„Die Voraussetzungen dafür: das Überleben der Ukraine mit deutscher Hilfe – und die Entsorgung des russifizierten Geschichtsbildes. Die Deutschen sollten die Ukraine nicht nur als Nation bewundern, die in der Not zusammenwächst, sondern ihr die eigenen kulturellen Wurzeln, die eigene Geschichte zurückgeben. Dazu möchte unser Heft beitragen.“

Welche Geschichte Werner der Ukraine vor allem zurückgeben möchte, deutet das Cover des Heftes an: Die Geschichte der deutschen politischen Unterstützung für die ukrainische Staatlichkeit. Oder doch die Geschichte des deutschen Kolonialismus und der Eroberungszüge im Osten? Es ist nicht ganz klar. Sehen Sie selbst das Cover unter diesem Link.

„Paul von Hindenburg empfängt im September 1918 den von den Deutschen eingesetzten Hetman der Ukraine, Pawlo Skoropadskyj“ – so beschreibt das Heft das große Bild oben. Dieses historische Foto hat etwas Ikonisches. Links steht der deutsche oberste Heeresleiter, rechts ein junger ukrainischer Politiker, der den väterlichen von Hindenburg etwas bewundernd anschaut. Links Pickelhaube, rechts Kosakengewand.

Dieser Szene wird unten links ein Pendant aus der Gegenwart gegenübergestellt: Das Händeschütteln des Bundespräsidenten Frank-Walter Steienmeier mit dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij beim Empfang in Kiew im Oktober 2022.

Die Hintergründe zum Skoropadskij-Besuch sind gleich im Heft nachzulesen: Pawel Skoropadskij (RT DE berichtete über ihn ausführlich), ein früherer russischer General aus altukrainischem Adel, ließ sich mithilfe deutscher Truppen am 29. April 1918 auf einer Versammlung der Grundbesitzerpartei in einem Zirkus in Kiew zum Hetman der Ukraine ausrufen.

Als vier Monate später seine Macht zu wackeln begann, lud die deutsche Militärverwaltung ihn nach Deutschland ein – um „die Fiktion einer unabhängigen Ukraine aufrechtzuerhalten und die Autorität des Hetmans zu stärken.“ Er führte dort viele Gespräche, traf sich mit Kaiser Wilhelm II. und besuchte die Chefs der Obersten Heeresleitung, Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, im Großen Hauptquartier in Spa. Ihnen versicherte er einmal mehr:

„Die Ukraine will mit Deutschlands Hilfe ein starker, lebensfähiger Staat werden. Sie will gern leisten, was Deutschland braucht.“

Irgendwie klingt das nach dem heutigen „Die Freiheit Europas wird aktuell in der Ukraine verteidigt. Deutschland und die Bündnispartner müssen dafür ihren Teil beitragen!“

Natürlich betont das Heft: Damals war es eine aggressive, koloniale und hinterhältige Politik, die Deutschland im Ersten Weltkrieg in die Ukraine verschlug. Deutsche Beamte werden mit den Worten zitiert: „Insurgierung nicht nur Polens, sondern auch der Ukraine“ sei „als Kampfmittel gegen Russland“ wichtig. Und weiter: „Um das Zarenreich zu schwächen, unterstützen die Mittelmächte die ukrainische Nationalbewegung.“

Wie das vonstatten ging, beschreibt der Historiker Volker Ullrich in aller Ausführlichkeit:

„Im Laufe des Jahres 1915 begann das preußische Kriegsministerium, ukrainische Kriegsgefangene abzusondern und in speziellen Lagern in Wetzlar, Rastatt, Salzwedel und Hannoversch-Münden zu sammeln. Unter ihnen sollten Kader für einen künftigen ukrainischen Staat rekrutiert werden. Außerdem wurden ‚Turnvereine‘ gegründet, die der paramilitärischen Ausbildung dienten. Es komme darauf an, hieß es in einer Denkschrift des Bundes zur Befreiung der Ukraine vom Februar 1915, ‚unsere gefangenen Landsleute mit Waffen zu versehen und zur Befreiung ihrer Heimat vom moskowitischen Joche gemeinsam mit den Truppen der Verbündeten heranzuziehen.'“

Als ob der Verfasser beim Zitieren keinen Déjà-Vu-Effekt angesichts der heutigen „Ausbildung der ukrainischen Soldatinnen und Soldaten durch die Bundewehr an modernen Waffensysteme“ befürchtet hätte…. Auch wird die Karte „Die Ukraine. Land und Volk“ gezeigt, die verdeutlicht, wieviele Naturressourcen und Bodenschätze das Land im Jahre 1918 beherbergt hat – und zwar „zum Bedarf der Mittelmächte“.

Die Novemberrevolution 1918 und die Wirren des russischen Bürgerkrieges haben den damaligen deutschen Ukraine-Plänen ein jähes Ende gesetzt. Nur zwei Monaten nach seinem Besuch musste Skoropadskij Kiew fluchtartig verlassen und nach Deutschland zurückkehren – diesmal als Flüchtling.

Nun kommen wir auf die Titelbilder zurück. „Das Überleben der Ukraine mit deutscher Hilfe“ wird mit dem Vergleich Selenskijs mit einer deutschen Marionette und historischem Versager Skoropadskij versinnbildlicht. Und wenn man sich an die traurige Rolle von Hindenburgs erinnert, der gut vierzehn Jahre später Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte, dann wird die kurze Bilderreihe endgültig zu einem bösen Witz.

Man könnte fast denken, die Bildredakteure hätten sich heimlich das Ziel gesetzt das Vorhaben des Heftes, ein positives geschichtliches Image der Ukraine zu vermitteln, durch diese Bilderwahl zu sabotieren. Dies ist aber höchst unwahrscheinlich. Viel eher ähnelt der Fauxpas einem Freudschen Versprecher. Schließlich wird im Heft davor gewarnt, das paternalistische Verhältnis zur Ukraine nicht als  traditionelle deutsche Überheblichkeit gegenüber den angeblich kulturlosen, noch zu zivilisierenden Völkern Osteuropas aufzufassen.

Zwar liefert die Ausgabe in ihren 22 Artikeln viele Texte mit Objektivitätsanspruch. Aber Propaganda, Geschichtsrevisionismus und Verklärung bis hin zu bloßen Falschbehauptungen sind großzügig querbeet über das ganze Heft verteilt. So wird von dem ukrainischen Germanisten Prochasko im abschließenden Interview nicht nur die Sowjetunion (was eh schon zum guten Ton gehört), sondern auch das Russische Zarenreich ganz beiläufig mit Nazi-Deutschland gleichgesetzt:

„Dass schon das zaristische Russland, später die Sowjetunion und ebenso das ‚Dritte Reich‘ im Osten Europas nichts anderes als Kolonialpolitik betrieben hatten.“

Auch die sowjetische Periode der ukrainischen Geschichte wird immer wieder als „Besatzung“ oder Herrschaft bezeichnet. Dabei wird kaum erwähnt, dass der Ukraine von der Zentralregierung in Moskau viele russisch geprägte Industrie-Gebiete im historischen „Neurussland“, der Donbass und die Sloboda-Ukraine (Region um Charkow), als „Mitgift“ und „Proletarisierungsanker“ zugeschlagen wurden – oft entgegen dem Willen der dortigen Bevölkerung.

Auch die frühsowjetische Turbo-Ukrainisierung, die zur Assimilierung von Millionen von Russen innerhalb kürzester Zeit führte, wird einfach unterschlagen. Stattdessen setzen die Verfasser Ukraine und Ukrainer als Nation im modernen Sinne rückwirkend bis zum Mittelalter hin in alle Gebiete hinein, die heute international anerkanntes Territorium des ukrainischen Staates umfassen. Und ganz klar wird im Sinne der heutigen Politik gesagt: In Russland herrsche ein „Diktator“ und Nord Stream 2 sei ein deutscher „Sündefall“.

Bandera und seine Gefolgsleute: „Umstrittene Helden“ und gute Partisanen

Im Geiste der heute vorherrschenden Cancel- und Umschreibungspolitik sind diese Ausfälle nicht verwunderlich. Spannend wird es jedoch, wenn gleich mehrere Autoren auf die unheilge Allianz der ukrainischen Nationalisten mit Nazi-Deutschland zu sprechen kommen. Leute wie Stepan Bandera und sonstige bekennende Faschisten seien lediglich „umstrittene Nationalhelden“ (Klaus Latzel). Solchen Personen wird also auch von der deutschen Historikerszene der Heldenstatus zumindest teilweise zugesprochen. „Leider haben die Ukrainer keine anderen. Sie braucht sie aber als junge Nation“, sagte einmal der Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Historikerkomission, Martin Schulze Wessel, dem Autor dieser Zeilen in einem Privatgespräch.

Seltsam. Denn auch in dem Zeit-Heft wird betont, dass in den Reihen der Roten Armee viele Millionen Ukrainer gegen Hitler-Deutschland und seine Verbündeten (auch in den Reihen der ukrainischen Kollaborateure) gekämpft haben. Millionen sind dabei gefallen. Wie wäre es, wenn diese Menschen zu Helden erklärt würden?

Nein, das kommt nicht in Frage. Weder für Kiew noch für die Herausgeber der Zeit. Diese Menschen sind nur im russischen Verständnis Helden. Und das muss doch „entsorgt“ werden! Wie Unrat. Abfall. Müll. Die Nähe derartiger Formulierungen zur Nazi-Sprache kommt nicht von ungefähr. Welche „Früchte“ diese Handlungsanweisung bei dem Historiker Schulze Wessel trägt, wird an folgendem Zitat aus seinem Einleitungsartikel deutlich. Er schreibt:

„Gegenüber der nichtjüdischen Bevölkerung betrieben die Deutschen eine Politik, die auf Ausbeutung, Zwangsarbeit und Erniedrigung zielte.“

Die viel passenderen Wörter „Mord“, „Verbrechen“ oder „Genozid“ kommen hier gar nicht vor. Die Nazis hätten in der Sowjetukraine lediglich „Unrecht“ getan (s. Zitat unten) – also in etwa wie die SED-Funktionäre in der DDR, denn wir wissen, dass die DDR gern als „Unrechtsstaat“ bezeichnet wird. Die DDR hat aber keine Kriege geführt und auch keine Vernichtungspoltik betrieben.

Der indirekte Vergleich zweier unvergleichbarer Staaten aus dem Munde eines Historikers und Funktionärs mit Rang und Namen kommt einer massiven Verharmlosung der Nazi-Verbrechen gleich. Aber selbst das ist nicht das Interessanteste:

„Die Ukrainerinnen und Ukrainer erduldeten dieses Unrecht nicht nur und passten sich an, sie leisteten auch aktiven Widerstand gegen die deutsche Besatzung und gegen die Sowjetisierung nach 1945. Erst acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte der Kreml den Widerstand der ukrainischen Partisanen, der sogenannten Waldbrüder, brechen.“

Diese nebulös formulierten Sätze sind schwer an Geschichtsrevisionismus zu überbieten. Die echten Kämpfer gegen die deutsche Besatzung, die vom ersten Tag des Krieges an die Invasoren bekämpft haben – die Sowjet-Partisanen nämlich – werden nicht erwähnt. Offenbar meint Schulze Wessel mit „ukrainische Partisanen“ Mitglieder der erst 1942 gegründeteten Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) – die nicht etwa durch ihre nur wenigen Angriffe auf die Deutschen berühmt geworden sind, sondern vielmehr durch das Massaker an polnischen Zivilisten in Wolhynien im Sommer 1943 und ihren Terror gegen die Sowjetbevölkerung.

Laut offiziellen Zahlen wurden im Zeitraum vom 1945 bis 1953 mehr als 30.000 Sowjetbürger, hauptsächlich Bauern, örtliche Verwaltungskräfte und Lehrer, in der Westukraine von den „Banderisten“ (so wurden sie im Volksmund genannt) hinterhältig und teilweise mit bestialischer Brutalität ermordet. Viele Zeitzeugen gehen von einer viel höheren Zahl aus.

Das Trauma des Bandera-Terrors ist fest in das Geschichtsbewusstsein der Sowjet-Bevölkerung eingebrannt. Der ehemalige russische Kulturminister und Helfer des Russischen Präsidenten, Wladimir Medinski, erzählte in einem Interview, dass sein Großonkel, ein Lehrer für russische Sprache, von den Banderisten vor den Augen des ganzen Dörfes zerstückelt worden sei. Seine Überreste seien anschließend in Baumlöchern versteckt worden. Nach all dem Gräuel habe seine Frau den Verstand verloren. Die Tatsache, dass diese Mörder-Banden von den Westmächten – einschließlich Westdeutschlands – direkte Unterstützung erhielten, ist kaum bekannt. Überraschend erwähnt der Zeit-Autor Latzel diese Tatsachen dennoch:

„Nach 1945 schreckte Bandera nicht davor zurück, seinen Sicherheitsdienst mit dem Mord an politischen Gegnern zu beauftragen. Zeitweise schützten und finanzierten ihn britische und amerikanische Geheimdienste sowie der Bundesnachrichtendienst, da sie an Verbindungen zum Untergrund in der Sowjetunion interessiert waren.“

Man darf sich keine Illusionen machen. Spätestens seit den Anfängen der Schriftkultur stehen geschichtliche Narrative stets im Dienste der Politik. Die Weißwaschung des ukrainischen Nationalismus und die Abwendung von Russland in der heutigen Bundesrepublik ist ein sicheres Zeichen dafür, dass die deutsche Politik – wie ungern auch immer dies zugegeben wird – sich (geo)politisch zunehmend an den Zeiten des langen „Dranges nach Osten“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientiert.

Die Bildsprache des Zeit-Heftes hat dies besser als jeder kritische Journalist zum Ausdruck gebracht.

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